Bildungsoffensive für Migrantinnen

Ein Coach für geflüchtete Mädchen

29:40 Minuten
Eine Frau öffnet ein Buch mit leuchtendem Licht.
Bildung ist der Schlüssel für die jungen Frauen. © imago/ Alice Mollon
Von Anke Petermann |
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Maryan aus Somalia und Aishe aus Afghanistan haben seit April dieses Jahres eine Mentorin an ihrer Seite. Sie hilft den Mädchen, im deutschen Bildungssystem ihren Weg zu finden. Neun Monate später haben sich die beiden ziemlich verändert.
In der Woche vor Weihnachten überreicht May-Britt Kallenrode, Präsidentin der Uni Koblenz-Landau, feierlich die Urkunden. Auch Konrad Wolf, Hochschulminister von Rheinland-Pfalz, gratuliert.
Women-Welcome-Zertifikate
Bildungsoffensive für Migrantinnen© Deutschlandradio/ Stephanie Justrie
15 Mädchen und Frauen zwischen 14 und 40 Jahren, manche in eleganten Röcken und Kleidern, andere leger in Jeans, stellen sich fürs Foto vorn im kleinen Saal auf, in der Mitte die Uni-Präsidentin und der Minister. Stolz lächeln sie die Fotografen an, darunter Eltern, Ehemänner, Betreuerinnen und Freundinnen.

"Wir haben uns selbst kennengelernt"

Maryans Seidenkopftuch sticht blütenweiß heraus. Geflohen oder eingewandert sind die Absolventinnen vor wenigen Jahren aus Afrika, Asien, Südamerika und Osteuropa. Vom "Women-Welcome"-Projekt der Uni Koblenz-Landau hatten sie im Internet oder von ihren Lehrern erfahren, sich beworben und einen der begehrten Plätze ergattert. Und nun die neun Monate Coaching erfolgreich absolviert. Bevor sie das feiern, wagen nur wenige, dem Minister selbst zu schildern, was das Projekt ihnen gebracht hat. Die 16-jährige Aishe aus Afghanistan ist mit ihrer Mutter und der jüngeren Schwester da - und mutig:
"Wir haben uns selbst kennengelernt, und jetzt wissen wir, in welche Richtung wir gehen können und was für Möglichkeiten wir haben, also danke schön. Wir hatten sehr viel Spaß. Wir durften jederzeit Fragen stellen. Also, es war super!"
Aishes Mutter kann ihren Stolz kaum ausdrücken, sie spricht gebrochen Deutsch. Erst vor vier Jahren kam die Familie nach Rheinland-Pfalz. Maryan ist ohne Eltern da. Als 16-Jährige floh sie 2017 ganz allein aus Somalia. Dort konnte sie nur vier Jahre die Schule besuchen, erzählt Anja Keffer. Die Sozialarbeiterin hat Maryan zur Abschlussfeier begleitet. Sie betreut die junge Afrikanerin in einer Jugend-Wohngemeinschaft. Maryan lebt dort zusammen mit einem deutschen Mädchen. Keffer bewundert den Willen und den Lerneifer der jungen Muslimin. Aber beim Coaching-Projekt kam es Maryan auf etwas anderes als Inhalte und Wissenserwerb an, beobachtet die Betreuerin:
"Eine Gemeinschaft von Frauen zu erleben, die in ähnlichen oder vergleichbaren Situationen sind wie sie auch: so ein bisschen auf der Suche nach einer neuen Heimat, nach einer neuen Idee für sich und das Leben. Ja, und die Freude darüber, eine Gemeinschaft zu haben, in der man Spaß haben kann. Und all das, was man neu lernt, gleich mal anwenden, ausprobieren. Maryan hatte einen schweren Schicksalsschlag zu verkraften, und da war die Mentorin zur Stelle und hat ihr da wirklich auch gut zur Seite gestanden. Das hat ihr in einer schwierigen Zeit sehr gut geholfen. Das fand ich sehr schön."

Alles beginnt im April 2019

April 2019, Projektbeginn mit einer "Women Welcome Week", einer Aktionswoche mit Besuch der Unibibliothek und der Industrie- und Handelskammer Koblenz. Außerdem: arbeiten am eigenen Profil. In einem nüchternen Seminarraum teilt Mariam Sultani gemeinsam mit weiteren studentischen Hilfskräften riesige Bögen aus weißem Karton an die Teilnehmerinnen aus.
"Das Thema ist: 'Wer bin ich, wo will ich hin?'"
In großen blauen Filzstiftlettern hat die Projekt-Mitarbeiterin das Thema vorn auf eine weiße Tafel geschrieben. Die Psychologiestudentin mit dunkler Brille hat selbst afghanische Wurzeln. Aber Sultani ist in Deutschland geboren. Jetzt hilft die 24-Jährige jungen Migrantinnen, die eigenen Vorlieben und Stärken zu entdecken. Und diese im Verlauf monatlicher Treffen in Bildungs- und Berufsziele umzusetzen. Die Mentorin hält ein Bündel Filzstifte hoch und verteilt sie.
Ayshe mit Mentorin Mariam Sultani bei einem gemeinsamen Picknick.
Ayshe mit Mentorin Mariam Sultani© Deutschlandradio/ Anke Peterman
Aishe aus Afghanistan und Maryan aus Somalia beugen sich über die weißen Profil-Bögen, schreiben ihre Namen oben drüber. Ihr Profil werden sie bis zum Ende des Projekts immer wieder aktualisieren.
"Da stehen ganz viele Eigenschaften drauf, und ihr könnt gucken, ankreuzen, anstreichen, was zu euch passt."
Eine lange Liste schwieriger Vokabeln für neu Zugewanderte: "Ergebnisorientiert, systematisch, unvoreingenommen" steht da unter anderem. Die 16-jährige Aishe kam vor vier Jahren mit ihren Eltern aus Afghanistan. Die Realschülerin mit den nach hinten gebundenen langen Haaren sieht sich selbst als gesprächig. Sie diskutiert gerne.
Aishes Augen blitzen, die Lust an der Kontroverse nimmt man ihr ab. Wie sie ihr kommunikatives Talent nutzen kann – da muss die junge Afghanin nicht lange überlegen: Verkaufen ist ihr Ding, hat sie beim Praktikum in einer Parfümerie entdeckt.
"Das hat Spaß gemacht, viele Kunden, so Leute beraten, das hat mega Spaß gemacht. Und wir haben immer neue Produkte bekommen, das war schön!"
Doch auf ihrem Profilbogen hat sich das Mädchen mit dem dunklen Zopf gemalt als Autoverkäuferin "Weil ich Autos liebe, ich liebe BMW oder Lamborghini, aber Porsche ist mein Lieblingsauto!"
Ob ein Job im Autohaus wirklich das Richtige für sie ist und wie sie ihr Ziel erreicht, will Aishe mit Unterstützung des Coaching-Projekts herausfinden.

Maryan will Krankenschwester werden

Maryan kam mit 16 Jahren allein nach Deutschland. Zu den Eltern in Somalia hat sie nur ab und zu Telefonkontakt. Dass sie an einem Coaching für junge Frauen teilnimmt, wissen sie nicht. Über die Umstände ihrer Flucht aus Afrika schweigt die 18-Jährige. Sie trägt ein Kopftuch mit Silberfäden zur kurzen Jeansjacke. Vorbehalte gegen die Kopfbedeckung hat sie bislang nicht zu spüren bekommen. Ihre Probleme sind andere:
"Ja, also, ich wollte eigentlich Abitur machen. Aber das geht nicht, weil die deutsche Sprache ein bisschen schwierig ist. Deswegen überlege ich, ob ich Abitur mache oder eine Ausbildung einfacher ist."
Erst mal will Maryan den Realschulabschluss machen, dann entscheiden, ob Abitur oder Ausbildung.
"Mein Berufsziel ist Krankenschwester. Es macht mir Spaß, ich kann vielen Leuten helfen."
Das glaubt die junge Somalierin. In ihrer betreuten Jugend-WG fühlt sie sich gut unterstützt. Dran bleiben am Traumziel, rät ihr Ruth Sandforth, Projektleiterin von der Forschungsstelle Wissenstransfer der Uni Koblenz-Landau.
"Wenn deine Noten gut sind und du einen guten Realschulabschluss machst, mach auf jeden Fall Abitur. Und es ist überhaupt nicht schlimm, wenn du ein oder zwei Jahre länger brauchst. Also, die Unterstützung bekommst du ja hier."
Maryan lacht, die weißen Zähne blitzen.

Eltern kennen die Bildungschancen nicht

Die eine Autoverkäuferin, die andere Krankenschwester – Aishe und Maryan fassen zunächst Ausbildungsberufe ins Auge. Eine akademische Laufbahn tun junge Migrantinnen oft als Träumerei ab – von den Eltern darin bestärkt, beobachtet Ruth Sandforth. In dem neunmonatigen Coaching geht es der Projektchefin nicht darum, sie zum Studium zu überreden. Aber die Kulturwissenschaftlerin findet, dass man auch die Familie ins Kalkül ziehen muss.
"Die Herkunftsfamilien können die Bildungsmöglichkeiten und -chancen in Deutschland nicht überschauen. Wie auch, wenn die Eltern nicht aus diesem Land kommen und selbst nicht hier zur Schule gegangen sind oder hier eine Ausbildung gemacht und studiert haben. Dann ist es sicherlich so, dass es auch noch gesellschaftliche und möglicherweise schulische Ressentiments gibt gegen Schülerinnen, die erst seit kurzem in Deutschland leben, noch nicht perfekt Deutsch sprechen. Aber da wir Schülerinnen ab 14 Jahren betreuen, haben wir eine große Zeitspanne, in der wir mit diesen Schülerinnen arbeiten können. Und natürlich versuchen wir, jede im Bildungssystem so weit wie möglich zu bringen."
Beneich und Sultani beim Picknick.
Beneich und Sultani beim Picknick.© Deutschlandradio/ Anke Petermann
Die Mädchen ermutigen, ihre Stärken wertzuschätzen und ihre Ziele zu realisieren – genau das ist "Women Welcome". Das Projekt startete 2017 als Willkommenswoche. Das intensive Langzeit-Coaching kam erst mit der dritten Auflage 2019 dazu.

Picknick mit Essen aus der Heimat

Es ist Sommer. Vier Monate sind vergangen seit der Aktionswoche im April. Alle freuen sich über das Wiedersehen. Die Pädagogik-Studentin Eda Akbulut begrüßt Maryan, die sie als Mentorin betreut.
Das Picknick im August: ein kleines informelles Halbzeit-Fest. Ruth Sandforth, die Leiterin des Coaching-Projekts für junge Migrantinnen, hat Orangensaft im Tetra-Pack mitgebracht. Mal ein anderer Rahmen, das findet sie gut:
"Das hat viel eher den Charakter eines privaten Zusammentreffens oder eines freundschaftlichen. Und natürlich gibt man sich da auch mal ein bisschen anders. Und ist vielleicht lockerer und kann den Tag, den man bis dahin schon hinter sich gebracht hat, ein bisschen abschütteln."
Weil Regenwolken aufgezogen sind, wollen die Frauen auf dem Uni-Campus bleiben. Picknick-Plätze gibt es da auch. Sie packen Taschen und Körbe aus, decken einen Tisch aus Metallgeflecht vor der Uni-Bibliothek mit Papptellern und Bechern. Dazu bunte Salate in Plastik-Schüsseln und Blätterteig-Gebäck. Alles selbstgemacht. Maryan deutet auf ihre somalischen Teigtaschen, die sie zuhause in der WG gemacht hat: "Ich habe Essen aus meinem Heimatland hierher gebracht, das heißt Sambusa. Und das hat Fleisch und Zwiebeln drin."
Die Schülerinnen haben Sommerferien, die Stimmung ist gelöst. Bei Saft und Salaten wird gelacht und geschwatzt. Projektleiterin Ruth Sandforth resümiert die Erfolge der Teilnehmerinnen.
"Einige haben bereits ihre B2-Deutschkurse abgeschlossen mit sehr guten Punkten, das ist gehobenes Sprachniveau. Und die Schülerinnen haben gute Zeugnisse bekommen."
Für die 18-jährige Maryan rückt der Realschulabschluss in greifbare Nähe. Rückenwind für Mentorin Eda Akbulut. Nach Ferienende will die 34-Jährige mit Maryan und deren zwei syrischen Freundinnen regelmäßig schulische Lektüre besprechen.

Praktikum in den Sommerferien

Für Aishe aus Afghanistan fallen die Sommerferien aus. Die Idee, Autoverkäuferin zu werden, hat sie aufgegeben. Die 16-Jährige hat die Mittlere Reife geschafft und wechselt in die 11. Klasse einer Fachoberschule. An drei Wochentagen arbeitet die junge Afghanin zusätzlich als Jahrespraktikantin in einer Unternehmensberatung. Damit hat sie schon angefangen. Am Picknicktisch sitzt Aishe Mariam Sultani gegenüber. Die beglückwünscht sie zum Job.
"Im Praktikum lernst du halt alles. Was darfst du bisher machen?" - "Buchführung. Und ich musste ans Telefon gehen." - "Echt! Wie war das?"
Aishe kichert verlegen. "Ich war so aufgeregt, ich hab so viele Fehler gemacht, ich hatte solche Angst, dass der Chef mich jetzt anschreit oder so."

Ihr Chef schrie aber nicht. "Der ist sehr nett. Das ist das Gute daran, dass er nett ist. Und der kümmert sich. Und ich freu mich darüber."
Aishes Mentorin ist erleichtert. Sultani hatte sich gesorgt, dass der Unternehmensberater nicht ausreichend über die besondere Lage seiner neuen Praktikantin informiert sein könnte.
"Wenn sie Schwierigkeiten am Telefon hat, ist das ja eigentlich schon von Vorteil zu wissen, dass sie erst seit 4, 5 Jahren hier ist. Und dafür ist das ja schon eine Glanzleistung, dass sie ans Telefon gehen kann. Aber sie sagt, im Lebenslauf steht das alles, und deswegen hat er das schon im Hinterkopf." Dann, so glaubt Sultani, kann Aishe an der Herausforderung wachsen.
Bis Jahresende stehen noch Coaching-Einheiten an, das gibt Projektleiterin Sandforth beim Picknick bekannt: "Wir haben auf jeden Fall noch ein Bewerbertraining vor uns. Das haben sich die älteren Teilnehmerinnen gewünscht. Und ich glaube, dass das auch für die Schülerinnen gut ist, weil wir auch noch mal üben werden, wie man etwas selbstbewusster auftritt, wichtige Dokumente zusammenhält – solche Sachen."

Aishe muss sich beweisen

Drei Monate später. Das Bewerbungstraining findet an einem grauen, nebligen Novembersamstag statt. Um zehn Uhr früh ist Maria Andreacchi, Dozentin von der Rhein-Mosel-Akademie, die erste im kleinen Seminarraum auf dem Koblenzer Uni-Campus. Sie will die Teilnehmerinnen praktisch und psychologisch aufs erste Vorstellungsgespräch vorbereiten.
Die Trainerin begrüßt die Neuankömmlinge, fragt jede, ob es okay ist zu duzen. Nicht alle Teilnehmerinnen sind gekommen an diesem Samstag kurz vor Ende des Schulhalbjahres. Manche mussten in den letzten Monaten mit ihren Eltern wegziehen und sind aus dem Projekt ausgeschieden. Zehn junge Frauen sitzen an Tischen im Karree. Andreacchi blickt in die Runde:
"Oft neigen Frauen und Mädchen dazu, das Licht unter den Scheffel zu stellen. Ja, ihr nickt. Ich habe mir heute als Aufgabe vorgenommen, dass wir zusammen gucken, dass ihr das Licht ein bisschen heller macht. Denn ihr strahlt alle, und das wollen wir auch zum Ausdruck bringen, im Vorstellungsgespräch, dass wir das darstellen, was wir können und was uns ausmacht."
Aishe stimmt zu. Sich zu beweisen, das ist ihr Thema. In ihrer neuen Fachoberschulklasse ist sie die einzige Migrantin. Mitschüler und Lehrer tun sich schwer nachzuvollziehen, was die junge Afghanin in vier Jahren in einem komplett fremden Land geleistet hat, um so weit zu kommen. Das vertraut Aishe am Rande des Seminars Ruth Sandforth an, der Projektleiterin. Und auch, dass sie oft viel heiterer und fröhlicher wirkt, als ihr zumute ist. Ohne perfektes Deutsch durch die Oberstufe zu kommen, parallel Englisch aufholen zu müssen – es ist alles schwierig. Vor allem, wenn der Klasse und den Kursleitern die Empathie fehlt. Obwohl sie noch anderthalb Jahre Zeit bis zum Fachabitur hat, macht sich Aishe über den Bewerbungsprozess viele Gedanken. Noch bevor das Seminar richtig losgeht, verrät sie der Trainerin, worauf es ihr ankommt:
"Dass man überhaupt eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bekommt. Für mich ist wichtig, gut angezogen zu sein, also jetzt nicht voll übertrieben, sondern einfach ordentlich und sauber. Und ich würde halt auch nicht zeigen, dass ich voll nervös bin. Ich würde mich halt sehr gut über diese Firma informieren, falls sie mich etwas fragen. Und ich mache auch, glaube ich, in diesem Betrieb ein Praktikum, und dann sage ich: Ja, ich habe bei Ihnen Praktikum gemacht, das hat mir gut gefallen."
Maria Andreacchi hat schweigend zugehört. Als sie das Seminar eröffnet, kommt sie auf Ayshes Beitrag zurück. "Hast du Lust, meine Co-Trainerin zu werden heute? Du hast schon so wichtige Dinge gesagt, super."
Aishe überlegt nicht lange, nun ist sie Co-Trainiern und muss sich natürlich vorstellen. Sie streicht die langen offenen Haare zurück, holt tief Luft.
"Hi, ich bin die Co-Trainerin von...?" - "Maria." - "Und ich freue mich, da zu sein." -
"Genau, und jetzt kannst du noch sagen: Ich freue mich, dass ihr hier seid."
Aishe muss lachen und reagiert damit auf das ironische Schmunzeln ihrer syrischen Freundin Gazalla. Das Eis ist gebrochen, Maria Andreacchi ist den Mädchen näher gekommen. Und mitten im Seminar-Thema gelandet:
"Das ist ganz wichtig – Gestik und Mimik", erklärt sie. "Das ist auch im Vorstellungsgespräch sehr wichtig. Es gibt einen Satz, der heißt: Man kann nicht nicht kommunizieren." - "Das ist von Paul Watzlawick." - "Genau. Wenn ihr Paul Watzlawick kennt – das ist ja super. Wir steigen mal direkt mit einer kurzen Vorstellungsrunde ein. Dass ihr sagt, wer ihr seid. Und ob’s schon eine Bewerbung gibt oder einen Berufswunsch."
Eda Akbulut meldet sich. Sie möchte anfangen. Die Mittdreißigerin trägt einen langen dunklen Rock und ein cremefarbenes Kopftuch. Die Muslimin ist Mentorin im Koblenzer "Women Welcome"-Projekt, kann aber selbst gut eine Beratung gebrauchen. Die 34-Jährige hat ein Lehramtsstudium abgebrochen, zwei Töchter bekommen und danach mit Pädagogik angefangen: "Ich finde Pädagogik richtig toll. Es ist das, was ich machen möchte. Ich möchte gern mit Kindern arbeiten."

Behörden bremsen - und die eigenen Eltern

Doch das Scheitern im Erststudium hängt der deutsch-türkischen Mentorin nach. Dabei kann sie den Ausstieg aus dem Lehramt plausibel begründen: Das Arbeiten mit großen Gruppen und das Benoten liegen ihr nicht. Maria Andreacchi ermutigt sie zu einer anderen Sichtweise: "Vielleicht sind es auch keine Fehlentscheidungen, sondern Ausprobieren. Zu sagen, ich hab was ausprobiert, mir liegt was anderes noch mehr, weil sich’s entwickelt hat."
Einer drohenden Überforderung zuvorzukommen – das ist kein Scheitern, sondern mutig. Akbulut lächelt nachdenklich. Es so zu sehen, erscheint ihr eine gute Idee. Maria Andreacchi schaut auffordernd in die Runde. Maryan meldet sich zu Wort: "Also, ich würde auch sagen, sie ist richtig stark." "Sag’s ihr, sag’s ihr direkt," ermuntert die Trainerin.
Maryan wendet sich ihrer Mentorin zu, die ganz hinten sitzt: "Ich würde sagen, dass du richtig stark bist, denn du hast Kinder und studierst auch. Und trotzdem versuchst du, uns zu unterstützen. Und du hast uns sehr geholfen. Du hast uns Bücher gesucht in der Stadtbibliothek, die uns sehr helfen. Und jetzt läuft die Schule sehr gut."
Trainerin und Projektleiterin schauen sich an. "Okay, dann machen wir eine kurze Pause."
Wie gut es bei Maryan in der Schule läuft, hat Ruth Sandforth soeben erst erfahren.
"Als wir uns kennengelernt haben, hat Maryan gesagt, dass noch gar nicht klar sei, ob sie den Realschulabschluss schaffen würde, und hat mit verschiedenen Optionen als Alternativen gespielt. Und jetzt ist klar, dass sie diesen Abschluss bekommt. Das ist doch großartig!"
Maryans Erfolg – ein Erfolg des "Women Welcome"-Projekts? Ruth Sandforth zuckt die Achseln:
"Vielleicht ein bisschen, das kann man ja nicht so bemessen. Aber die Freude ist auf jeden Fall geteilte Projekt-Freude."
Dennoch – die Projektleiterin sieht auch, was "Women Welcome" nicht leisten kann: "Zum Beispiel das Verhalten von Ämtern, Behörden, manchmal auch von Lehrern oder Schulen, das hat mir manchmal einen Dämpfer versetzt. Was ich auch lernen musste, ist, dass sich die Entscheidungen der Eltern unmittelbar auf Kinder auswirken, ohne dass wir darauf Einfluss nehmen können. Im Lauf des Projekts habe ich Teilnehmerinnen 'verloren', weil die Eltern weitergezogen sind in Europa oder in das Heimatland zurückgegangen sind. Ein Mädchen wurde in den Ferien verheiratet und ist nicht mehr bei uns. Da habe ich zumindest meine Grenzen gelernt."

Im Kurs üben die Mädchen Vorstellungsgespräche

Maryan verschiebt gerade ihre Grenzen. Die junge afrikanische Muslimin, die konsequent Kopftuch trägt, wundert sich selbst darüber, wie offen sie in ihrem neuen Heimatland auf Menschen zugeht. Und wie positiv diese auf sie reagieren. Das erwähnt sie nach der Pause im Seminargespräch mit Maria Andreacchi.
"Ich spreche manchmal ältere Leute an der Bushaltestelle an. Die lächeln mich an und sagen 'hallo' und die sprechen direkt zu mir."
Die Trainerin ordnet ein: "Die sprechen direkt zu dir – weißt du warum, was du kannst? Du kannst einem direkt in die Augen gucken. Du hast mich vorhin auch direkt angeguckt. Und Angucken erzeugt Vertrauen. Also auch beim Vorstellungsgespräch ist es wichtig, dass ihr den Personen in die Augen guckt. Das zeigt, dass ihr vertrauenswürdig seid. Du gehst auf Menschen zu."
Diese Gabe will Maryan nutzen. Nicht als Krankenpflegerin, wie anfangs geplant. Das Praktikum bei einem Arzt hat die Wende gebracht. Die Arbeit dort gefiel ihr. Bei drei Ärzten hat sich die 18-Jährige jetzt um einen Ausbildungsplatz als medizinische Fachangestellte beworben. Seminarleiterin Andreacchi bindet die Erfahrung der Somalierin ein.
"Die Unterlagen – wie hast du dich beworben? Bist du hingegangen?"
"Nein, ich hab sie nur geschickt."
"Was hast du alles geschickt?"
"Meine Bewerbung, dass ich Praktikum gemacht hatte, und meinen Lebenslauf."
"Wo hast du den geschrieben, hier im Kurs?"
"Nein, meine Betreuerinnen haben mir geholfen, zuhause."
Zuhause, in der betreuten Jugend-WG. Das Vorstellungsgespräch kann Maryan jetzt direkt im Kurs üben. Doch erstmal wird Aishe wird vor die Tür geschickt. Die Vorstellungsszene soll mit dem Anklopfen draußen anfangen.

Bei der Frage nach ihren Schwächen kommt der Patzer

Aishe tritt ein, beginnt formvollendet.
"Also erst mal danke schön für die Einladung, ich habe mich sehr gefreut. Mein Name ist Aishe Akbari, ich bin 17 Jahre alt und habe mein Abitur gemacht an der Ludwig-Erhard-Schule in Koblenz."
Erfunden, aber plausibel. Aishe kichert. Die fiktive Chefin bohrt.
"Wie stellen Sie sich denn den Beruf der Kauffrau für Büromanagement vor?"
"Ja, als Kauffrau Büromanagement hat man Verantwortung, man muss gut organisieren können, Rechnungen schreiben, also eine große Verantwortung."
"Was für uns ganz wichtig ist, ist Teamarbeit – haben Sie Erfahrungen mit Teamarbeit?"
"Ja klar, ich arbeite in der Bücherei in einem kleinen Team."
"Und das machen Sie ehrenamtlich? Das ist toll, das ist ja ein hohes Engagement."
Die Sache scheint gut auszugehen für Aishe. Doch die Chefin hakt nach.
"Jetzt haben wir so viel Positives gehört - haben Sie denn auch Schwächen?"
"Ja, aber es fällt mir gerade keine ein."
Patzer. Aishe verliert jede Vorsicht im Bewerbungsgespräch mit der fiktiven Arbeitgeberin Maria Andreacchi.
"Haben Sie noch Fragen an uns?" - "Ja! Wie viel Geld bekomme ich?"

Fragen nach Flucht und Kopftuch

Die Anspannung eines konzentrierten Frage-Antwort-Spiels von fast zwanzig Minuten entlädt sich im Gelächter. Ein Beispieldialog, der die Gruppe anregt zu überlegen, wie sich Schwächen vorteilhaft darstellen lassen. Was eine Bewerberin selbst nicht fragen sollte. Wie die Migrantinnen mit Fragen nach dem Kopftuch umgehen – und nach den Umständen ihrer Einwanderung. Einige erzählen der Trainerin von Gesprächen, die sie selbst als Verhöre über Fluchtgründe empfanden. Maria Andreacchi rät, auch bei gefühlter Indiskretion nicht in die Abwehr zu gehen:
"Wenn die Menschen euch was fragen, machen Sie das nicht, weil sie böse sind, sondern weil sie anders aufgewachsen sind. Sie haben eine andere Erfahrung. Und deswegen fragen sie euch das. Und deswegen ist es gut, wenn man denen ein bisschen die Ängste nimmt und sagt, 'ich verstehe Ihre Nachfrage. Ich kann Ihnen aber versichern, meine Leistung wird die sein, die Sie von mir erwarten'. Das wäre meine Idee jetzt. Kannst du was damit anfangen?"
Aishe nickt: "Ja. Das war echt eine tolle Antwort."
Aishe aus Afghanistan trägt kein Kopftuch, aber bohrende Fragen nach der Flucht kennt die Schülerin auch. Sie war 12, als sie mit ihren Eltern nach Deutschland kam, sie kann und will solche Fragen nicht beantworten. Die Elftklässlerin ist froh, eine Strategie kennengelernt zu haben, solche Interviews freundlich, aber entschieden in Richtung Leistung und Qualifikation umzulenken.
Maria Andreacchi lehnt sich zurück, lächelt in die Runde. Eine gute Stunde hat sie überzogen. Weil ihre Zuhörerinnen immer neue Fragen hatten, weil jede im Rollenspiel mal Chefin und Bewerberin sein wollte. Für die pädagogische Mitarbeiterin der Rhein-Mosel-Akademie das erste Training mit jungen Frauen, die seit kurzem in Deutschland leben.
"Ich bin überrascht, wie engagiert die schon sind und wie präsent die das schon haben, so ein Vorstellungsgespräch. Wie zielorientiert die auch sind, das hat mich begeistert. Kann man sich nur wünschen, so zielstrebige, motivierte Frauen und Mädchen, das ist toll."
"Was ist dein Ziel?", fragt Andreacchi jede zum Abschied. Aishe antwortet nicht so spontan wie sonst. Die Fachoberschülerin runzelt die Stirn, sie scheint zu zweifeln, ob die Lehrer ihr den nötigen Rückhalt für die Zwölfte und das Fachabitur geben. Dann bekennt sie sich trotz allem zögernd zu ihrem Traum: "Entweder mache ich ein Studium oder ein duales Studium im Bereich Wirtschaft. VWL oder BWL."
"Ja, mach das, auf jeden Fall, ich würde mich freuen, dich dort zu sehen. Dann schreib dein Ziel auf und häng's an den Spiegel und denk jeden Tag dran. Versprochen?" – "Versprochen! Tschüss!"
Ruth Sandforth kennt Aishes Sorge, die elfte Klasse nicht zu schaffen, und würde sie gern weiter begleiten. Vor allem dabei, notfalls Alternativen zu entwickeln:
"Aufzuzeigen, dass man auch mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung studieren kann, dass es sich manchmal lohnt, Umwege zu gehen, um ans Ziel zu kommen. Dass also, wenn das Abitur auf dem klassischen Weg nicht erreicht werden kann, dieser Traum auf gar keinen Fall aus den Augen verloren werden sollte."
Bildungsminister Wolf sagt, das Projekt geht weiter
Keine drei Wochen nach dem Bewerbungstraining: die Abschlussfeier mit Zertifikatsübergabe im festlich geschmückten Uni-Saal. Der rheinland-pfälzische Hochschulminister Konrad Wolf würdigt das Geleistete mit einer Zusage:
"Also, wenn man sieht, wie erfolgreich dieses Projekt verlaufen ist, dann sollte es auf jeden Fall weitergehen. Und es wird auch weiter geführt werden, da bin ich mir ganz sicher."
Ruth Sandforth wird einen Antrag einreichen. Wie genau formuliert, darüber grübelt die Projektleiterin noch. Zwei Dinge sind ihr wichtig: dass Aishe, Maryan und die anderen Absolventinnen mit ihren schulischen und beruflichen Baustellen nicht allein gelassen werden. Und dass eine Gruppe neuer Migrantinnen ab Frühjahr 2020 die Chance bekommt, in das deutsche Bildungssystem hineinzuwachsen. Doch erst mal kommen die Feiertage. Eda Akbulut will mit ihren Mentees das Frankfurter Goethehaus besuchen.
"Das machen wir in den Weihnachtsferien, haben wir gesagt."
Aishe brennt darauf, mitzukommen.
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