Bildungsroman eines Nach-68ers

Rezensiert von Katharina Döbler |
Stephan Wackwitz gehört zu der Generation der Nach-68er, die in letzter Zeit verstärkt durch Distanzierungsrituale zu ihrer revolutionären Jugend auffallen. Auch Wackwitz versucht, in Form eines Bildungsromans die eigene Adoleszenz zu durchleuchten und gleichzeitig eine Kulturkritik des 20. Jahrhunderts zu liefern, scheitert jedoch am selbst gestellten Anspruch.
Stephan Wackwitz, Autor mehrerer Romane und zahlreicher Essays, sowie in seiner Eigenschaft als leitender Mitarbeiter des Goethe-Instituts Repräsentant deutscher Kultur im Ausland, ist sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Er gehört also zur wenig glamourösen Generation der Nach-68er, die von den wilden Jahren nur noch den politischen Dogmatismus, und von der Rebellion nur noch den Marsch durch die Institutionen mitbekommen hat.

In seinem neuesten Buch stellt sich Wackwitz als repräsentativen Vertreter dieser Jahrgänge vor - und gleichzeitig als deren Kommentator, als Beobachter aus einer 30 Jahre späteren Gegenwart. Man könnte auch sagen, als eine Art kulturkritischer Schiedsrichter, der, gestützt auf umfassende Lektüre deutscher Fundamental-Autoren, mit wohlüberlegten Worten Regelverstöße zu Kenntnis und Analyse bringt.

Dieses Buch ist, wenngleich als "Bildungsroman" apostrophiert, ein autobiographischer Essay, der die eigenen Lebenslinien zu Denklinien macht. Es geht um Politik, selbstverständlich, unter näherer Berücksichtigung totalitärer Ideologien, um Homosexualität, vor allem im Hinblick auf Ästhetik, um Frauenemanzipation, Familie und das Wesen der Frau an sich, und es geht - Wackwitz stammmt aus einem streng protestantischen Pfarrersgeschlecht - um Religion und Neurose.

Im Rückblick aus dem Jahr 2004 reflektiert Wackwitz, der sich damals in Polen aufhielt, seine radikale Jugend im DKP-nahen MSB Spartakus. Die seitenlangen Tagebuchaufzeichnungen jener Jahre, mögen sie echt sein oder fiktiv, klingen in ihrem Gemisch aus adoleszenter Selbstfindungsprosa, politischer Rechthaberei und Lektürekommentaren im Hauptseminarstil schaurig authentisch und zeitdokumentarisch. Und das ganze vorliegende Buch ist eine Fortsetzung davon - samt seiner ebenfalls sehr gegenwartstypischen intellektuellen Distanzierungsrituale.

Unter Berufung auf den - vielfach zitierten - philosophischen und literarischen Bildungskatalog des 19. Jahrhunderts formuliert der Autor seine Lebens- und Familiengeschichte als kulturkritische Beurteilung des Zwanzigsten Jahrhunderts: Ein allzu großer Anspruch für ein so kleines und privates Buch.


Stephan Wackwitz: Neue Menschen
Bildungsroman
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005
Geb., 288 Seiten, 19,90 EUR