Eine Bildungsgeschichte der 70er-Jahre

Was ist aus uns geworden?

30:35 Minuten
Schüler in jugendlichem Alter sitzen und stehen um Projekttische herum und basteln etwas.
Wenn man vor über 40 Jahren an einem Schulversuch der besonderen Art teilgenommen hat, prägt das bis heute. (Symbolfoto) © picture alliance / Klaus Rose
Von Knut Benzner |
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Sie duzten ihre Lehrerinnen und Lehrer, konnten ihr Abitur auch in Kochen oder Tischtennis machen. Von 1973 an lernten sie gemeinsam an der IGS Roderbruch in Hannover unter außergewöhnlichen Bedingungen. Was machen sie heute?
Wir durften rauchen in diesem riesigen gelben Schiff, wo und wann immer wir wollten: Manne und ich sind drei Jahre lang zusammen zur Schule gegangen, auf die IGS Roderbruch in Hannover. Von 1973 bis 1976. Wir haben zusammen Abitur gemacht, mit denen, die nach Manne folgen werden: Agnes, Sweety, Tiny, Wille.
Kurssystem, keine typischen Klassenräume, zum ersten Mal, dass es so etwas gab: Ein Schulversuch der besonderen Art, der uns alle bis heute beeindruckt, mitreist und prägt. Und nun, mehr als 45 Jahre später? Kurz vor oder bereits in Rente?
Was ist aus uns geworden, aus diesen Schülerinnen und Schülern der ersten Generation reformierte Oberstufe, die, wenn nicht nur Deutschland, dann doch die ganze Welt verändern wollte.

„Meine Träume habe ich mir erfüllt“

Manfred „Manne“ Kraski war gerade die Tage noch ein weiteres Mal umgezogen, von Jesteburg, Nordheide, nach Tangstedt, südliches Schleswig-Holstein, zu seiner Freundin, in ein Haus am Waldrand.
Manne ist Musiker, Gitarrist, seit Langem als Produzent mit eigenem Studio, und hat bei einigen bekannten hannöverschen Bands gespielt, bei Fargo, den Schädel Brothers, den Hungry Hearts, der Reiner Schöne Band.

"Ich möchte mich über mein Leben nicht beschweren, auch wenn ich es halt finanziell nicht so weit gebracht habe, ich habe eigentlich das gemacht, was ich wollte, ich habe Musik gemacht. So. Und das mache ich auch heute noch. Meine Träume habe ich mir erfüllt, ich bin eigentlich noch relativ gut in Form: Wenn ich bedenke, dass aus meiner Vier-Mann-WG von drei Mitschülern und einem Lehrer ich der letzte Überlebende bin."

Manfred Kraski posiert für ein Porträtfoto.
© Deutschlandradio / Knut Benzner

Der Kunstlehrer von damals

"Ich bin Johannes Borchardt, ich habe 36 Jahre an einer einzigen Schule gearbeitet, der IGS Roderbruch in Hannover und bin jetzt seit 11 Jahren im Ruhestand." Johannes war Kunstlehrer, ausschließlich Kunstlehrer.
Er hatte diese Schule mitgegründet und mitgeplant, war verantwortlich für den Fachbereich Kunst, war Funktionsträger, solange das Kultusministerium Niedersachsens Geld für ihn als Funktionsträger hatte, und ist inzwischen 75.

"Ich erinnere mich an dieses Projekt sehr, sehr gerne. Es hat nicht lange gehalten: Die Stundentafel ist dann nach und nach doch wieder so verändert worden, dass es dann wieder Hauptfächer und Nebenfächer gab. Was der Projektgedanke natürlich auch beinhaltete, war: Auf jeden Fall nicht nur den Kopf und den Mund und den Stift zu bewegen, sondern unbedingt auch Werkzeug in die Hand zu nehmen. So haben wir 1974 das Bauleitungsbüro unserer Schule bekommen, auf einen Lkw getan und nach Bissendorf-Witze auf ein Grundstück gebracht und wir haben es in völliger Naivität des Baurechts als Schwarzbau errichtet.“

Ohne Familie – aus Überzeugung

Agnes Bartholomäus, 65, seit einem Jahr Rentnerin, war immer alleine, ohne Familie, ohne Mann. Sie war nie verheiratet und hat keine Kinder.
Sie studierte Landschaftsplanung, war selbstständig, ging dann im Rahmen der Entwicklungshilfe ins Ausland – Brasilien, Afghanistan – und wohnt nach wie vor in Hannover.

"2007, da bin ich nach sieben Jahren Ausland nach Deutschland zurückgekommen und hatte so merkwürdige Erlebnisse: Ich kam in die Post rein und dann wurde mir dort Strom angeboten. Ich habe gesagt: Ich will hier Briefmarken kaufen, warum bieten Sie mir Strom an? Ja, weil wir das jetzt alles haben. Warum sage ich das?
Dieser Ausverkauf des Tafelsilbers der bundeseigenen Unternehmen, die Deutsche Bahn, die Post, das hat uns auch in so eine liberale Wirtschaftspolitik hineingebracht, die unser Land nach wie vor sehr prägt. Das führt dazu, dass gerade die ärmeren Bevölkerungsschichten immer weniger im Fokus stehen, die rutschen immer mehr an den Rand, und das beunruhigt mich sehr."

Agnes Bartholomäus posiert mit Säge für ein Foto.
© Deutschlandradio / Knut Benzner

Ein Weltverbesserer

"Michael Schwarzkopf, Baujahr 1956, wohne in Berlin und öfter mal auf Sylt." Michael „Sweety“ Schwarzkopf arbeitet für ein Bundesunternehmen, die GIZ, nicht etwa die GEZ, sondern die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. Er hat noch ein halbes Jahr bis zum Ruhestand.

"Naja, naiverweise dachte ich, es gibt eine Tendenz der Gesellschaft zum Besseren. Wenn bei uns, ich weiß nicht, nach wie vielen Jahrzehnten, die SPD an die Regierung kam, und in Portugal nicht zu vergessen, die Nelkenrevolution, mit Grandola Vila Morena: Das waren ja durchaus romantische Revolutionsvisionen. Ich dachte, dann geht das so weiter. Im Prinzip hatte ich das Gefühl, die Welt verändert sich zum Besseren und dann möchte ich da mitmachen."

Michael Schwarzkopf posiert für ein Porträtfoto.
© Deutschlandradio / Knut Benzner

In der „seelischen Heimat“ angekommen

"Ich wohne jetzt in Pill, das ist 25 Kilometer von Innsbruck entfernt, auf 1200 Metern Höhe, und bin frühpensioniert, hatte einen Herzinfarkt, Depressionen, dann durfte ich früher aufhören", erzählt Daniel „Tiny“ Simons.
Er war Schüler an der IGS und ab 2001 über allerlei Umwege dort fast 19 Jahre lang Kunstlehrer. Das Haus in Österreich hatten seine Großeltern 1962 bauen lassen, ein einfaches Holzhäuschen.

"Ja, wir sehen 25 Kilometer bis Innsbruck und dann noch mal 25 Kilometer weiter hinten auf die Stubaier Gletscher. Ich bin hierhergezogen, weil das meine seelische Heimat ist. In einer gewissen Weise kann ich mich hier selbst verwirklichen. Der Begriff ist vielleicht ein bisschen abgedroschen, aber das Problem von Entfremdung und Selbstverwirklichung ist eines, was mich beschäftigt. Ich bin Kunstlehrer geworden, Performance-Künstler geblieben: das Leben als Kunstwerk, immer wieder als Gelegenheit, die Verbindung zu suchen, kreatives, ästhetisches Gestalten des Alltags zu praktizieren."

Daniel Simons posiert für ein Porträtfoto.
© Deutschlandradio / Knut Benzner

Ex-Revolutionär ohne Illusionen

Wilfried „Wille“ Reuper, 64, sitzt in der Eifel, im Haus seiner Schwiegermutter. Eigentlich wohnt er in Köln, hat zwei erwachsene Kinder, seine Frau ist Psychotherapeutin. Wille ist seit 30 Jahren bei einer Agentur, die Druckprodukte herstellt.
Er ging nach der 12. Klasse mit dem Fachabitur ab, war beim Kommunistischen Bund Westdeutschland, KBW, einer von einigen, teils maoistischen K-Gruppen.

"Was bleibt da über? Von dem politischen Anspruch bei mir nicht viel. Also der Glaube, dass es so einfache und klare Lösungen gibt – Sozialismus, juchhei! – der ist bei mir zumindest völlig weg.“

Ton: Hermann Leppich
Regie: Giuseppe Maio
Redaktion: Martin Hartwig

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