Peter Brandt: Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt
Dietz Verlag, Bonn, 2013
280 Seiten, 24,90 Euro
Im Dienst demokratischer Politik
Spannend und plausibel beschreibt sein Sohn Peter die politische Entwicklung Willy Brandts vom linken Kritiker zum "Entspannungspolitiker". Ebenso gewinnbringend erzählt: die eigenen Annäherungen und Verwerfungen mit dem starken Vater.
Als ein freier Mann, so kommt uns Willy Brandt, dessen 100. Geburtstag sich gerade publizistisch niederschlägt, in dem biografischen Essay von Peter Brandt entgegen. Der Autor, Jahrgang 1948, ist Willy Brandts ältester Sohn und hat sein Buch als "Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt“ überschrieben.
Diese Bescheidenheit ist Programm, denn immer wieder rückt Peter Brandt, der als Historiker an der Fernuniversität Hagen lehrt, die Verhältnisse zweifelnd und fragend zurecht. Gerade darin ist er seinem berühmten Vater womöglich ähnlich. Dessen Regierungsstil beschreibt der Autor als "vorsichtige, oft zögerliche Steuerung des Großtankers SPD“, die zumal in den schwierigen 1970er- und 1980er-Jahren Früchte getragen habe: Damals habe Willy Brandt als SPD-Vorsitzender "in manchen Fragen der Linken, in anderen der Rechten innerhalb der SPD“ nahegestanden und gerade deshalb "vielleicht nicht über den Wassern, aber über den Flügeln“ schweben können.
Doch so weit musste Willy Brandt erst einmal kommen. Sohn Peter beschreibt auf rund 270 Seiten die politische Entwicklung als in sich stimmig. Spannend erzählt Peter Brandt zunächst vom "klassischen Arbeiterkind“ Willy Brandt, der sich Bildung und "Klassenbewusstsein“ hart erkämpfen musste, sich früh politisch engagierte und dabei einen zunächst radikal linken Kurs einschlug. Nebenbei wird die immense politische – und übrigens auch sprachliche – Begabung Willy Brandts deutlich: Er war noch keine 18, als ihn die SPD als Mitglied aufnahm, er war erst Anfang 20, als er im norwegischen Exil massiven politischen Einfluss nahm.
Zwar übten die skandinavischen Sozialisten und Sozialdemokraten einen entscheidenden Einfluss auf Brandt aus. Rasch prägte aber auch dieser seine neue Heimat: Er arbeitete intensiv (auf Norwegisch!) als Publizist und hatte offenbar sogar Anteil daran, dass der Friedensnobelpreis 1936 an Carl von Ossietzky ging. Viel ist über Brandts quasi-geheimdienstlichen Aktivitäten geschrieben worden, über seine heimlichen Aufenthalte in demokratischer Sache während der faschistischen Herrschaft in Deutschland und im Bürgerkriegsspanien – wer dies alles in der knappen und analytischen Form bei Peter Brandt liest, kommt nicht umhin, dieses leidenschaftliche Leben im Dienst demokratischer Politik mit dem Leben flüchtiger Politik-Stars von heute (zu Guttenberg ...) zu vergleichen.
In seiner Fairness und Dezens bestechend
Plausibel macht Peter Brandt die vielfältigen "Häutungen" von Willy Brandt: Vom linken, äußerst kapitalismuskritischen Emigranten zum "patriotischen“ regierenden Bürgermeister von West-Berlin, dem Ernst Reuter näherstand als der SPD-Chef Schumacher. Vom umsichtigen Städtelenker und Anti-Kommunisten im Kalten Krieg zum "Entspannungspolitiker" der 1960er- und 1970er-Jahre – als Außenminister, dann Bundeskanzler einer sozialliberalen Koalition. Peter Brandt ist fair genug, die Verdienste der "Köpfe“ um Willy Brandt – allen voran Egon Bahr und Klaus Schütz – zu würdigen, aber er findet auch Zeit, die eigenen Annäherungen und Verwerfungen mit dem starken Vater gewinnbringend für die Leser zu thematisieren.
Dazu gehören vor allem die Diskussionen, die der Geschichtsstudent Peter Brandt, der sich in radikaleren linken Strömungen bewegte, mit seinem Vater während des Vietnam-Krieges führte. Bezeichnend für die Bescheidenheit des Autors ist hier, dass er einen besonders aufschlussreichen Brief, den er an seinen Vater schrieb, dem Biografen Torsten Körner für dessen Buch ("Die Familie Willy Brandt“) überließ, während er sich im eigenen Buch darauf beschränkt zu erwähnen, er habe seinen Vater immer der eigenen Loyalität versichert – gleichzeitig aber auf sein Recht zur Kritik an dessen Politik bestanden.
Das schöne Maß des Buches, das in seiner Fairness und Dezenz besticht, wird nur an einer Stelle gestört, ausgerechnet, als es um den umstrittenen "Radikalenerlass“ geht, den Willy Brandt vorgeblich mittrug, weil man nur auf diese Weise ein generelles DKP-Verbot habe umgehen können. Peter Brandt war selbst einer jener Studenten, die sich vor einem der unseligen Ausschüsse befragen lassen musste, also "in die Schnüffelmaschinerie“ geriet. Es ist zwar nobel, aber verständlich, dass er den Vater hier in Schutz nimmt.
Enorm erhellend jedoch fasst das konzentrierte Buch am Ende die Leistungen Willy Brandts zusammen und wertet sie: Hier hebt Brandt besonders die Öffnung von Gesellschaft und Wirtschaft hervor. Auch die Tatsache, dass die Demokratie in Deutschland und überhaupt in Europa mittlerweile untrennbar "an einen avancierten Sozialstaat gebunden“ sei, schreibt er der Sozialdemokratie zugute. Ebenso die "Zivilisierung von staatlichen Organen“, den "symbolischen Abbau von Hierarchien“, den "soziokulturellen Wertewandel“.
Da hat Peter Brandt bereits die Umgestaltung des Ost-West-Verhältnisses ausführlich und packend diskutiert. Abschließend stellt er die Frage, ob Brandts Methode der Konfliktbearbeitung und seine Vorschläge zur Gestaltung des Nord-Süd-Verhältnisses nicht Lehren vermitteln, "die bei den gegenwärtigen Krisen und Kriegen Auswege weisen“ könnten. In einem biografischen Essay muss ein solcher Satz den Schlusspunkt bilden. In den politischen Überlegungen des Historikers Peter Brandt jedoch könnten sie den Auftakt zu einem neuen Buch bilden, frei nach dem Motto: "Willy Brandt – und die Lehren für die Zukunft“. Dass man auf ein solches Buch tatsächlich gespannt warten würde, ist kein geringes Lob für den Autor Peter Brandt.