Tag der Biodiversität

Die Tierwelt sichert unser Überleben

04:44 Minuten
Großaufnahme einer Stechmücke, die auf menschlicher Haut sitzt.
Jedes Lebewesen übernimmt eine Funktion im Ökosystem - auch die nervigen Mücken. © picture alliance / imagebroker / G. Lacz
Ein Kommentar von Fritz Habekuß · 22.05.2024
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Die biologische Vielfalt ist entscheidend für das Gleichgewicht der Ökosysteme, doch sie ist bedroht: Das Artensterben ist so groß wie nie. Unser Autor Fritz Habekuß zeigt auf, warum wir keinen Unterschied zwischen Mücken und Walen machen sollten.
Neulich hat mich ein Freund gefragt: "Wer braucht eigentlich Mücken? Mal ehrlich: Wozu sind die gut?" Er meinte das ernst. Ich fragte dann zurück: "Wer braucht Orang-Utans? Oder Störche? Was hat der Blauwal je für uns getan?" Das sei ja etwas anderes, gab er zurück.
Manche Tiere sind uns näher als andere. Einige sogar so nah wie Verwandte. Vor 40.000 Jahren – damals gab es noch Neandertaler – schnitzte jemand einen löwenköpfigen Menschen aus Mammutelfenbein und ließ ihn in einer Höhle zurück. Tiere sind seit frühester Urzeit nicht nur unsere Nahrung (und wir ihre), sondern unsere Begleiter.

Tiefe Verbindung zu Tieren

Denn an Computern arbeiten wir erst seit zwei Generationen. Seit der Industriellen Revolution, die unsere Vorfahren zu Fabrikarbeiter:innen machte, sind zehn Generationen vergangen. Doch vorher bestellten wir hunderte Generationen lang Felder und züchteten Tiere. Und davor gingen wir sammelnd und jagend durch die Welt, für zehntausende Generationen.
Wer überleben wollte, musste Tiere beobachten. Ein Mensch zu sein bedeutete, ein genaues Verständnis für die Bewegungen einer Rinderherde, die Muskeln einer fliehenden Hirschflanke oder die Kopfbewegung eines hungrigen Löwens zu haben. Unsere Verbindung zu Tieren ist uns tief ins Mark, in jede Faser unseres Körpers geschrieben.
In westlichen Gesellschaften mag das in Vergessenheit geraten sein, ist aber nicht zu verleugnen, weshalb Umweltschutzorganisationen Pandas oder Tiger auf ihre Plakate drucken, weshalb das Theaterpublikum aufmerkt, wenn plötzlich ein echtes Tier auf die Bühne kommt, so wie neulich eine Kuh beim Abschied von René Pollesch in der Berliner Volksbühne. Es sind Momente, die ihre Kraft aus der uralten Beziehung zwischen uns und dem nicht-menschlichen Leben ziehen.

Gemeinschaft statt Ressource

Die deutsche Sprache, und auch die englische, stoßen beim Versuch, das zu erfassen, an ihre Grenzen. Schon die Unterscheidung in die Kategorien "menschlich" und "nicht-menschlich": Das Tierische wird definiert als Abwesenheit des Menschlichen, also als ein Defizit. Viele indigene Kulturen hingegen haben einen anderen Umgang.
Die Völker der Arktis etwa müssen Tiere essen, um in der Welt aus Eis überleben zu können. Eine der ältesten Geschichten Grönlands handelt von der Mutter des Meeres, die zur Strafe für die Frevel der Menschen die Robben, Caribous, Wale und Fische mit ihren Haaren einfing und so Hunger über die Menschen brachte – erst als jemand zu ihr hinab tauchte, ihr wildes Haar kämmte und so das Gleichgewicht wieder herstellte, gab sie die Tiere frei.
Die Umwelthistorikerin Bathsheba Demuth beschreibt die enge Verbindung der arktischen Völker der Yupik und der Iñupiak zu den Grönlandwalen: Seit Jahrtausenden jagen sie die Tiere. Dennoch sahen sie die Wale nie als Ressource, sondern als Gemeinschaft an, die vom Meer aus die Menschen an Land beobachtete – und bewertete.
Erlegen ließen sich die Wale nur von denen, die sich anständig verhielten. Wer gegen die Regeln der Gemeinschaften verstieß, dessen Harpune verfehlte sein Ziel und dessen Dorf blieb hungrig. Die "Nation der Wale", eine Gemeinschaft unter Wasser, bestimmte die Moral und die Werte der Menschen an Land.

Tiere halten uns einen Spiegel vor

Wozu also brauchen wir Tiere? Weil wir ohne sie nicht überleben können. 
Die Völker der Arktis benutzten die Kieferknochen von Walen wie Holzbalken. Es ist keine Metapher zu sagen, dass sie im Kopf von Walen gelebt haben. Und genauso leben Tiere auch in unseren Köpfen, sie sind die Helden unserer Geschichten, sie begegnen uns in unseren Träumen. Wir interessieren uns für sie, weil sie uns einen Spiegel vorhalten: nicht nur, indem sie uns sagen, wer wir sind – sondern auch, wer wir sein könnten.
Und die Mücken? Wer braucht sie? Dazu fragen Sie am besten mal eine Fledermaus oder eine Schwalbe.

Fritz Habekuß, Jahrgang 1990, ist Redakteur und Korrespondent der "Zeit"Er berichtet in seinen Reportagen weltweit über Umwelt- und Klimathemen, das Anthropozän sowie das Verhältnis von Mensch und Natur. Er ist außerdem Moderator und Gastgeber der Reihe „Entering the Anthropocene“, organisiert die „Lindenberger Frühlingskonzerte“ in seinem Heimatdorf in Brandenburg und ist Co-Autor des Sachbuch-Bestsellers „Über Leben“. 

Der Journalist Fritz Habekuß.
© Kasia Kim-Zacharko
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