"Bindung an die Werte im alten Europa"
Schwerpunkt des internationalen Literaturfestival Berlin ist der Osten. Der russische Autor Viktor Jerofejew ist bereits zum vierten Mal zu Gast. Wichtig für ihn: Der Austausch mit anderen Schriftstellern und die "Bindung an die Werte im alten Europa". Jerofejew hofft, dass sich das Russland von Putin und Medwedew mehr nach Westen orientiert.
Matthias Hanselmann: Er ist einer der führenden Autoren Russlands, Viktor Jerofejew. International bekannt wurde er in der Zeit der Perestroika mit seinem Roman "Die Moskauer Schönheit", der in 27 Sprachen übersetzt wurde. Jerofejew, geboren 1947 in Moskau ist entschiedener Kritiker der politischen und gesellschftlichen Verhältnisse in Russland. Sein jüngstes Buch ist eine Sammlung von Essays und trägt den Titel "Russische Apokalypse". Im russischen Fernsehen moderiert er seit Jahren eine Talksendung mit großem Erfolg. Jerofejew ist zur Zeit Gast beim internationalen Literaturfestival in Berlin. Ich hatte vor der Sendung Gelegenheit mit ihm zu sprechen und wollte zunächst wissen, was seine Eindrücke von diesem Festival sind und warum es es besucht.
Viktor Jerofejew: Ich bin bereits zum vierten Mal hier in Berlin auf dem Literaturfestival, das heißt, es gefällt mir hier. Und weswegen ich hierher komme und warum es mir gefällt, ist: Hier gibt es die Möglichkeit, sich mit Schriftstellern zu treffen, anzuschauen, was sie machen, und sich auszutauschen und sozusagen eine Weltkarte der Literatur für sich zu erstellen.
Hanselmann: Schwerpunkt in diesem Jahr ist Literatur des Ostens, viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus diesen Ländern sind hier. Gibt es so etwas wie ein gemeinsames Anliegen dieser Menschen, die schreibend aus dem Osten kommen?
Jerofejew: Natürlich gibt es Sachen, die die Schriftsteller hier verbindet, und zwar ist es die Haltung, die Bindung an die Werte im alten Europa. Das alte Europa wird Werte liefern in diese Länder, und die Frage wird sein, ob diese Werte aufgenommen werden, ob diese Werte abgelehnt werden. Und Schriftsteller sind eigentlich immer Revolutionäre, deswegen ist es ihre Aufgabe, hier bestimmte Sachen laut zum Ausdruck zu bringen.
Hanselmann: Welche Werte sind das, von welchen Werten sprechen Sie, die laut zum Ausdruck gebracht werden müssen?
Jerofejew: Das Wichtigste für uns ist natürlich das kulturelle Erbe, in Ländern wie zum Beispiel Deutschland oder Frankreich, aber nicht nur das Erbe an sich, sondern dass wir auch einen Dialog mit diesem Erbe führen. Ich habe den Eindruck, dass das alte Europa zu politisiert ist im Augenblick, dass es zu viele vereinzelte Diskussionen, Streitereien gibt – das ist wie ein großer Salat, wo dann jeder sich so sein Stückchen herauspickt und dann daran rumkaut. Eigentlich sollte man versuchen, einfach nur sich etwas zu beruhigen, sich auf etwas Gemeinsames zu besinnen.
Hanselmann: Wenden wir uns vielleicht kurz dem Salat in Ihrem eigenen Lande zu: Ihr letztes bei uns in Deutschland erschienene Buch trägt den Titel "Russische Apokalypse". Sie stellen dem Buch die Formulierung "Russland, das Land der siegreichen Apokalypse" voran, und statt eines Vorwortes einen Aufsatz mit der Überschrift "Fröhliche Hölle". Bitte beschreiben Sie uns, was Sie damit meinen!
Jerofejew: Das ist ein großes Thema, und dieses Thema kann man mit Humor behandeln oder man kann es mit Ernst angehen. Ich betrachte Russland vor allen Dingen als ein Gebilde der Kultur. Es hat große Schriftsteller – Dostojewski, Tolstoi – Komponisten, und diese Kultur, diese Meister gehören allen. Die gehören den Deutschen, den Russen, den Amerikanern und anderen. Allerdings ist diese Kultur auf einer Geschichte gewachsen, die voller Leiden steckt einerseits und andererseits eine Apokalypse auch darstellt, und wir sollten vielleicht für diese Apokalypse auch dankbar sein, denn sie hat uns ja eben diese große Kultur gebracht.
Wichtig ist es für uns jetzt aber, dieser Geschichte, aus der diese Kultur geboren ist, ins Gesicht zu spucken im übertragenen Sinne und eben zu sehen und zu entscheiden, in welcher Art wir mit dieser Kultur umgehen. Also über diesen Umgang mit der Kultur, mit dieser Geschichte geht dieses Buch, und wir müssen für uns entscheiden, als wessen Erben wir uns betrachten – als Erben der Meister oder als Erben der Henker.
Ich möchte ein Beispiel dafür geben, in welchem Zustand sich Russland befindet. Es ist ein humoristisches Beispiel, aber wir leben in einer ganz anderen Realität als die Deutschen. Sie leben in der Realität einer Zivilisation, in der jeder Mensch zu einem Beruf praktisch gehört, und wir leben in einem Märchen, wo die Menschen praktisch eine Rolle in diesem Märchen ausfüllen.
Hanselmann: Sie schreiben doch ziemlich harte Dinge, zum Beispiel: Russland hat die menschliche Natur immer verachtet. Sie schreiben von einer monströsen politischen Konstante der russischen Geschichte. Wie nehmen Sie denn das Verhältnis der Bevölkerung zur russischen Regierung heute wahr? Mit welchen Augen sieht man Führungspersönlichkeiten wie Medwedew oder Putin? Also ich will es mal anders sagen: Gibt es eine Art roten Faden vom Zaren oder der Zarin über Lenin und Stalin zu Putin und Medwedew?
Jerofejew: Unsere Geschichte ist auf Angst gebaut, das ist das Hauptthema der russischen Geschichte, die Regierung, das Regime, war immer ein Regime der Angst. Es hat nie einen Vertrag zwischen der Bevölkerung und den Regierenden gegeben, und die Bevölkerung hat vom Regime, von der Regierung nie Geld oder ähnliche Güter bekommen, sondern höchstens einmal Urlaub von der Hinrichtung. Vielleicht mag es sein, dass es auch in anderen Ländern schlechtere Seiten der Geschichte gibt, in Russland ist das Schlechte in der Geschichte dominierend gewesen, und wir haben weder im Osten noch im Westen ein Modell für unsere Regierung, für unseren Staat finden können und sitzen so zwischen den Stühlen. Wir haben diese Geschichte dennoch überlebt. Sie hat stattgefunden und wir haben sie überlebt, aber diese Geschichte hat apokalyptisch stattgefunden. Eine Apokalypse ist dann, wenn ein Drittel der Bevölkerung ums Leben kommt, und das ist bei uns im 20. Jahrhundert der Fall gewesen.
Und zu Putin und Medwedew: Wir wissen alle, dass das Staatswappen der russischen Förderation einen Adler zeigt, der zwei Köpfe hat, und das ist eine genaue Beschreibung unserer Situation. Der eine Kopf ist Medwedew, der andere ist Putin. Medwedew schaut nach Westen, Putin schaut ins Innere des Landes, schaut in Richtung der Tradition der Angst und der Repression. Das ist natürlich gut für die Literatur, denn so etwas lässt sich sehr schön beschreiben. Und wir können daher sagen, in diesem Sinne haben wir ein reiches Leben. Dennoch wünschte man sich, dass Russland mehr nach Westen, mehr auf Europa schauen möge.
Hanselmann: Sie meinen, die Doppelköpfigkeit ist gut für den Literaten als Beschreibung, aber nicht an sich für die Literatur in Russland. Sie sind ja ein lebendes Beispiel, Sie sind von nationalistischen Kräften in Russland bezichtigt worden, die große russische Sprache zu zerstören. 19 Professoren der Lomonossow-Universität, die Sie selbst 1970 absolviert haben, forderten vor einem Jahr, Sie sollten vor Gericht gestellt werden. Ging es dabei wirklich um Ihre Sprache?
Jerofejew: Ich habe nicht gesagt, dass es leicht ist für Schriftsteller, für Literaten in Russland, ich habe nur gesagt, dass es für sie interessant ist. Und Russland ist ein multikulturelles Land, und es gibt auch Leute, die Hass auf mich zum Beispiel empfinden, weil ich mit den Traditionen in Russland auf diese Art umgehe. Und hier ging es eben um die Universität, die ich selber absolviert habe, das ist meine Alma Mater, und diese Alma Mater hat sich vor meinen Augen in eine böse Schwiegermutter verwandelt. Und dieser Zwischenfall ist durch mein Buch "Die Enzyklopädie der russischen Seele" hervorgerufen worden, wo ich die Schwächen dieser Tradition aufzeige mit dem Gedanken, dass wenn Schwächen aufgezeigt werden, dann auch die Menschen zum Handeln bewegt werden, angestoßen werden können. Und so etwas gefällt nicht unbedingt allen, zum Beispiel eben diesen Professoren.
Hanselmann: Sie moderieren eine Fernsehshow im russischen Fernsehen, "Apokryph", eine Literatur- beziehungsweise Kultursendung – dürfen Sie sagen, was Sie denken?
Jerofejew: Das ist die freieste Sendung, die es im russischen Fernsehen gibt, und sie ist sehr beliebt. Wir beschäftigen uns dort mit den Werten in Russland. Dazu muss man sagen, dass Russland ein Land ist, das zweimal im letzten Jahrhundert seine Werte von Grund auf verloren hat – das war einmal im Jahr 1917 mit der Revolution und 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Russland schwimmt gleichsam in den Ruinen seiner Werte, und wir versuchen in dieser Sendung, diese Werte zu identifizieren und aufzubauen. Sie ist unglaublich populär, jeden Dienstag schauen ungefähr fünf Millionen Menschen zu. Natürlich versuchen wir dann in der russischen Tradition, in der russischen Geschichte, die internationalen Werte zu finden, auszumachen und sie zu besprechen.
Natürlich sind die Regierenden nicht immer zufrieden mit dieser Sendung, und es gab auch Versuche, sie abzusetzen. Da es aber nur um Werte geht und nicht um Politik, ist es uns bisher gelungen, das abzuwenden. Sie haben wahrscheinlich gemerkt, dass ich ein sehr europäischer Vertreter der russischen Literatur bin, und ich wünsche mir sehr, dass wir uns eher an Deutschland, an Frankreich, an Italien anlehnen – nicht in dem Sinne, dass wir wie Deutschland oder Frankreich oder Italien werden, sondern dass wir einfach den gleichen Weg gehen.
Hanselmann: Wir wollen nicht verheimlichen, dass Sie trotz all dem ein sehr humorvoller Mensch sind, das merkt man gleich im ersten Kapitel Ihres Buches, wenn es um die obszöne russische Vulgärsprache geht, den Mat. In einem anderen Kapitel Ihres Buches beschreiben Sie den russischen Humor sehr genau mit vielen Beispielen, mit vielen Witzen. Haben Sie zurzeit einen Witz, den es sich lohnt zu erzählen?
Jerofejew: Putin kommt mit seiner Entourage in ein Restaurant und hat sich hingesetzt. Der Kellner kommt herbeigeeilt und fragt: Was wünschen Sie? Putin antwortet: Fleisch. Und das Gemüse? Putin schaut sich um: Das Gemüse wird auch Fleisch nehmen.
Viktor Jerofejew: Ich bin bereits zum vierten Mal hier in Berlin auf dem Literaturfestival, das heißt, es gefällt mir hier. Und weswegen ich hierher komme und warum es mir gefällt, ist: Hier gibt es die Möglichkeit, sich mit Schriftstellern zu treffen, anzuschauen, was sie machen, und sich auszutauschen und sozusagen eine Weltkarte der Literatur für sich zu erstellen.
Hanselmann: Schwerpunkt in diesem Jahr ist Literatur des Ostens, viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus diesen Ländern sind hier. Gibt es so etwas wie ein gemeinsames Anliegen dieser Menschen, die schreibend aus dem Osten kommen?
Jerofejew: Natürlich gibt es Sachen, die die Schriftsteller hier verbindet, und zwar ist es die Haltung, die Bindung an die Werte im alten Europa. Das alte Europa wird Werte liefern in diese Länder, und die Frage wird sein, ob diese Werte aufgenommen werden, ob diese Werte abgelehnt werden. Und Schriftsteller sind eigentlich immer Revolutionäre, deswegen ist es ihre Aufgabe, hier bestimmte Sachen laut zum Ausdruck zu bringen.
Hanselmann: Welche Werte sind das, von welchen Werten sprechen Sie, die laut zum Ausdruck gebracht werden müssen?
Jerofejew: Das Wichtigste für uns ist natürlich das kulturelle Erbe, in Ländern wie zum Beispiel Deutschland oder Frankreich, aber nicht nur das Erbe an sich, sondern dass wir auch einen Dialog mit diesem Erbe führen. Ich habe den Eindruck, dass das alte Europa zu politisiert ist im Augenblick, dass es zu viele vereinzelte Diskussionen, Streitereien gibt – das ist wie ein großer Salat, wo dann jeder sich so sein Stückchen herauspickt und dann daran rumkaut. Eigentlich sollte man versuchen, einfach nur sich etwas zu beruhigen, sich auf etwas Gemeinsames zu besinnen.
Hanselmann: Wenden wir uns vielleicht kurz dem Salat in Ihrem eigenen Lande zu: Ihr letztes bei uns in Deutschland erschienene Buch trägt den Titel "Russische Apokalypse". Sie stellen dem Buch die Formulierung "Russland, das Land der siegreichen Apokalypse" voran, und statt eines Vorwortes einen Aufsatz mit der Überschrift "Fröhliche Hölle". Bitte beschreiben Sie uns, was Sie damit meinen!
Jerofejew: Das ist ein großes Thema, und dieses Thema kann man mit Humor behandeln oder man kann es mit Ernst angehen. Ich betrachte Russland vor allen Dingen als ein Gebilde der Kultur. Es hat große Schriftsteller – Dostojewski, Tolstoi – Komponisten, und diese Kultur, diese Meister gehören allen. Die gehören den Deutschen, den Russen, den Amerikanern und anderen. Allerdings ist diese Kultur auf einer Geschichte gewachsen, die voller Leiden steckt einerseits und andererseits eine Apokalypse auch darstellt, und wir sollten vielleicht für diese Apokalypse auch dankbar sein, denn sie hat uns ja eben diese große Kultur gebracht.
Wichtig ist es für uns jetzt aber, dieser Geschichte, aus der diese Kultur geboren ist, ins Gesicht zu spucken im übertragenen Sinne und eben zu sehen und zu entscheiden, in welcher Art wir mit dieser Kultur umgehen. Also über diesen Umgang mit der Kultur, mit dieser Geschichte geht dieses Buch, und wir müssen für uns entscheiden, als wessen Erben wir uns betrachten – als Erben der Meister oder als Erben der Henker.
Ich möchte ein Beispiel dafür geben, in welchem Zustand sich Russland befindet. Es ist ein humoristisches Beispiel, aber wir leben in einer ganz anderen Realität als die Deutschen. Sie leben in der Realität einer Zivilisation, in der jeder Mensch zu einem Beruf praktisch gehört, und wir leben in einem Märchen, wo die Menschen praktisch eine Rolle in diesem Märchen ausfüllen.
Hanselmann: Sie schreiben doch ziemlich harte Dinge, zum Beispiel: Russland hat die menschliche Natur immer verachtet. Sie schreiben von einer monströsen politischen Konstante der russischen Geschichte. Wie nehmen Sie denn das Verhältnis der Bevölkerung zur russischen Regierung heute wahr? Mit welchen Augen sieht man Führungspersönlichkeiten wie Medwedew oder Putin? Also ich will es mal anders sagen: Gibt es eine Art roten Faden vom Zaren oder der Zarin über Lenin und Stalin zu Putin und Medwedew?
Jerofejew: Unsere Geschichte ist auf Angst gebaut, das ist das Hauptthema der russischen Geschichte, die Regierung, das Regime, war immer ein Regime der Angst. Es hat nie einen Vertrag zwischen der Bevölkerung und den Regierenden gegeben, und die Bevölkerung hat vom Regime, von der Regierung nie Geld oder ähnliche Güter bekommen, sondern höchstens einmal Urlaub von der Hinrichtung. Vielleicht mag es sein, dass es auch in anderen Ländern schlechtere Seiten der Geschichte gibt, in Russland ist das Schlechte in der Geschichte dominierend gewesen, und wir haben weder im Osten noch im Westen ein Modell für unsere Regierung, für unseren Staat finden können und sitzen so zwischen den Stühlen. Wir haben diese Geschichte dennoch überlebt. Sie hat stattgefunden und wir haben sie überlebt, aber diese Geschichte hat apokalyptisch stattgefunden. Eine Apokalypse ist dann, wenn ein Drittel der Bevölkerung ums Leben kommt, und das ist bei uns im 20. Jahrhundert der Fall gewesen.
Und zu Putin und Medwedew: Wir wissen alle, dass das Staatswappen der russischen Förderation einen Adler zeigt, der zwei Köpfe hat, und das ist eine genaue Beschreibung unserer Situation. Der eine Kopf ist Medwedew, der andere ist Putin. Medwedew schaut nach Westen, Putin schaut ins Innere des Landes, schaut in Richtung der Tradition der Angst und der Repression. Das ist natürlich gut für die Literatur, denn so etwas lässt sich sehr schön beschreiben. Und wir können daher sagen, in diesem Sinne haben wir ein reiches Leben. Dennoch wünschte man sich, dass Russland mehr nach Westen, mehr auf Europa schauen möge.
Hanselmann: Sie meinen, die Doppelköpfigkeit ist gut für den Literaten als Beschreibung, aber nicht an sich für die Literatur in Russland. Sie sind ja ein lebendes Beispiel, Sie sind von nationalistischen Kräften in Russland bezichtigt worden, die große russische Sprache zu zerstören. 19 Professoren der Lomonossow-Universität, die Sie selbst 1970 absolviert haben, forderten vor einem Jahr, Sie sollten vor Gericht gestellt werden. Ging es dabei wirklich um Ihre Sprache?
Jerofejew: Ich habe nicht gesagt, dass es leicht ist für Schriftsteller, für Literaten in Russland, ich habe nur gesagt, dass es für sie interessant ist. Und Russland ist ein multikulturelles Land, und es gibt auch Leute, die Hass auf mich zum Beispiel empfinden, weil ich mit den Traditionen in Russland auf diese Art umgehe. Und hier ging es eben um die Universität, die ich selber absolviert habe, das ist meine Alma Mater, und diese Alma Mater hat sich vor meinen Augen in eine böse Schwiegermutter verwandelt. Und dieser Zwischenfall ist durch mein Buch "Die Enzyklopädie der russischen Seele" hervorgerufen worden, wo ich die Schwächen dieser Tradition aufzeige mit dem Gedanken, dass wenn Schwächen aufgezeigt werden, dann auch die Menschen zum Handeln bewegt werden, angestoßen werden können. Und so etwas gefällt nicht unbedingt allen, zum Beispiel eben diesen Professoren.
Hanselmann: Sie moderieren eine Fernsehshow im russischen Fernsehen, "Apokryph", eine Literatur- beziehungsweise Kultursendung – dürfen Sie sagen, was Sie denken?
Jerofejew: Das ist die freieste Sendung, die es im russischen Fernsehen gibt, und sie ist sehr beliebt. Wir beschäftigen uns dort mit den Werten in Russland. Dazu muss man sagen, dass Russland ein Land ist, das zweimal im letzten Jahrhundert seine Werte von Grund auf verloren hat – das war einmal im Jahr 1917 mit der Revolution und 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Russland schwimmt gleichsam in den Ruinen seiner Werte, und wir versuchen in dieser Sendung, diese Werte zu identifizieren und aufzubauen. Sie ist unglaublich populär, jeden Dienstag schauen ungefähr fünf Millionen Menschen zu. Natürlich versuchen wir dann in der russischen Tradition, in der russischen Geschichte, die internationalen Werte zu finden, auszumachen und sie zu besprechen.
Natürlich sind die Regierenden nicht immer zufrieden mit dieser Sendung, und es gab auch Versuche, sie abzusetzen. Da es aber nur um Werte geht und nicht um Politik, ist es uns bisher gelungen, das abzuwenden. Sie haben wahrscheinlich gemerkt, dass ich ein sehr europäischer Vertreter der russischen Literatur bin, und ich wünsche mir sehr, dass wir uns eher an Deutschland, an Frankreich, an Italien anlehnen – nicht in dem Sinne, dass wir wie Deutschland oder Frankreich oder Italien werden, sondern dass wir einfach den gleichen Weg gehen.
Hanselmann: Wir wollen nicht verheimlichen, dass Sie trotz all dem ein sehr humorvoller Mensch sind, das merkt man gleich im ersten Kapitel Ihres Buches, wenn es um die obszöne russische Vulgärsprache geht, den Mat. In einem anderen Kapitel Ihres Buches beschreiben Sie den russischen Humor sehr genau mit vielen Beispielen, mit vielen Witzen. Haben Sie zurzeit einen Witz, den es sich lohnt zu erzählen?
Jerofejew: Putin kommt mit seiner Entourage in ein Restaurant und hat sich hingesetzt. Der Kellner kommt herbeigeeilt und fragt: Was wünschen Sie? Putin antwortet: Fleisch. Und das Gemüse? Putin schaut sich um: Das Gemüse wird auch Fleisch nehmen.