Bildungspolitik

Schaffen wir das Abitur ab!

Studentinnen und Studenten sitzen im Hörsaal einer Universität.
Studentinnen und Studenten sitzen im Hörsaal einer Universität. © imago/Future Image
Von Ulrich Woelk |
Warum sollte eine ausgebildete Krankenschwester weniger geeignet für ein Medizinstudium sein, nur weil ihr das Abitur fehlt? Der Schriftsteller Ulrich Woelk fordert, bei der Vergabe von Studienplätzen eher auf Kernkompetenzen zu achten als auf Schulnoten.
Ich habe vor knapp 40 Jahren Abitur gemacht, meine Tochter vor ein paar Tagen. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es so gekommen ist, war hoch. Der Prozentsatz von Akademikerkindern an deutschen Gymnasien ist etwa doppelt so hoch wie der von Arbeitern und Handwerkern. Und im Gegensatz zu all denen, die eine Lehre gemacht haben, ist meine Tochter nun also studienberechtigt. Natürlich freue ich mich darüber, aber ist es auch gerecht?

Das deutsche Bildungsschisma

Die OECD bescheinigt es uns: In keinem Industrieland ist die soziale Herkunft so entscheidend für die Bildungsbiographie wie in Deutschland. Ein Grund dafür ist die Existenz von zwei sowohl organisatorisch wie institutionell getrennten Bildungswegen: einem gymnasialen mit dem Ziel eines akademischen Abschlusses sowie einem berufsbildenden für handwerklich-industrielle Tätigkeiten. Man muss sich sehr früh für den einen oder anderen entscheiden. Und dies führt zu dem in der Sozial- und Bildungsforschung gelegentlich so genannten "deutschen Bildungs-Schisma".
Die Ursprünge der Trennung von höherer Schulbildung und praktischer Berufsausbildung gehen auf das neunzehnte Jahrhundert zurück. Die Universitäten sollten die Nachfrage des Staates nach Beamten befriedigen, Industrie und Handwerk mit der Lehre ihren Bedarf an Fachkräften decken. Diese Aufteilung ist für eine moderne Dienstleistungsgesellschaft schon lange nicht mehr zeitgemäß.
Es hat in den vergangenen Jahrzehnten auch nicht an Versuchen gemangelt, beide Bildungssysteme zu reformieren und eine gewisse Durchlässigkeit zwischen ihnen zu erreichen – von nachhaltigem Erfolg geprägt waren diese Bemühungen jedoch nicht. Im Gegenteil. Das deutsche Bildungsschisma hat sich in den vergangenen Jahren noch verschärft.

Das Abitur verfehlt alle geforderten Ziele

Doch was kann man tun, wenn alle Reformbestrebungen und Korrekturen am System scheitern? Ich habe einen einfachen Vorschlag. Schaffen wir das Abitur ab!
Der ursprüngliche Zweck des Abiturs, den Zugang zur akademischen Bildung auf eine Elite von Beamten und Staatsangestellten zu beschränken, ist obsolet und längst kontraproduktiv. Das Abitur leistet nichts von dem, was unsere heutige Gesellschaft dringend braucht. Es verfehlt alle geforderten Ziele: Es schafft bundesweit keine Vergleichbarkeit der Abschlüsse. Es schafft keine soziale Gerechtigkeit beim Bildungszugang. Und es erlaubt keine Aussage darüber, ob ein Bewerber für ein bestimmtes Studium tatsächlich geeignet ist oder nicht.

Universitäten müssten sich Studenten selbst aussuchen

Das Bundesverfassungsgericht hat dies jüngst in seinem Urteil über den Zugang zum Medizinstudium bekräftigt. Warum soll eine ausgebildete Krankenschwester nicht das gleiche Anrecht auf einen Medizinstudienplatz haben wie der Einser-Abiturient? Ich sehe darin nichts anderes, als einen fairen Wettbewerb.
Sicher - die Universitäten müssten sich ihre Studenten selbst aussuchen. Das wäre ein enormer Paradigmenwechsel und gewiss nicht von heute auf morgen umsetzbar.
Doch prinzipiell lassen sich in allen Fächern die geforderten Kernkompetenzen in geeigneten Aufnahmeverfahren überprüfen. Zentral zu regeln blieben lediglich die Kontingente der von den Universitäten aufzunehmenden Studenten, um deren Anzahl den jeweiligen Kapazitäten anzupassen. Spräche etwas dagegen? Nur wenn das derzeitige System gerecht wäre – doch das ist es nachweislich nicht.

Die scheinbare Sicherheit von Zertifikaten

Kritik am Abitur zu üben ist nicht neu. Sie geht aber fast ausschließlich in die Richtung, die vermeintliche Qualität des Abiturs als Bildungszertifikat zu verteidigen. Diese Kritik ist rückwärtsgewandt, weil sie an der Unterscheidung von Gebildeten und Nicht-Gebildeten festhält.
Wir Deutschen verlassen uns ja gerne auf Papiere und Stempel. Aber wenn wir ernsthaft mehr Gerechtigkeit in der Bildungspolitik erreichen wollen, müssen wir uns von der scheinbaren Sicherheit verabschieden, die solche Zertifikate vermitteln. Wir müssen die Universitäten für alle öffnen. Das Abitur ist ein sehr alter Zopf.

Ulrich Woelk, geboren 1960, war Physiker, bevor er die Schriftstellerei zum Beruf machte. Heute lebt er in Berlin. Sein Debüt-Roman "Freigang" wurde mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seither hat er zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays und Hörspiele veröffentlicht.

Der Schriftsteller Ulrich Woelk
© Bettina Keller
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