Barbara Sichtermann: Agatha Christie. Biografie
Osburg Verlag, Hamburg 2020
300 Seiten, 24 Euro
Die Frau, die zwei Milliarden Bücher verkaufte
11:23 Minuten
Agatha Christie war gern Hausfrau – hauptberufliche Schriftstellerin wollte sie nicht sein. Erst nachdem Christie bei ihrem ersten Vertrag über den Tisch gezogen wurde, so ihre Biografin Barbara Sichtermann, entdeckte sie ihren beruflichen Ehrgeiz.
Andrea Gerk: Als wohlhabende Ehefrau, die nebenbei auch noch Krimis schrieb, so etwa sah sich Agatha Christie. Dabei ist sie eine der, wenn nicht die erfolgreichste Autorin aller Zeiten. Zwei Milliarden Bücher hat sie verkauft, und ihre schrullige Miss Marple oder den gewitzten Hercules Poirot kennt wirklich jedes Kind. Über das bewegte Leben der Agatha Christie, die im Jahr 1890 an der schönen englischen Südküste zur Welt kam, hat die Schriftstellerin und Publizistin Barbara Sichtermann jetzt eine Biografie geschrieben, die gerade eben erschienen ist. Wir kennen Sie ja als feministische Autorin. Wie sind Sie auf die Queen of Crime gekommen?
Anfangs schrieb sie nur zum Vergnügen
Sichtermann: Ich fand sie schon immer toll, schon in meiner Jugend. Sie gehörte zur Lieblingslektüre. Später dann, als ich zur Feministin wurde, habe ich sie natürlich zwischenzeitlich vergessen, aber nie ganz. Sie tauchte auch immer wieder in den Diskursen auf, weil ein scharfer Widerspruch durch ihre Lebenseinstellung ging.
Einerseits hat sie das viktorianische Erbe, was das Frauenbild betrifft, total integriert in ihr Sein, in ihr Wollen. Für sie gab es nichts Schöneres als Hausfrau und Mutter zu sein, und als sie ihren ersten Vertrag dann bekam – sie schrieb zum Vergnügen –, da fühlte sie sich ein bisschen geschmäht, als der Verleger zu ihr sagte: 'Wissen Sie, es ist sehr schwer, eine neue Schriftstellerin durchzusetzen.' Sie sagte: 'Aber ich bin doch keine Berufsschriftstellerin, Sie müssen mich gar nicht durchsetzen.'
Sie wollte keine berufstätige Frau sein. Deshalb wurde sie auch prompt über den Tisch gezogen bei dem ersten Vertrag, der war sehr ungünstig, und sie merkte dann, dass sie zumindest so tun müsste, als ob. Bis sie dann realisierte, dass sie doch ehrgeizig war. Sie hatte schon in ihrer Jugend Sängerin werden wollen. Die Stimme hatte nicht gereicht, und das war eine herbe Enttäuschung für sie. Auch den Beruf der Sängerin wollte sie sozusagen nebenher ausüben.
Gerk: Das fand ich sehr witzig: Ihre eigene Mutter hat den ersten Schwiegersohn sogar gewarnt. Die hat gesagt, hier, pass mal auf, Agatha ist nicht so wie andere Mädchen, darauf musst du dich einstellen. Ihre eigene Art ist ihr offenbar in dieses traditionelle Frauenbild dann selbst immer wieder reingegrätscht.
Eine viktorianische Agatha, und eine moderne
Sichtermann: Ja, so kann man das sehen, dass sie sozusagen zwei Agathas war, eine viktorianische und eine moderne, und dass die viktorianische dann schließlich doch von der modernen vollkommen ausgestochen wurde. Eine große Rolle hat dabei auch gespielt, dass ihr erster Mann, Archie Christie, Agatha dann verließ.
Gerk: Damit fangen Sie ja an, mit der herrlichen Episode, wo sie dann verschwand und ganz England, 16.000 Menschen suchten nach ihr. Man dachte, sie hätte sich das Leben genommen oder wäre selbst Opfer eines Kriminalfalls. Das ist eine Schlüsselszene in Ihrem Buch.
Sichtermann: Ja, ich habe das vorangestellt – es kommt hinterher natürlich dann noch mal vor aus einer anderen Perspektive –, weil ich mir dachte, diese Geschichte kennt eigentlich jeder, und die führt auch gut ein in die gespaltene Agatha, ihr Mann verlangte die Scheidung, und sie versteckte sich einfach, sie rannte weg, sie fuhr in ihrem Auto davon, um mit sich allein zu sein und eine Lösung zu finden.
Der ursprüngliche Impuls – das muss man jetzt vermuten, weil Agatha selber nie über diese elf Tage gesprochen hat, in denen sie verschwunden war –, war wohl der Gedanke an den Selbstmord. Aber sie hatte eine kleine Tochter. Deshalb ging das eigentlich nicht. Außerdem war Hamlet ihr Lieblingstheaterstück von Shakespeare. Hamlet stellte sich auch diese Frage, to be or not to be, und dann beantwortete er sie für sich mit to be. Dasselbe hat auch Agatha gemacht.
Danach war sie aus ihrem Wolkenkuckucks- oder Puppenheim raus und fragte sich immer wieder: Wie ist sie eigentlich, die menschliche Natur, und hat auch immer wieder in ihren Romanen das Dreieck vorgeführt: ein Mann zwischen zwei Frauen, eine Frau zwischen zwei Männern. Sie hat eingesehen, es gibt nicht diese prästabilisierte Harmonie, an die sie als viktorianisches Mädchen geglaubt hatte.
Gerk: Und sie hat ja auch den Kriminalroman erneuert, indem sie einfach nicht mehr die Spurenleserei in den Mittelpunkt gestellt hat, wie das bei Sherlock Holmes war, sondern intuitive Ermittler wie Miss Marple erfand, die wir alle kennen, auch aus der herrlichen Fernsehserie mit Margaret Rutherford. Trotzdem war sie lange Zeit eigentlich bei der Kritik nicht sonderlich gut angesehen. Sie galt als trivial, aber das ist sie gar nicht.
Aufbau und Untertöne
Sichtermann: So sehe ich das auch. Ich glaube, sonst hätte ich das Buch auch nicht machen können. Ich habe sie auch als Schriftstellerin immer bewundert. Sie ist keine Erneuerin gewesen oder eine stilistische Avantgardistin. Sie schrieb ganz konventionell, aber im Aufbau und in den Untertönen sind ihre Romane doch mehr. Sie hat immer ein Licht werfen wollen auf die menschliche Natur. Das blieb ihr Ehrgeiz bis zum Schluss. Ich finde, sie hat es auch geschafft.
Gerk: Sie haben ja schon vor vielen Jahren mal in einem Artikel für "Die Zeit" über sie geschrieben, sie sei unterschätzt, hat sich das inzwischen geändert?
Sichtermann: Nein, ich glaube nicht, im Großen und Ganzen nicht. Sie wird immer wieder ein bisschen als Märchentante abgetan und auch immer so in Szene gesetzt. Auf Plakaten oder Buchillustrationen sieht man sie immer im Alter, so als ob sie den Enkeln irgendetwas Abstruses erzählt, und das wird ihr überhaupt nicht gerecht, zumal sie eine sehr schöne Frau in ihrer Jugend war. Nach der Geburt ihres Kindes wurde sie dann leider nie wieder schlank.
Gerk: Sie war auch sehr witzig.
Sichtermann: Ja, ihr Humor ist auch einzigartig, und dann ihre Bildung. Sie hat viel gewusst und deshalb auch viel erzählen können. Ihr zweiter Mann war Archäologe und hat ihr das Ausgraben von Scherben aus der Wüste im Orient, aber auch das Geschichtsverständnis, wie wir Scherben interpretieren, wie wir überhaupt Fundstücke interpretieren, nahegebracht. Sie hat das richtig gelernt und das auch eingebracht in ihre Bücher, denn da geht es auch immer darum, dass man Fundstücke interpretiert. Ich meine jetzt natürlich Indizien, Anhaltspunkte.
Da haben Sie ganz recht, sie zeigt die intuitive Miss Marple, aber die ist auch eine scharfe Beobachterin. Umgekehrt ist Hercules Poirot auch jemand, der aus der Intuition heraus arbeitet. Das lässt sich bei ihr gar nicht trennen, dass da eine Nase ist, die was wittert, und ein Kopf, der Schlüsse zieht und der eins und eins zusammenzählt.
Gerk: Sie haben offenbar beim Verfassen der Biografie ähnlich gearbeitet, denn man muss dazu sagen, das ist jetzt keine klassische Biografie, sondern wie ein Roman geschrieben, oft auch sehr szenisch. Man ist eigentlich fast wie in einem Film, es gibt sehr viele Dialoge zwischen Agatha Christie und den anderen Personen. Wie können Sie sich da so reinarbeiten?
Viel Nutzen, viele Freiheiten, viele Möglichkeiten
Sichtermann: Ich wusste am Anfang nicht, dass das eine Romanbiografie werden würde. Ich hatte sogar ein Vorurteil gegen die sogenannte Romanbiografie, in der man auch erfinden darf - unter der Voraussetzung natürlich, es könnte so gewesen sein. Ich wollte das eigentlich gar nicht machen. Aber dann habe ich gesehen, wie viel Nutzen, wie viele Freiheiten, wie viele Möglichkeiten man dadurch hat, dass man etwas hinzuerfinden kann und dass man kleine Szenen schreiben kann. Das kann man ja in einer wissenschaftlichen Biografie nicht machen. Man war nicht dabei. Es sei denn, es ist irgendwo wirklich überliefert.
Gerk: So liest sich dann auch dieses Leben von Agatha Christie fast so spannend wie ein Kriminalroman von Ihnen.
Sichtermann: Ja, das soll auch so sein. Es hat auch diese Höhen und Tiefen und diese Todesnähe tatsächlich gehabt.
Gerk: Sie ist auch auf jeden Fall eine Frau, die man auch heute noch, finde ich, vorbildlich finden kann, auch im Hinblick auf die Emanzipation.
Sichtermann: Ja, sie war gegen die Emanzen, muss ich jetzt ehrlicherweise sagen, hat aber dann in späteren Jahren nach den beiden Kriegen, die sie beide durchlebt hat, hinzugelernt und gesehen, dass die Frauen jetzt, wo sie kriegsbedingt alles machen mussten, das auch zivil weiter so halten wollten und dass da ein Selbstständigkeitsbedürfnis ist, das sie sich selber ja auch erfüllt hat. Sie hat für ihren zweiten Mann Forschungsreisen finanziert. Sie war die große Verdienerin und hat dann auch gemerkt, wie gut ihr das tut. Insofern hat sie dann Heldinnen gefunden, die um ihre Selbstständigkeit kämpfen. Also kann man ihr feministische Nähe nicht absprechen. Die hatte sie durchaus.
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