Die Königin des Undergrounds
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Mit gleich zwei Mitgliedern der Rolling Stones hatte die Deutsch-Italienerin Anita Pallenberg eine Beziehung. Sie war Model und Groupie. Der Journalist Simon Wells hat jetzt die Biografie "Wie ein Regenbogen" über die Stilikone geschrieben.
"In Deutschland hatte ich ein paar Modeljobs, und der Fotograf fragte mich, ‚Hast du Lust, auf ein Konzert mitzukommen?’ Und nach dem Gig fragte er: ‚Willst du die Jungs mal kennenlernen?’ Ich hatte wie immer ein bisschen Hasch dabei, aber der Einzige, der drauf ansprang, war Brian. ‚Klar, lass uns einen durchziehen’, sagte er", erzählt die Deutsch-Italienerin Anita Pallenberg.
Mailand, New York, Paris, München und jetzt London mit Brian. Brian, das war Brian Jones, süßestes Mitglied der gerade angesagtesten Boygroup Europas, und sie zeigte ihm und den anderen Jungs erst mal, wie man sich optimal aufbrezelte: im Marquis-de-Pop-Chic, ein bisschen diverse Dekadenz, Rüschenärmel und Mascara inklusive. Kurz: Ohne Anita Pallenberg, damals 23, blonder Pagenschnitt, umwerfend attraktiv, sündhaft sexy und überaus charismatisch, hätten die Rolling Stones weiter im Von-der-Stange-Look vor sich hin gebluest, ehe sie der große Mode-Drache im kommenden Jahr, 1966, kurzerhand weggebissen hätte.
Mit Keith Richards auf der Rückbank
So etwas nennt man ein Narrativ, und an dieser Erzählung ist durchaus was dran: Der Mod-Look der Stones war die Garnitur von gestern, und nachdem sie Brian eingekleidet hatte, nahm Anita Pallenberg bei Keith Richards Maß, der sich urplötzlich mit Ketten, Armreifen und Halstüchern zur schillernden Persönlichkeit entwickelte. Auch wenn er ihre prägende Rolle noch Jahrzehnte später in seiner Autobiografie "Life" recht maskulin reduziert analysierte: "Hinten im Bentley war die Spannung auf der Rückbank zum Zerreißen. Ehe ich mich versah, blies sie mir einen. Und plötzlich waren wir zusammen."
Muse, Stilikone, Königin des Underground: In seiner Biografie "Wie ein Regenbogen. Das außergewöhnliche Leben der Anita Pallenberg" erzählt der britische Autor Simon Wells vom merkwürdigen Verhalten geschlechtsreifer Jungprominenter zur Paarungszeit und von einer Frau, die im Minirock in London ankam, aber tatsächlich die Hosen anhatte.
Und offenbar drehte sie den Spieß einfach um, als original bad girl, das die bösen Buben tief in das schwarz glänzende Rock’n’Roll-Fässchen tauchte und vorübergehend als einzige oben blieb. Das kann man, wie der Autor, als "offenen und unbeugsamen Feminismus" bezeichnen. Auf einem Foto von 1971 wirkt Stones-Gitarrist Keith Richards neben ihrer Wunderland-Präsenz, als würde nicht sein Sohn, sondern er einen Strampler tragen.
Dasein als superlativistische Konsumista
Und während Anita Pallenberg den Stones fashionistisch auf die Sprünge half, surft Autor Wells die Modewelle, Selbstzerstörung und Menschenverbrauch zur Selbstermächtigungssaga zu adeln. Hier ist der nächste Schuss Heroin stets Zeugnis "furchtloser Präsenz", der folgende Absturz Ausweis einer "freigeistigen Grundeinstellung". Ein Dasein als superlativistische Konsumista unterm Strich ein "erstaunliches", ein "einzigartiges", "bemerkenswertes Leben".
Immerhin bringt Wells bei allen alternativen Fakten den Mut auf, Greil Marcus’ Beschreibung der Mittsiebziger-Anita-Pallenberg zu zitieren: "Sie war fett, aufgedunsen und ruiniert, nicht einfach nur bis zum Verlust der sexuellen Anziehungskraft, sondern bis zur Geschlechtslosigkeit."
Tatsächlich gibt es hier keine mythische "Blume des Bösen", wie der Autor sein biografisches Objekt bezeichnet, sondern nur die Nebenfigur eines als Weltbühne ausgegebenen Depraviertenstadels, dessen einziges Drehmoment aus einer über 400-seitigen Abfolge von Entzügen, Entgiftungen und Rehab-Rückfällen besteht. Und der Endlosschleifen-Beschwörung einer überlegenen Frauenfigur, die sich angeblich nahm, was immer sie wollte, und ihre, "spektakuläre Aura".
Die kann man Anita Pallenberg, ob im Positiven oder Negativen, sicher nicht ganz absprechen. Für Simon Wells’ Biografie indes gilt das Motto, das er dem dritten Kapitel seines Werks vorangestellt hat. Es stammt von dem Surrealisten Jean Cocteau und lautet: "Spiegel sollten länger nachdenken, bevor sie reflektieren."