Manfred Flügge, Das Jahrhundert der Manns
Aufbau-Verlag, Berlin 2015
416 Seiten, 22,95 Euro
Ein unsentimentaler Blick auf die Manns
Spätestens seit den "Buddenbrooks" stand nicht mehr nur allein Thomas Mann, sondern die Familie Mann im Fokus der Öffentlichkeit. Und viele Manns haben dann auch die Familiengeschichte zum Thema ihrer Kunst gemacht. Manfred Flügge widmet ihnen eine Gruppenbiographie.
Wann ist Zeitgenossenschaft repräsentativ? Thomas Mann zumindest hat nach „Buddenbrooks" hart daran gearbeitet, seiner Existenz repräsentativen Charakter zuschreibbar zu machen. In Essays hat er bei Äußerungen zu Fragen der Zeit sein eigenes Leben als Folie genutzt und Stichworte für die Deutung seiner Biographie platziert. Der Höhepunkt dieser symbolischen Verknüpfungen ist der während des ersten Weltkrieges entstandene Essay „Betrachtungen eines Unpolitischen", in dem er nicht nur sich zum Vertreter des national gesinnten Bürgertums stilisiert, sondern auch seinen Bruder Heinrich, der sich in die französische republikanische Tradition gestellt hatte, als großen weltanschaulichen Antipoden zu entlarven und zu überführen versucht.
Der Streit der beiden Brüder in der Öffentlichkeit war tatsächlich eine Auseinandersetzung, die für viele Deutsche im Ersten Weltkrieg und danach einen Orientierungspunkt gebildet hat. Doch nicht dieser von der Seite Thomas Manns verbissen geführte politische Meinungsstreit zwischen den großen Schriftstellerbrüdern sei der Grund für den repräsentativen Charakter der Familie Mann, behauptet der Biograph und Publizist Manfred Flügge in seiner Familienbiographie „Das Jahrhundert der Manns", sondern die Erfahrung des Exils.
Einfühlsame Porträts von Carla, der Schwester von Heinrich und Thomas
Und er hat Recht. Zumindest insofern, als aus dem Land fliehen zu müssen, in dem man sich heimisch, als dessen Teil man sich gesehen hat, Wohnort und Besitz zu verlieren, sich auf eine ziellose Reise begeben, Pässe und Passagen organisieren zu müssen, Erfahrungen sind, die alle Mitglieder der Familie Mann mit vielen Künstlern, Juden und anderen Flüchtlingen geteilt haben. Der Bruch, der die deutsche Kultur im 20. Jahrhundert geteilt hat, geht auch durch die Biographien der fünf Geschwister Heinrich und Thomas, Clara, Julia und Victor und ihrer Kinder. Und nicht nur haben fast alle diese Erfahrungen literarisch verarbeitet, die meisten von ihnen haben sich auch politisch engagiert: Heinrich Mann schreibt gegen den Krieg und beschwört den Sozialismus, Thomas Mann hält Radioreden an das deutsche Volk in der BBC, seine Söhne Klaus und Golo geben Exilzeitschriften heraus, seine Tochter Erika hält Vorträge.
Der erfahrene Biograph und Publizist Manfred Flügge erzählt sowohl die Lebensläufe, als auch den literarischen Werdegang der Autorenfamilie. Er bewegt sich souverän in dem umfangreichen Material, hat sich vertraut gemacht mit den Werken auch der wenig prominenten Mitglieder des Clans, etwa denen von Monika Mann, der bei Eltern und Geschwistern nicht gut gelittenen mittleren Tochter Thomas Manns, und besitzt einen nicht nur sicheren, sondern auch eigenen Zugriff zu den Persönlichkeiten und Werken. So bietet er einfühlsame Porträts von Carla, der Schwester von Heinrich und Thomas, und der begabten und forschen ältesten Tochter Thomas Manns Erika, liefert eine interessante Einschätzung des politischen publizistischen Engagements Heinrich Manns, dessen präzise Kenntnisse ebenso gering waren, wie seine Ansichten schwankend und seine Bereitschaft, ins Schwärmen zu geraten, groß, und einen verständnisvollen, aber unsentimentalen Blick auf Thomas Mann. Lesenswert ist auch seine Skizze der Interessen des Historikers Golo Mann, der mit seiner Geschichte Deutschlands und seiner Wallenstein-Biographie in den siebziger Jahren großen Erfolg hatte.
Die Bedeutung des Exils für die Repräsentativität der Lebensläufe der Autorenfamilie Mann veranschlagt der Exil-Forscher Manfred Flügge als zu hoch, denn die literarischen Wege der drei großen Autoren Heinrich, Thomas und Klaus haben in anderen Kontexten begonnen, doch den besonderen Reiz bezieht seine Darstellung neben der gebotenen, profunden Einführung in die bürgerlich-künstlerische Sphäre in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade aus dieser Perspektive.