Zentralabitur ist "eine Art Realsatire"
Die unterschiedlichen Abituranforderungen in den Bundesländern sind vielen ein Ärgernis. Jetzt soll ein Zentralabitur in ausgewählten Fächern Abhilfe schaffen. Für Bildungsforscher Hans-Peter Klein eine "Realsatire", denn nur sehr wenige Aufgaben werden wirklich allen Schülern gestellt.
In der Diskussion um uneinheitliche Abiturstandards in den Bundesländern hat der Bildungsforscher Hans-Peter Klein, Professor für Didaktik der Biowissenschaften an der Universität Frankfurt, vor einer Abwärtsspirale im Aufgabenniveau und Noten-Dumping gewarnt.
Länder, die "noch etwas anspruchsvollere Abiturarbeiten" hätten, hätten damit zu kämpfen, dass ihre Schüler weniger zum Studium zugelassen würden, beklagte Klein im Deutschlandradio Kultur. Das führe zu einem Absenken der Anforderungen, nicht zuletzt auf Druck der Eltern. So würden zum Beispiel in Bayern im Bundesvergleich zwar noch "relativ anspruchsvolle Aufgaben gestellt", so der Bildungsforscher.
"Aber in Bayern selbst ist die Abwärtsspirale auch schon in Gang. Das heißt, wir haben Aufgaben von 2007 in Bayern, die sind deutlich schwieriger als die Aufgaben von 2015 oder 16."
Zentrale Prüfungsfragen machen maximal 20 Prozent der Abiturnote aus
Auch das ab 2017 geplante bundesweite Zentralabitur in Mathematik sowie eingeschränkt in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch wird die Situation nach Ansicht Kleins nicht verbessern – im Gegenteil.
"Das Zentralabitur heute ist von den rein fachlichen Anforderungen her deutlich nach unten abgesenkt worden im Gegensatz zu den Abituren, die die einzelnen Bundesländer vorher individuell in ihren Ländern gestellt haben", kritisiert er. Außerdem machten die zentral gestellten Aufgaben letztlich maximal 20 Prozent der Abiturnote aus, und das auch nur, wenn ein Schüler die betreffenden Fächer überhaupt als Prüfungsfächer wähle.
"Und das ist natürlich nicht im Sinne des Erfinders", so Klein, der auch Autor des Buches "Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen. Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel" ist.
Das Inteview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Ich formuliere das jetzt mal möglichst neutral, ohne die mit diesem Thema in der Regel verbundenen Scherzline: Die Anforderungen in den Abiturprüfungen sind in Deutschland in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich, und in einigen sind sie inzwischen so gering, dass Universitäten beklagen, viele Abiturienten, die mit teils gutem Notendurchschnitt bei ihnen ankämen, seien eigentlich gar nicht studierfähig.
Damit sich das ändert, gibt es ab 2017 in Deutschland ein Zentralabitur oder, naja, zumindest so etwas Ähnliches. Fast alle Bundesländer, auch nur fast alle allerdings, sollen am selben Tag in Mathematik die gleichen Aufgaben lösen lassen, und in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch soll ein fester Teil der Abituraufgaben aus einem Pool stammen, den das Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen bereitstellt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ob das nun der richtige Weg ist, das wollen wir von Professor Hans-Peter Klein wissen. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Biowissenschaften an der Universität Frankfurt am Main und unter anderem auch Mitbegründer und Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen. Schönen guten Morgen, Professor Klein!
Hans-Peter Klein: Ja, guten Morgen!
Kassel: Ist das jetzt, wenn auch ein etwas zaghafter Schritt in die richtige Richtung?
Klein: Nein, ich glaube, mal ganz einfach ausgedrückt, dass das, was da jetzt geplant ist, was der Öffentlichkeit auch derzeit völlig vorenthalten wird, so eine Art Realsatire ist. Man wollte 2012 unbedingt die Angriffe gegen das Zentralabitur, weil es immer einfacher wurde, damit kontern, dass man ein bundesweites Zentralabitur machen wollte, aber die einzelnen Bundesländer haben sich ja überhaupt nicht bereit erklärt, daran teilzunehmen.
Es hat ja im Vorfeld auch nur sechs Bundesländer gegeben, die an ähnlichen Zentralabituren teilgenommen haben, in denen aber jeweils, wie Sie eben in der Einleitung schon sagten, nur weil es eine Teilaufgabe einer Abituraufgabe gemeinsamer Inhalt war, und wenn man das mal ausrechnet, dann macht insgesamt das Zentralabitur nicht mehr als 20 Prozent der gesamten Abiturnote aus, und da ja nur die von Ihnen erwähnten drei Fächer wahrscheinlich drankommen – das weiß auch keiner so genau –, macht das, selbst wenn ein Schüler ein Fach aus diesem Bereich gewählt hat, noch mal einen Drittel davon aus.
Dann sind wir schon bei deutlich unter sieben Prozent, und wenn es dann noch eine Teilaufgabe ist, dann landen wir irgendwo bei einem gemeinsamen Zentralabitur, was bei zwei bis drei Prozent der gesamten Abiturnote ausmacht, und das ist natürlich nicht im Sinne des Erfinders.
"Große Bedenken gegen Zentralprüfungen"
Kassel: Nun könnten wahrscheinlich aber in einigen Bundesländern Schülerinnen und Schüler, die das Abitur erfolgreich abgelegt haben, diese Rechenaufgabe, die Sie uns gerade vorgemacht haben, schon gar nicht mehr lösen. Wäre denn ein echtes Zentralabitur, also in allen Fächern, komplett die gleichen Anforderungen in allen Bundesländern und in allen Schulen, wäre das die Lösung?
Klein: Es gibt natürlich große Bedenken gegen Zentralprüfungen überhaupt. Man kann es natürlich so machen, wie die Amerikaner, die vergeben ja den Highschool-Abschluss ohne Zentralprüfungen, machen dann aber für den Universitätszutritt zusätzlich SAT-Tests, und dann muss also praktisch dann nachweisen, oder die einzelnen Bundesstaaten müssen nachweisen, ob sie nun mal die Noten gedumpt haben vorher oder nicht, aber auch das ist nicht von großem Erfolg.
Man könnte es natürlich auch machen wie in Frankreich: Man schreibt ein Zentralabitur an einem Tag in allen … an mehreren Tagen, aber gleichzeitig in allen Fächern, und nur das Zentralabitur zählt, alles andere nicht. Oder man könnte es so machen, wie es vor der Einführung des Zentralabiturs in Deutschland gemacht wurde: Die Lehrer haben die Aufgaben selber gestellt und haben sie aber dann auch den entsprechenden Fachdezernenten in den Ministerien zur Vorlage geben müssen, und die haben kontrolliert, ob die Aufgaben in Ordnung waren.
Es ist ja jetzt trotz Einführung des Zentralabiturs, für jedermann ersichtlich, dass es zu einem Notendumping geführt hat. Das heißt, das Zentralabitur heute ist von den fachlichen Anforderungen her, von den rein fachlichen Anforderungen her, deutlich nach unten abgesenkt worden im Gegensatz zu den Abituren, die die einzelnen Bundesländer vorher individuell in ihren Ländern gestellt haben.
Abitur-Note oft alleinig ausschlaggebend bei Uni-Zulassung
Kassel: Wie gehen denn zum Beispiel Universitäten praktisch damit um? Ist es inzwischen so weit, wenn wir zum Beispiel über die Unterschiede im Abitur zwischen den Bundesländern reden, dass Unis überall in Deutschland sagen, na ja, wenn da jemand ankommt, der hat eine Durchschnittsnote von 2,4 und kommt aus Bayern, dann nehme ich den viel lieber als einen mit der gleichen Note aus Bremen?
Klein: Das hängt natürlich mit den deutschen Massenuniversitäten zusammen. An der Goethe-Universität Frankfurt haben wir vor drei, vier Jahren noch rund 30.000 Studierende gehabt, jetzt nähern wir uns den 50.000 bei ähnlichem Personalbestand. Das heißt, das Studentensekretariat ist überhaupt nicht in der Lage, irgendwelche zusätzlichen Leistungen abzuprüfen. Das heißt, wenn Sie sich heute deutschlandweit irgendwo bewerben mit Ihrem Abitur, dürfen Sie ausschließlich Ihre Durchschnittsnote eintragen.
Also, Sie schreiben auf einem Zettel 2,2, alle anderen Angaben sind nicht erlaubt, weil die nicht überprüft werden können, zumindest ist das bei uns so, und bei vielen anderen Universitäten auch, weil eben im Gegensatz zu Universitäten beispielsweise in den USA oder auch in Holland eine persönliche Vorstellung des Kandidaten, Motivationsschreiben et cetera gar nicht personalmäßig bearbeitet werden können, und insofern haben einige Länder, die noch etwas anspruchsvollere Abiturarbeiten haben als andere oder überhaupt einen anspruchsvolleren Fachunterricht haben als andere, natürlich da mit einem Negativum zu kämpfen, dass ihre Schüler weniger zugelassen werden, was dann wiederum ja die Abwärtsspirale natürlich in den Anforderungen nach unten bewegt, weil ja die entsprechenden Eltern dann Druck auf die Landesregierungen machen, hier entsprechend zu agieren.
Abwärtsspirale auch in Bayern schon "in Gang"
Kassel: Sie fürchten also, konkret gesagt, dass man zum Beispiel in Bayern sagt, ihr könnt das Abitur nicht immer so schwierig machen, wie es bisher war, weil dann die bayrischen Schüler viel schlechtere Chancen haben als die aus Bundesländern, wo man leichter Abitur machen kann.
Klein: Ja, wir haben ja die Zentralabiturarbeiten verschiedener Länder untersucht auf ihr fachliches Niveau. Schon alleine daran können Sie sehen, dass die einzelnen Bundesländer, obwohl alle Kultusminister angeschrieben wurden, nicht bereit waren, die Aufgaben zur Verfügung zu stellen, außer sieben Bundesländer, von denen haben wir die Aufgaben uns dann in Biologie und Mathematik angeschaut, und dort gibt es erhebliche Unterschiede.
Wenn man da zum Beispiel Bayern sich anschaut, dann hat Bayern noch relativ anspruchsvolle Abituraufgaben, aber in Bayern selbst ist die Abwärtsspirale auch schon in Gang. Das heißt, wir haben Aufgaben von 2007 in Bayern, die sind deutlich schwieriger als die Aufgaben von 2015 oder 16, und wenn man dann natürlich sich Länder anschaut wie Bremen, Hamburg, Berlin gehört eher auch dazu, dann sind natürlich da diese, gerade in Mathematik dann auch, die Aufgaben auf deutlich niedrigerem Niveau.
Kassel: Hans-Peter Klein, Professor für Didaktik der Biowissenschaften an der Universität Frankfurt am Main, und unter anderem – ich möchte das allein schon wegen des wunderbaren Titels einmal erwähnen – auch Autor des Buches "Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen: Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel". Herr Klein, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, auch wenn es mich nicht sehr optimistisch zurücklässt!
Klein: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.