Bindungsscheue Figuren in einem Mammutwerk

Von Bernhard Doppler |
Lange galt der sowjetische Komponist Mieczyslaw Weinberg, Schüler Schostakowitschs, als überholt. Jetzt kommt "Der Idiot" nach dem Roman von Dostojewski das erste Mal als vierstündige Fassung auf die Bühne. Die späte Uraufführung zeigt eine große Oper. Die Dreiecksgeschichte zeichnet abgründige Figuren, die zugleich Geborgenheit suchen.
Am unheimlichsten: die zärtliche Schlussszene der beiden Männer vor der Leiche von Nastassja, die beide Männer leidenschaftlich geliebt hatten: der Kaufmann Rogoshin und Fürst Myschkin, der "Idiot". Rogoshin hat Nastassja aus Eifersucht erstochen, doch Fürst Myschkin, der die "verkommene" Nastassja "erlösen" wollte, verzeiht ihm; er versteht seinen Freund, auch wenn dieser seine Braut ermordet hatte.

Als 1991, ganz am Ende der Sowjetunion, Mieczyslaw Weinbergs Oper nach Dostojewskijs Roman in einer sehr verkürzten Fassung in der Moskauer Kammeroper vorgestellt wurde, war diese Oper in der Musiksprache von Weinbergs Lehrer und Mentor Dimitrij Schostakowitsch wohl schon lang überholt (Dennisow, Schnittke, Gubaidulina bestimmten die russische zeitgenössische Musik). Der inzwischen alte und kränkliche Komponist war in seinen letzten Lebensjahren während der Perestroika fast völlig in Vergessenheit geraten. Erst mit der Inszenierung von Weinbergs wichtigster Oper "Die Passagierin" bei den Bregenzer Festspielen 2010 hat sich die Einschätzung geändert: Weinberg ist als einer der bedeutendsten sowjetischen Komponisten wiederentdeckt. Mit der verstärkten Etablierung von Schostakowitsch im klassischen Opernrepertoire scheinen nun auch Weinbergs theaterwirksame Opern an Interesse zu gewinnen.

In der Tat kann man das in Mannheim erstmals zur Gänze gezeigte, über vier Stunden lange Mammutwerk "Der Idiot", Weinbergs letzte Oper, als Weiterführung von Schostakowitschs Operndramaturgie sehen. In bisweilen grotesken zynischen Zuspitzungen wird ein Psychogramm von abgründigen Figuren vorgeführt, voller Ambivalenzen, sie suchen Geborgenheit und sind gleichzeitig bindungsscheu. Verachtung und Mitleid, Eifersucht und Verehrung, Liebe und Hass liegen nebeneinander.

Weinbergs Oper kann auf eine überzeugende Bearbeitung des Romans durch den Librettisten Alexander Medwedjew zurückgreifen: Sie ist überwiegend im Konversationsstil komponiert, geht aber immer wieder in ariose Teile über, unterbricht durch Unterhaltungsmusik, und pointiert die Szene bisweilen durch expressive Ausbrüche des "Idioten"; vor allem aber: Weinbergs Musik kommentiert das Geschehen distanziert, intellektuell. Eine vernebelnde spirituelle Interpretation - die ja auch möglich wäre, wenn man im "Idioten" eine christusähnliche Erlöserfigur sieht - ist Weinberg fern.

Die Regisseurin Regula Gerber hat die Handlung - in zeitgenössischen Theaterkostümen, in zehn Bildern, auf der Drehbühne fragmentarisch angedeutet - sehr geschickt auf die Bühne gesetzt. Unterstützt von Videoeinspielungen setzt sie schließlich immer mehr die Figuren als Archetypen in Szene; und kann dabei auf sehr intensive Sängerdarsteller bauen, insbesondere Dmitry Golovnin als Fürst Myschkin, doch auch Steven Scheschareg als Rogoshin, Anne-Theresa Møller und Ludmilla Slepneva als gegensätzliche, konkurrierende Frauen bewältigen nicht nur stimmlich souverän ihre Rollen. Lars Møller kommentiert und integriert als sensationslüsterner Mitmacher Lebedjew und Elzbieta Ardam fürchtet lauthals, dass ihre Töchter atheistisch werden können.

Dass Weinbergs späte Uraufführung seiner großen Dostojewskij-Oper so überzeugend und trotz der Länge spannungsreich gelang, ist wohl dem souveränen Dirigat von Thomas Sanderling zu danken. Ihm, einem Kenner des russischen Musiktheaters, vertrauten sich Musiker und Zuhörer gerne an.

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