Jon Savage: "This Searing Light, the Sun and Everything Else: Joy Division: The Oral History"
Verlag Faber and Faber, London 2019
272 Seiten, 20,53 Euro
Die Band, die sich nie in Posen verlor
Joy Division zählt zu den einflussreichsten Bands im Pop. Eine Oral History erzählt nun die Geschichte der Gruppe. "Alles lief auf einen großen Knall hinaus", sagt der Autor und Musikjournalist Jon Savage.
Vivian Perkovic: Vor fast 40 Jahren hat sich Ian Curtis das Leben genommen. Damit war auch seine Gruppe Joy Division Geschichte, wenngleich sie bis heute junge Bands beeinflusst. Warum erscheint Ihre Oral History erst jetzt?
Jon Savage: Bücher kommen raus, wenn sie soweit so sind. Die haben ihren eigenen Rhythmus. Und jetzt war es an der Zeit, glaube ich. Vor zwölf Jahren war ich an einem Film beteiligt, der Name "Joy Division Documentary". Damals haben wir viele Interviews mit den verbliebenen Bandmitgliedern geführt. Und wie das so beim Film ist: Am Ende verwendet man nur zehn Prozent. Also habe ich mich dazu entschieden, aus dem Material noch ein Buch zu machen. Dafür habe ich dann aber auch noch ein paar andere Leute interviewt.
Nur vier Jahre Bandgeschichte
Perkovic: Also Sie sagen, Sie haben Rohmaterial aus der Filmdokumentation benutzt. Aber es tauchen ja auch Interview- oder Passagen auf von Ian Curtis, und von anderen wichtigen Figuren der Manchester-Szene, die noch viel älter sind. Also wie haben Sie dann diese Material, das Sie hatten, angeordnet? Wie funktioniert das?
Savage: Ganz einfach. Ich bin ein guter Redakteur. Es war relativ leicht, die Reihenfolge festzulegen. Einerseits ist die Geschichte natürlich harter Tobak, weil sie in einer Tragödie endet.
Andererseits dauert sie nur vier Jahre, weil es die Band eben nur so lange gab, vielleicht sogar nur drei, wenn man es genau nimmt. Wenn man diese Geschichte chronologisch erzählt, ist es recht einfach, auch 30 Jahre alte Interviews unterzubringen.
Und es gibt ja auch diesen Zeitstrahl im Buch, der die Ereignisse zusätzlich ordnet. Der grobe Ablauf also war schnell klar. Was dann noch lange gedauert hat, war, die Interviewpassagen zu kürzen und anzupassen.
Keine guten Therapien gegen Epilepsie
Perkovic: Sie haben jahrzehntelang im Umfeld von Joy Divison verbracht. Sie wollten nicht richtig befreundet sein mit der Band wegen Ihrer journalistischen Distanz. Aber als Sie das jetzt alles noch mal versammelt haben, was hat diese Oral History Ihnen enthüllt, das Sie bisher nicht wussten oder so in dem Zusammenhang nicht gesehen haben, obwohl Sie so nah dran waren?
Savage: Ich kann jetzt besser verstehen, weshalb Ian Curtis letztlich Suizid begangen hat. Vorher war mir nicht klar, wie ernst seine Epilepsieanfälle waren. Die waren wirklich heftig. Und ich habe gelernt, wie schlecht die Therapien damals in den 70ern waren. Das hat mir die Augen geöffnet. In den letzten zwei bis drei Monaten seines Lebens befand sich Ian in einer stetigen Abwärtsspirale, alles lief auf einen großen Knall hinaus.
Toll an den Gesprächen war, dass die Bandmitglieder immer wieder betont haben, dass sie Kunst gemacht haben. Die waren nicht in der Band, weil sie Karriere machen wollten. Die wollten sich ausdrücken, auf einem hohen Niveau.
Manchester spielt eine große Rolle
Perkovic: Sie waren auch ein Produkt ihrer Umgebung, natürlich. Und damit beginnt Ihr Buch. Sie starten mit Zitaten oder mit etwas, das Tony Wilson gesagt hat, der Gründer von Factory Records und später des berühmten Hacienda in Manchester. Und er charakterisiert diese Stadt und die sie umgebenden kleineren Städte, die ganze Psychogeografie vom 19. Jahrhundert, also vom Beginn der Industrialisierung vorwärts. Wie hat denn Manchester und eben die umgebenden Städte – wie hat das Joy Division geprägt und geformt?
Savage: Als ich im April 1979 nach Manchester gezogen bin, um mit Tony Wilson zu arbeiten, war die Stadt für mich Neuland. Zu der Zeit habe ich mir oft das Album "Unknown Pleasures" von Joy Division angehört. Und die Platte hat mir sehr geholfen, mich in Manchester zurechtzufinden. Und ich habe durch die Platte Manchester verstanden.
Joy Division waren ein Produkt ihrer Zeit und ihrer Herkunft. Die Stadt spielt in ihrem Werk eine große Rolle, insbesondere im Song "Shadowplay", mit der Zeile: "Ins Zentrum der Stadt, wo sich alle Straßen treffen, wo ich auf dich warte."
Und natürlich war die Band auch in der Stadt selbst sehr bekannt. Die Stadt hat die Musiker sehr geprägt, ihre Art zu denken. Und sie sind ja auch immer in Manchester geblieben, die sind nicht nach London gegangen. Ich glaube, das lag an der großen Indie-Szene in der Stadt, die ja losging mit den Buzzcocks und ihrer EP "Spiral Scratch" von 1977.
1979 gab es schon vier Indie-Labels in der Stadt: New Hormones, Rabid Records, Object Music and Factory. Es gab also eine sehr lebendige lokale Musikwirtschaft. Und ich glaube, das war sehr wichtig.
"Musik ist eher der Gegensatz zu Totalitarismus"
Perkovic: Geschichte hat sich auch nochmal anders manifestiert in der Band, nämlich im Namen selbst: Joy Division, also die "Freudenabteilung" oder "Freudendivision", steht für die Teile der Konzentrationslager des Zweiten Weltkriegs, wo weibliche Gefangene zur Prostitution für Nazi-Soldaten gezwungen wurden. Und diese Nazi-Anspielungen, die ziehen sich auch bei Joy Division durch. Was sagt uns all das über Joy Divisions politische Haltung, was ist diese ständige Anspielung zu Nazi-Symbolen?
Savage: Joy Division waren ganz sicher keine Nazis. Verschiedene Dinge haben allerdings eine Faszination bei ihnen ausgelöst. Und in Großbritannien hat man sich damals viel mit der dunklen Seite des Zweiten Weltkriegs auseinandergesetzt, auch damit, dass die Briten selbst Faschisten waren.
Das hatte auch damit zu tun, weil viele Briten das Gefühl hatten, zu den Verlieren zu gehören. Man darf nicht vergessen, dass es im Großbritannien der 70er viel Verfall gab, eine hohe Arbeitslosigkeit.
Aber zurück zu Joy Division: Die haben ein Konzert gegen Rechts gespielt, die waren keine Nazis. Punk hat ja immer mit Nazi-Symbolik geflirtet, aber aus sehr wenigen Punks wurden später Nazis. Als sie erstmal verstanden haben, woran sie da sind, haben sie damit aufgehört. Und die meisten Musiker sind nicht autoritär. Musik ist eher der Gegensatz zu Totalitarismus.
Joy Division berühren bis heute
Perkovic: Das war nur zur Provokation?
Savage: Ja. Ich glaube, sie wollten provozieren. Sie fühlten sich angezogen von der dunklen Seite. Aber da hat sich die Haltung auch schnell geändert, vor allem bei Ian Curtis.
Perkovic: Kurz vor dem 40. Bandgründungsjubiläum: Als Sie sich jetzt nochmal intensiv mit dieser Geschichte befasst haben, was sagt uns denn die Geschichte dieser Band, das Beispiel dieser Musik, für unsere heutige Zeit?
Savage: Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich finde es toll, dass sich heute noch Leute für Joy Division interessieren. Es ist ein kleines Wunder, dass Joy Division immer noch bekannt sind. Ich glaube, das liegt daran, dass die Musik einfach ziemlich gut ist. Sie ist mitreißend und sehr intensiv. Und das mögen junge Leute eben. Und Joy Division haben sich nie in Posen verloren. Die haben wirklich gemeint, was sie gemacht haben. Sie waren ganz sie selbst. Und ich glaube, das berührt heute noch viele.