Bildungssystem

Die Schulpflicht gehört abgeschafft!

Eine Lehrerin steht mit einer Schülerin und einem Schüler an einer Tafel und schreibt eine 1.
Eine Lehrerin steht mit einer Schülerin und einem Schüler an einer Tafel und schreibt eine 1. © dpa-Zentralbild/Jens Kalaene
Von Philip Kovce · 01.08.2017
In Bremen und Niedersachsen enden morgen die Sommerferien. Ob die Schüler Lust haben oder nicht, fragt keiner – die Schulpflicht ruft. Philip Kovce meint, das muss nicht sein. Den Bildungsauftrag gegenüber Kindern und Jugendlichen als Schulzwang auszulegen, sei falsch.
Wer sich den Urlaubssand aus den Haaren und den Vormittagsschlaf aus den Augen gespült hat, weil das neue Schuljahr wieder vor der Alltagstür steht, der könnte sich auch angesichts eines offenkundigen Widerspruchs die Augen reiben: Ausgerechnet die Schule, jener Ort also, an dem junge Menschen zur Mündigkeit ermutigt werden sollen, ist größtenteils kein Freiheitsraum, sondern eine Pflichtveranstaltung.
War die Schulpflicht früher noch verständlich, als sie einem Verbot von Zwangsarbeit gleichkam und Kindern das Recht einräumte, lernen zu dürfen anstatt arbeiten zu müssen, so stellt sich heute längst die Frage, warum die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit im Rahmen pädagogischer Zwangsmaßnahmen stattfindet. Denn Schulpflicht heißt in Deutschland inzwischen Schulzwang.

Schulpflicht als Schulzwang

Bereits 2007 wurde die Bundesrepublik von den Vereinten Nationen dafür gerügt. Ihre noch aus der NS-Zeit stammende Auslegung der Schulpflicht als Schulzwang sei mit internationalen Abkommen nicht vereinbar. Die Abkommen sähen Alternativen wie Fern- und Hausunterricht vor. Vor allem aber liege die Entscheidung darüber, ob die Kinder zur Schule gehen sollen oder nicht, bei den Eltern - nicht beim Staat.
Der Schulpflicht liegt eine Geste der Bevormundung, ja, eine übergriffige, rechthaberische Sorge des Staates zugrunde, die weltanschaulich alles andere als neutral ist. Die Schulpflicht unterstellt Eltern Erziehungsunfähigkeit und Kindern Bildungsunwilligkeit, während Lehrer als Staatsdiener Fortschritte der heranwachsenden Untertanen in Sachen Anpassungsfähigkeit herbeiführen sollen. Selbst wenn alle Beteiligten dabei freigeistig gestimmt sind, macht es die Sache nicht besser.

Bildung lässt sich nicht verordnen

Weit gewichtiger als das Problem angeblich bildungsferner Schichten ist dieser Tage das Problem strukturell bildungsferner Institutionen. Die Schulpflicht steht beispielhaft dafür. Bildung lässt sich nicht verhängen wie eine Strafe, nicht verschreiben wie ein Medikament, nicht bestellen wie ein Buch. Nein, Bildung setzt ein Ich voraus, das ein anderer werden will; sie setzt einen freien Menschen voraus, der sich ändern, sich entwickeln, wachsen – schließlich: erwachsen werden will.
Würden freie Schulen und Hochschulen das Ich, das sich bilden will, und nicht das Subjekt, das beschult werden soll, ansprechen, so bekämen diese alten Institutionen eine ganz neue Ausrichtung. Sie würden Schüler und Studierende nicht länger für das Berufsleben zurechtstutzen, sondern sie selbst würden sich andauernd verwandeln lassen von den jungen Menschen, als deren Anwalt sie auftreten und denen sie dabei helfen, mit ihren neuen Fragen und Aufgaben die künftige Arbeits- und Lebenswelt zu prägen.

Integration setzt Freiheit voraus

Eines der Hauptargumente, das für die bestehende Schulpflicht immer wieder angeführt wird, ist ihre Integrationsfunktion. Dank der Schulpflicht sei die Schule noch ein Ort, der die auseinanderdriftende individualistische Gesellschaft zusammenhalte, heißt es.
Doch erzwungener Zusammenhalt erzeugt bestenfalls Solidarität unter Leidensgenossen. Integration ist das nicht. Integration beginnt im Zeitalter des Individualismus dort, wo ich selbstbestimmt auftreten und aus freien Stücken die Gemeinschaft mit anderen aufsuchen kann. Ich bin in jede Gesellschaft integrierbar, die sich aus Freiheit heraus bildet und der ich deshalb nicht zwangsläufig angehören muss.
Kurzum: Wenn der Schule in einer freien Gesellschaft eine Integrationsfunktion zukommen soll, müssen wir die Schulpflicht endlich abschaffen.

Philip Kovce, 1986 geboren, forscht am Basler Philosophicum sowie an der Seniorprofessur für Wirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke. Er gehört dem Think Tank 30 des Club of Rome sowie dem Forschungsnetzwerk Neopolis an und veröffentlichte gemeinsam mit Birger P. Priddat den Sammelband "Die Aufgabe der Bildung. Aussichten der Universität" (2015) sowie die Studie "Von Bologna nach Berlin und wieder zurück. Über die Verfassung der Universität. Eine Bildungsreise" (2016).

Philip Kovce - 1986 in Göttingen geboren, lebt als freier Autor in Berlin. Er ist Mitbegründer des Basler Philosophicums, Mitarbeiter des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Universität Witten/Herdecke sowie Mitglied des Think Tank 30 des Club of Rome. Veröffentlichungen (Auswahl): Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall. Aphorismen (Futurum Verlag); An die Freude. Friedrich Schiller in Briefen und Dichtungen (hrsg., AQUINarte Kunst- und Literaturpresse); Die Aufgabe der Bildung. Aussichten der Universität (hrsg. mit Birger P. Priddat, Metropolis Verlag).
© Ralph Boes
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