Ein Album wie ein gestreckter Mittelfinger
Die kanadische Band Billy Talent meldet sich mit ihrem fünften Studioalbum zurück - und ist kämpferischer und kritischer denn je.
"15 Jahre war alles in Ordnung. Und dieser Rückschlag hat sowohl Aaron wie auch uns schwer getroffen. Sein Körper lässt ihn nicht mehr Schlagzeug spielen – und verweigert schlichtweg den Dienst. Aber Aaron tut alles, um wieder gesund zu werden."
Ein Ausfall, den die Kanadier mit Neuzugang Jordan Hastings kompensieren – und der sie wachgerüttelt hat. In dem Sinne, dass im Leben nicht alles so läuft, wie man sich das wünscht, und dass einem nichts geschenkt wird. Man muss vielmehr selbst aktiv werden. Gerade angesichts politischer, sozialer und gesellschaftlicher Missstände. Wie die aktuelle Waffenflut in Toronto. Denn über die USA finden immer mehr gefährliche Kaliber den Weg ins vergleichsweise friedliche Nachbarland – mit verheerenden Folgen.
"In letzter Zeit gibt es jedes Wochenende Schießereien, bei der Leute getötet werden. Was mit Gangs zusammenhängt oder nächtlichem Alkoholismus und daraus resultierenden Missverständnissen. Es ist angsteinflößend. Als wir aufwuchsen, war es ein Unding, dass jemand eine Waffe hatte. Das gab es nur im Fernsehen. Und was in den USA passiert – das ist der Wahnsinn. Es ist, als hätte Columbine die Welt verändert. Als hätte das Massaker etwas losgetreten, das nun regelmäßig passiert. Und von dem wir kaum noch etwas mitbekommen."
Eine Band, die genau beobachtet
Klare Worte – und ein Indiz dafür, dass Billy Talent kämpferischer und bissiger geworden sind. Eben eine Band, die genau beobachtet, was in der Welt passiert, die Missstände ankreidet und kein Blatt vor den Mund nimmt. So ist "Afraid Of Heights" ein einziger Rundumschlag, eine Anklageschrift und ein gestreckter Mittelfinger. Nicht nur in Richtung Waffenlobby, sondern auch in Bezug auf skrupellose Großkonzerne, geldgierige Banker, korrupte Politiker, gewaltverherrlichende Computerspiele und, und, und. Wobei Donald Trump als Schreckgespenst und Verkörperung allen Übels natürlich nicht fehlen darf.
"Was Trump tut und die Rhetorik, die er dabei benutzt, inspiriert diese Hass-Kultur, von der ich gedacht hätte, dass wir sie längst überwunden haben. Sie wirft uns rund 100 Jahre zurück. Denn da ist jemand, dessen Ansichten allem widersprechen, was uns als Menschen auszeichnen sollte, und dem es gelingt, die Leute zu manipulieren. Das ist wirklich schlimm."
Billy Talent fordern denn auch den Bau einer ähnlichen Mauer zwischen Kanada und den USA wie die, die Trump zwischen Mexiko und den USA errichten will. Nur noch höher, strenger kontrolliert – und nicht ganz ernst gemeint. Denn bei allem Biss: Den zwölf Stücken fehlt nie der Humor oder die Selbstironie. Etwa wenn es darum geht, in "Louder Than The DJ" die aktuelle Misere der Rockmusik zu bekämpfen, die in der Gunst der Jugend durch DJs und Retortenklänge abgelöst wurde. Da spielt man sich als Retter auf - mit großen Grinsen.
"Das Stück verteidigt den Rock'n'Roll - und zwar auf lustige Weise. Denn wir haben überhaupt nichts gegen DJs. Es ist nur so: Als wir aufgewachsen sind und unsere ersten Rock-Konzerte besucht haben, hat das unser Leben verändert. Sie haben uns veranlasst, selbst zu Instrumenten zu greifen und dem Pfad zu folgen, der uns all diese wunderbaren Möglichkeiten eröffnet hat. Hoffentlich erkennen auch die heutigen Kids, wie toll es ist, hinterm Schlagzeug zu sitzen oder hinter einem Mikrofon zu stehen."
Aggressiver als seine Vorgänger
Weil kritische Inhalte eine entsprechende musikalische Verpackung brauchen, klingt "Afraid Of Heights" eine ganze Spur härter und aggressiver als seine Vorgänger. Was nicht nur durchgetretenes Gaspedal sowie Metal- und Punkanleihen bedeutet, sondern auch handwerkliches Können, Spielwitz und Experimentiergeist. So weisen einige Stücke akustische Töne, Streicher und sogar elektronische Momente auf. Ein Adrenalinkick mit differenzierten Zwischentönen – und das i-Tüpfelchen auf einem äußerst gelungenen Album.
"Unser Gitarrist Ian hat den Synthesizer auf 'Horses & Chariots' programmiert. Ein wunderbarer Song, der von Anfang an einen etwas anderen Vibe hatte. Doch zunächst hatten wir Angst, etwas falsch zu machen – weil wir so was noch nie probiert hatten. Aber nachdem Ian das Album gemixt hat, war der Synthesizer nicht im Hintergrund, wo wir ihn erwartet hatten, sondern an vorderster Front – wie ein subtiles Element, das plötzlich herausragt und eine tolle Figur abgibt. Es steht dafür, dass Bands ihre Hörer fordern müssen und auch mal neue Instrumente einbauen, um einen Song zum Fliegen zu bringen."
Die Songs fliegen lassen, das peilen Billy Talent auch bei neun Deutschland-Konzerten Ende November/Anfang Dezember an. Allerdings nicht mehr so physisch wie in ihren Anfangstagen. Da zieht Ben Kowalewicz die Alterskarte – verspricht aber, nicht langweilig oder gar leise zu sein.