"Bin der Restposten eines großbürgerlich-jüdischen Gefüges"
Der Künstler André Heller zeigt nach der langen Ablehnung seiner schriftstellerischen Arbeit Verständnis für die Literaturkritiker. Wenn ein Künstler auf vielen verschiedenen Gebieten arbeite, werde das bei dem "Feuilletonkameradschaftsbund" immer ein wenig mit Vorsicht genossen, sagte Heller.
Dieter Kassel: Als Regisseur der Eröffnungsfeierlichkeiten der Fußball-WM 2006 in Deutschland hat er das letzte Mal groß auf sich aufmerksam gemacht. André Heller hat dann vor allen Dingen auch beeindruckt durch seine, das muss man zugeben, recht gelassene Reaktion, als die große Eröffnung abgesagt wurde wegen Rücksichtnahme auf den Fußballrasen. Heller war Radio- und Fernsehmoderator. Er war Sänger, er war Schauspieler, Multimediakünstler und, und, und. Und er war und ist Schriftsteller. In letzterer Funktion hat er jetzt ein neues Buch veröffentlicht. "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein", eine Erzählung, die beruht auf seinen eigenen Erlebnissen als kleiner Junge im Jahr 1958. Ich habe mich gestern mit André Heller in seinem Hotelzimmer unterhalten und ihn gefragt, was ihn eigentlich dazu gebracht hat, welche Stimmen aus der Vergangenheit ihn erreicht haben, um dafür zu sorgen, dass er jetzt mit 61 Jahren gerade an diese Zeit zurückdenkt.
André Heller: Es gab in irgendeiner Abteilung meiner Erinnerung eine Stellage, wo das alles deponiert war. Und ich habe gemerkt, das fängt jetzt ein bisschen zu schimmeln an und wird sehr alt, und ich sollte es mal rausräumen, damit Platz für auch etwas bessere Energien in dieser Abteilung frei wird. Und wenn man dann so Dämonen auch bannen will, dann muss man sie entweder an die Wand malen wie in den Höhlen oder man muss sie aufschreiben und hat dann schon ein Befreiungserlebnis. Also, mir hat es sehr gutgetan, sehr spät eigentlich in meinem Leben, das aufzuschreiben. In ein paar Kritiken steht Verwunderung darüber, dass etwas, was eigentlich Schriftsteller oft am Anfang ihrer Karriere machen, nämlich einmal den Vater zu bewältigen und bestimmte Kindheitstraumata, dass ich das mit über 60 mache. Aber ich habe auch eine bestimmte Art von Nichtlarmoyanz gebraucht, um des guten Gewissens als Buch an andere weitergeben zu können. Und dazu muss man älter werden, dazu muss man gelassener werden, dazu muss man einen ironischeren Blick auf sich selbst und andere haben.
Kassel: Diese Gelassenheit, die Sie jetzt gerade erwähnt haben, Herr Heller, das ist etwas, was mir aufgefallen ist, mich fast am Anfang ein bisschen verwirrt hat. Im ersten Teil des Buches, da ist der Junge Paul, Ihr, einigen wir uns vielleicht darauf, in gewissen Grenzen alter Ego, ist da noch in dem Jesuiteninternat. Sie selber haben bekanntermaßen auch eines besucht. Das wird da verarbeitet. Und Sie beschreiben durch diesen Paul durchaus auch die Grausamkeit, die er dort erlebt. Sie beschreiben die Einsamkeit, die er empfindet. Und trotzdem hatte ich den Eindruck, Sie tun es auf eine sehr poetische Art und Weise, die einen so nicht, mich nicht so beunruhigt zurücklässt, wie man erwarten könnte. Haben Sie nach 50 Jahren Ihren Frieden mit dieser Zeit, mit dem Jesuitenpatern geschlossen?
Heller: Na, ich hab mit fast allen meinen Frieden geschlossen, weil ich finde, dass man nicht seine Kindheit ein Leben lang verantwortlich machen kann und als Ausrede hätscheln. Wo man hinschaut, stehen Leute und reden Leute, die sagen, ja damals, wenn mir das nicht geschehen wäre, wenn die Mutter etwas zärtlicher gewesen wäre, wenn der Vater weniger schrecklich gewesen wäre, dann wäre aus mir das geworden, was hätte werden können. Und ich finde, man ist gut beraten, sich noch einmal selber ohne Vater und Mutter, was eine ziemliche Arbeit ist, in die Welt zu bringen und dann für sich selber die Verantwortung zu übernehmen und zu verzeihen und loszulassen. Es ist ein unerträglicher Zustand, ununterbrochen von Schuldigen umzingelt zu sein in seinem eigenen Leben und die als Ausrede dafür herhalten, dass man vielleicht nicht auf der Höhe angesiedelt ist, auf der man sich wünscht. Für mich waren das alles Lehrer, die schrecklichen, mich Spießrouten laufen lassenden Professoren, die Verwandten, die sich Ratschläge anmaßenden Erwachsenen. Und diese Lehrer haben mir was sehr Eindrucksvolles gezeigt, nämlich wie ich ganz bestimmt nicht werden will und wie sich mein Leben nicht gestalten soll. Und vor allem, welche Energien ich nicht weitergeben will an mein eigenes Kind. Insofern bin ich aus heutiger Sicht allen sehr dankbar, dass sie mich so beeindruckt haben negativ, und das ist eine Art von Aussöhnung.
Kassel: Neben der Brutalität, der Grausamkeit an dieser Schule spielte ja auch die Disziplin eine große Rolle und Stärke zeigen, keine Schwäche zeigen. Das ist ja etwas, was man eigentlich im Leben nun doch manchmal braucht, ob man es gerne möchte oder nicht. Würden Sie sagen, ein bisschen was haben Sie selbst in dieser unangenehmen Umgebung dieser Schule gelernt, was Ihnen im Leben geholfen hat, auch als Künstler, auch als professioneller Mensch, der sich durchboxen muss immer?
Heller: Ich habe gelernt, dass ich mir treu sein muss gegen die Vorschläge und gegen das System der anderen. Ich habe gelernt, dass man wehrhaft sein muss, dass man für das auf die Barrikaden gehen muss, was das Bedürfnis der eigenen Seele ist. Ich habe gelernt, dass man hart arbeiten muss, um aus sich einen Menschen zu machen.
Kassel: Es gibt eine Stelle in diesem Buch, und da hat der junge Paul etwas relativ Schlimmes getan mit einem Lehrer. Ich erzähle es nicht, weil es eine längere Herleitung bräuchte. Wichtig ist, er hat das getan und natürlich ist der Lehrer entsetzt, muss sich aufgrund dessen, was er getan hat, was er ins Gesicht bekommen hat, auch erst mal abwenden. Aber dann passiert noch etwas anderes. Dann sagten nämlich einer oder sogar zwei der Mitschüler zu ihm, du gehörst nicht zu uns. Ist das etwas, was Sie damals an dieser Schule auch empfunden haben? Sie antworten oder Paul antwortet an der Stelle, ja, das weiß ich, das war immer so.
Heller: Ich war ein vollkommener Alien, aber nicht nur im Internat, auch in der Familie, in der Stadt Wien, in Österreich. Ich habe immer das Gefühl einer ganz gnadenlosen Nichtzugehörigkeit gehabt. Und ich habe dann begonnen, mir eine Art von Heimat zu schaffen als Antwort auf diese Einsamkeit. Und diese Heimat war in der Musik, in der Literatur, in der Architektur, in der Malerei. Und ich habe sozusagen angesucht, um ein Dauervisum in diesen anderen Energien. Und ich sage ja auch, dass die Heiligen von diesem Kind, und das war auch bei mir so, das waren nicht die katholischen Heiligen, sondern es war der Hugo von Hofmannsthal oder der Strawinsky oder der Mattis, und zu denen habe ich auch gebetet schon als Kind, weil ich einen unglaublichen Trost entdeckt habe in diesen gegen den Strich dessen, was an Erziehungsvorschlägen kam, gebürsteten Arbeitsergebnissen von schöpferischem Mensch. Und ich habe immer gewusst, dort muss ich hin, dort gehöre ich hin. Und dort muss ich irgendeine Art von Platz erobern. Und jetzt mit der Geburt meines Sohnes vor 20 Jahren habe ich noch einmal die Chance gehabt, eine Kindheit der Qualität mitzumachen mit dem eigenen Kind und auch der Vater zu sein, den ich gerne gehabt hätte.
Kassel: Aber ist es nicht ein großer Druck? Ich habe so das Gefühl, dass Sie das, was Ihr Vater, Herr Heller, der echte, jetzt sind wir weg vom Buch, bei Ihnen falsch gemacht hat oder einfach nur nicht gemacht hat, dass Sie das alles ausgleichen und nachholen wollten bei Ihrem Sohn?
Heller: Schauen Sie, ich glaube nicht, dass es ein Druck ist zu lieben. Das ist einfach nur ein Vergnügen. Und ich meine, all das, wovon ich hier rede, könnte man unter dem Wort Selbstliebe und dadurch in der Lage sein, von anderen geliebt zu werden und deren Liebe anzunehmen, subsumieren gegen eine bestimmte Art von Ungenauigkeit der Genauigkeit setzen, gegen eine bestimmte Art von Grausamkeit was Zartes zu setzen, Zärtlichkeit statt Gefühlsverweigerung. Umarmung statt Distanz. Das ist nichts Schweres. Das ist das Wunderbarste, was diese von Polarität angefüllte Welt zu bieten hat.
Kassel: Ich habe mich erinnert an ein Interview, das zehn Jahre, glaube ich, alt ist, dass Sie damals 97/98 dem "Spiegel" gaben. Da spielte eine kleine, aber gewisse Rolle die Aufnahme Ihres schriftstellerischen Schaffens, das ist ja keine Premiere für Sie. Sie haben immer wieder auch Bücher geschrieben zwischendurch, spielte diese Aufnahme in dem berühmten Hochfeuilleton in Österreich, in Deutschland in der Großkritik eine Rolle. Und da hatte ich das Gefühl, Sie haben das nicht wörtlich gesagt, ich will Ihnen nichts in die Schuhe schieben, aber das Gefühl, Sie fühlten sich ein bisschen auch verkannt, was Ihre literarische Fähigkeiten angeht?
Heller: Ich gebe Ihnen darauf eine ganz ehrliche Antwort. Jemand, der so viel merkwürdige Wechsel in seinem Leben hat, der quasi jedes Jahr einen neuen Beruf ausprobiert, jemand, der mit Liliputanern Stepp tanzt und dann auf Schiffen, am Meer große brennende Bilder zu Musiken vom Händel abbrennt oder der mit der Jesse Norman in Paris in der Oper was inszeniert und dann drauf Kurator der Fußball-Weltmeisterschaft wird, wenn man das alles zusammenzählt, und ich habe jetzt nur einen Bruchteil erwähnt, dann weiß ich, dass das beim Feuilletonkameradschaftsbund immer ein bisschen mit Vorsicht genossen wird. Weil die wollen Eindeutigkeiten haben und man soll sozusagen sich den Gesetzen, die die aufstellen, auch irgendwie fügen. Das war mir unmöglich. Ich konnte das von meiner Neugier her, von meiner Expeditionslust her nicht machen. Ich wusste, dass ich auf vielen Gebieten tätig bin, wo ich relativ wenig bis gar keine Konkurrenz habe.
Wenn ich mich mit dem Schreiben einlasse, dann mache ich was ganz Todesmutiges. Da gehe ich, prinzipiell schon aber, in die Buchhandlung und sage, dort wo der Marcel Proust oder James Joyce, wo der (…), der Josef Roth, der (…) und der (…) liegen, lege ich mein Buch auch hin. Da muss man entweder größenwahnsinnig sein oder von einer Selbstverliebtheit, die uferlos ist. Ich habe daher relativ wenig veröffentlicht. Und dann eines Tages wurde mir bewusst, dass ich ein paar Geschichten erlebt habe oder auch erfinden kann, die aus folgenden Gründen andere vielleicht nicht erzählen können. Ich bin ein absoluter Restposten eines großbürgerlich jüdischen Gefüges, das die Nazis eigentlich ausgelöscht haben und ermordet und das jetzt noch einmal unter dem Subtitel "österreichisch-großbürgerlich-jüdisches Familienleben". Und die ganze österreichische Literatur der Gegenwart spielt sich eigentlich im kleinbürgerlichen Milieu oder im Arbeitermilieu ab.
Und das hat mir plötzlich irgendwie sehr einleuchtend die Legitimation gegeben, dass ich doch schreibe. Und dieses Buch jetzt, muss ich sagen, das hat aber wahrscheinlich mit meinem Alter zu tun, dass sich auch die Kritiker langsam an mich gewöhnen und dass es eine neue Generation von jungen Leuten gibt, die das nicht stört, dass einer ein Popstar war, trotzdem ein Buch schreibt, weil da gibt es jetzt Sven Regener, sodass für die das auch normal ist. Das hat jetzt eigentlich fast nur gute Kritiken bekommen und das ist auch ein Bestseller bisher. In Österreich ist es Nummer zwei in der Verkaufsparade und es ist sehr, sehr schön, macht mir eine große Freude und gibt mir natürlich eine gewisse Ermutigung, dem wieder was folgen zu lassen. Aber es hat mir nicht gefallen, wenn ich da abgelehnt wurde. Das gefällt niemand, wenn er abgelehnt wird und mit einem Kind, das er geboren hat. Aber ich habe es irgendwie verstanden. Und umso mehr freue ich mich aber jetzt, dass es anders ist.
Kassel: Der Künstler André Heller im Deutschlandradio Kultur. Ich habe gestern in seinem Hotel mit ihm gesprochen. Heute Abend liest er aus seiner Erzählung "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein" im Berliner Ensemble ab 19:30 Uhr. Anschließend gibt es ein Gespräch mit ihm und Claus Peymann und das Buch, über das wir gesprochen haben, ist im Fischer Verlag erschienen.
André Heller: Es gab in irgendeiner Abteilung meiner Erinnerung eine Stellage, wo das alles deponiert war. Und ich habe gemerkt, das fängt jetzt ein bisschen zu schimmeln an und wird sehr alt, und ich sollte es mal rausräumen, damit Platz für auch etwas bessere Energien in dieser Abteilung frei wird. Und wenn man dann so Dämonen auch bannen will, dann muss man sie entweder an die Wand malen wie in den Höhlen oder man muss sie aufschreiben und hat dann schon ein Befreiungserlebnis. Also, mir hat es sehr gutgetan, sehr spät eigentlich in meinem Leben, das aufzuschreiben. In ein paar Kritiken steht Verwunderung darüber, dass etwas, was eigentlich Schriftsteller oft am Anfang ihrer Karriere machen, nämlich einmal den Vater zu bewältigen und bestimmte Kindheitstraumata, dass ich das mit über 60 mache. Aber ich habe auch eine bestimmte Art von Nichtlarmoyanz gebraucht, um des guten Gewissens als Buch an andere weitergeben zu können. Und dazu muss man älter werden, dazu muss man gelassener werden, dazu muss man einen ironischeren Blick auf sich selbst und andere haben.
Kassel: Diese Gelassenheit, die Sie jetzt gerade erwähnt haben, Herr Heller, das ist etwas, was mir aufgefallen ist, mich fast am Anfang ein bisschen verwirrt hat. Im ersten Teil des Buches, da ist der Junge Paul, Ihr, einigen wir uns vielleicht darauf, in gewissen Grenzen alter Ego, ist da noch in dem Jesuiteninternat. Sie selber haben bekanntermaßen auch eines besucht. Das wird da verarbeitet. Und Sie beschreiben durch diesen Paul durchaus auch die Grausamkeit, die er dort erlebt. Sie beschreiben die Einsamkeit, die er empfindet. Und trotzdem hatte ich den Eindruck, Sie tun es auf eine sehr poetische Art und Weise, die einen so nicht, mich nicht so beunruhigt zurücklässt, wie man erwarten könnte. Haben Sie nach 50 Jahren Ihren Frieden mit dieser Zeit, mit dem Jesuitenpatern geschlossen?
Heller: Na, ich hab mit fast allen meinen Frieden geschlossen, weil ich finde, dass man nicht seine Kindheit ein Leben lang verantwortlich machen kann und als Ausrede hätscheln. Wo man hinschaut, stehen Leute und reden Leute, die sagen, ja damals, wenn mir das nicht geschehen wäre, wenn die Mutter etwas zärtlicher gewesen wäre, wenn der Vater weniger schrecklich gewesen wäre, dann wäre aus mir das geworden, was hätte werden können. Und ich finde, man ist gut beraten, sich noch einmal selber ohne Vater und Mutter, was eine ziemliche Arbeit ist, in die Welt zu bringen und dann für sich selber die Verantwortung zu übernehmen und zu verzeihen und loszulassen. Es ist ein unerträglicher Zustand, ununterbrochen von Schuldigen umzingelt zu sein in seinem eigenen Leben und die als Ausrede dafür herhalten, dass man vielleicht nicht auf der Höhe angesiedelt ist, auf der man sich wünscht. Für mich waren das alles Lehrer, die schrecklichen, mich Spießrouten laufen lassenden Professoren, die Verwandten, die sich Ratschläge anmaßenden Erwachsenen. Und diese Lehrer haben mir was sehr Eindrucksvolles gezeigt, nämlich wie ich ganz bestimmt nicht werden will und wie sich mein Leben nicht gestalten soll. Und vor allem, welche Energien ich nicht weitergeben will an mein eigenes Kind. Insofern bin ich aus heutiger Sicht allen sehr dankbar, dass sie mich so beeindruckt haben negativ, und das ist eine Art von Aussöhnung.
Kassel: Neben der Brutalität, der Grausamkeit an dieser Schule spielte ja auch die Disziplin eine große Rolle und Stärke zeigen, keine Schwäche zeigen. Das ist ja etwas, was man eigentlich im Leben nun doch manchmal braucht, ob man es gerne möchte oder nicht. Würden Sie sagen, ein bisschen was haben Sie selbst in dieser unangenehmen Umgebung dieser Schule gelernt, was Ihnen im Leben geholfen hat, auch als Künstler, auch als professioneller Mensch, der sich durchboxen muss immer?
Heller: Ich habe gelernt, dass ich mir treu sein muss gegen die Vorschläge und gegen das System der anderen. Ich habe gelernt, dass man wehrhaft sein muss, dass man für das auf die Barrikaden gehen muss, was das Bedürfnis der eigenen Seele ist. Ich habe gelernt, dass man hart arbeiten muss, um aus sich einen Menschen zu machen.
Kassel: Es gibt eine Stelle in diesem Buch, und da hat der junge Paul etwas relativ Schlimmes getan mit einem Lehrer. Ich erzähle es nicht, weil es eine längere Herleitung bräuchte. Wichtig ist, er hat das getan und natürlich ist der Lehrer entsetzt, muss sich aufgrund dessen, was er getan hat, was er ins Gesicht bekommen hat, auch erst mal abwenden. Aber dann passiert noch etwas anderes. Dann sagten nämlich einer oder sogar zwei der Mitschüler zu ihm, du gehörst nicht zu uns. Ist das etwas, was Sie damals an dieser Schule auch empfunden haben? Sie antworten oder Paul antwortet an der Stelle, ja, das weiß ich, das war immer so.
Heller: Ich war ein vollkommener Alien, aber nicht nur im Internat, auch in der Familie, in der Stadt Wien, in Österreich. Ich habe immer das Gefühl einer ganz gnadenlosen Nichtzugehörigkeit gehabt. Und ich habe dann begonnen, mir eine Art von Heimat zu schaffen als Antwort auf diese Einsamkeit. Und diese Heimat war in der Musik, in der Literatur, in der Architektur, in der Malerei. Und ich habe sozusagen angesucht, um ein Dauervisum in diesen anderen Energien. Und ich sage ja auch, dass die Heiligen von diesem Kind, und das war auch bei mir so, das waren nicht die katholischen Heiligen, sondern es war der Hugo von Hofmannsthal oder der Strawinsky oder der Mattis, und zu denen habe ich auch gebetet schon als Kind, weil ich einen unglaublichen Trost entdeckt habe in diesen gegen den Strich dessen, was an Erziehungsvorschlägen kam, gebürsteten Arbeitsergebnissen von schöpferischem Mensch. Und ich habe immer gewusst, dort muss ich hin, dort gehöre ich hin. Und dort muss ich irgendeine Art von Platz erobern. Und jetzt mit der Geburt meines Sohnes vor 20 Jahren habe ich noch einmal die Chance gehabt, eine Kindheit der Qualität mitzumachen mit dem eigenen Kind und auch der Vater zu sein, den ich gerne gehabt hätte.
Kassel: Aber ist es nicht ein großer Druck? Ich habe so das Gefühl, dass Sie das, was Ihr Vater, Herr Heller, der echte, jetzt sind wir weg vom Buch, bei Ihnen falsch gemacht hat oder einfach nur nicht gemacht hat, dass Sie das alles ausgleichen und nachholen wollten bei Ihrem Sohn?
Heller: Schauen Sie, ich glaube nicht, dass es ein Druck ist zu lieben. Das ist einfach nur ein Vergnügen. Und ich meine, all das, wovon ich hier rede, könnte man unter dem Wort Selbstliebe und dadurch in der Lage sein, von anderen geliebt zu werden und deren Liebe anzunehmen, subsumieren gegen eine bestimmte Art von Ungenauigkeit der Genauigkeit setzen, gegen eine bestimmte Art von Grausamkeit was Zartes zu setzen, Zärtlichkeit statt Gefühlsverweigerung. Umarmung statt Distanz. Das ist nichts Schweres. Das ist das Wunderbarste, was diese von Polarität angefüllte Welt zu bieten hat.
Kassel: Ich habe mich erinnert an ein Interview, das zehn Jahre, glaube ich, alt ist, dass Sie damals 97/98 dem "Spiegel" gaben. Da spielte eine kleine, aber gewisse Rolle die Aufnahme Ihres schriftstellerischen Schaffens, das ist ja keine Premiere für Sie. Sie haben immer wieder auch Bücher geschrieben zwischendurch, spielte diese Aufnahme in dem berühmten Hochfeuilleton in Österreich, in Deutschland in der Großkritik eine Rolle. Und da hatte ich das Gefühl, Sie haben das nicht wörtlich gesagt, ich will Ihnen nichts in die Schuhe schieben, aber das Gefühl, Sie fühlten sich ein bisschen auch verkannt, was Ihre literarische Fähigkeiten angeht?
Heller: Ich gebe Ihnen darauf eine ganz ehrliche Antwort. Jemand, der so viel merkwürdige Wechsel in seinem Leben hat, der quasi jedes Jahr einen neuen Beruf ausprobiert, jemand, der mit Liliputanern Stepp tanzt und dann auf Schiffen, am Meer große brennende Bilder zu Musiken vom Händel abbrennt oder der mit der Jesse Norman in Paris in der Oper was inszeniert und dann drauf Kurator der Fußball-Weltmeisterschaft wird, wenn man das alles zusammenzählt, und ich habe jetzt nur einen Bruchteil erwähnt, dann weiß ich, dass das beim Feuilletonkameradschaftsbund immer ein bisschen mit Vorsicht genossen wird. Weil die wollen Eindeutigkeiten haben und man soll sozusagen sich den Gesetzen, die die aufstellen, auch irgendwie fügen. Das war mir unmöglich. Ich konnte das von meiner Neugier her, von meiner Expeditionslust her nicht machen. Ich wusste, dass ich auf vielen Gebieten tätig bin, wo ich relativ wenig bis gar keine Konkurrenz habe.
Wenn ich mich mit dem Schreiben einlasse, dann mache ich was ganz Todesmutiges. Da gehe ich, prinzipiell schon aber, in die Buchhandlung und sage, dort wo der Marcel Proust oder James Joyce, wo der (…), der Josef Roth, der (…) und der (…) liegen, lege ich mein Buch auch hin. Da muss man entweder größenwahnsinnig sein oder von einer Selbstverliebtheit, die uferlos ist. Ich habe daher relativ wenig veröffentlicht. Und dann eines Tages wurde mir bewusst, dass ich ein paar Geschichten erlebt habe oder auch erfinden kann, die aus folgenden Gründen andere vielleicht nicht erzählen können. Ich bin ein absoluter Restposten eines großbürgerlich jüdischen Gefüges, das die Nazis eigentlich ausgelöscht haben und ermordet und das jetzt noch einmal unter dem Subtitel "österreichisch-großbürgerlich-jüdisches Familienleben". Und die ganze österreichische Literatur der Gegenwart spielt sich eigentlich im kleinbürgerlichen Milieu oder im Arbeitermilieu ab.
Und das hat mir plötzlich irgendwie sehr einleuchtend die Legitimation gegeben, dass ich doch schreibe. Und dieses Buch jetzt, muss ich sagen, das hat aber wahrscheinlich mit meinem Alter zu tun, dass sich auch die Kritiker langsam an mich gewöhnen und dass es eine neue Generation von jungen Leuten gibt, die das nicht stört, dass einer ein Popstar war, trotzdem ein Buch schreibt, weil da gibt es jetzt Sven Regener, sodass für die das auch normal ist. Das hat jetzt eigentlich fast nur gute Kritiken bekommen und das ist auch ein Bestseller bisher. In Österreich ist es Nummer zwei in der Verkaufsparade und es ist sehr, sehr schön, macht mir eine große Freude und gibt mir natürlich eine gewisse Ermutigung, dem wieder was folgen zu lassen. Aber es hat mir nicht gefallen, wenn ich da abgelehnt wurde. Das gefällt niemand, wenn er abgelehnt wird und mit einem Kind, das er geboren hat. Aber ich habe es irgendwie verstanden. Und umso mehr freue ich mich aber jetzt, dass es anders ist.
Kassel: Der Künstler André Heller im Deutschlandradio Kultur. Ich habe gestern in seinem Hotel mit ihm gesprochen. Heute Abend liest er aus seiner Erzählung "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein" im Berliner Ensemble ab 19:30 Uhr. Anschließend gibt es ein Gespräch mit ihm und Claus Peymann und das Buch, über das wir gesprochen haben, ist im Fischer Verlag erschienen.