Biografiearbeit in der Schule

Wie Tagebuchschreiben schwierigen Schülern hilft

07:38 Minuten
Zwei Jungen sitzen in der Schulbank und schreiben mit gesenkten Köpfen in Tagebücher.
Veränderung durch Schreiben: Die Tagebücher der Schüler bringen diese ihren Lehrern und Erziehern näher. © Changewriters e.V.
Von Natalie Putsche |
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Jörg Knüfkens kämpfte lange vergeblich um das Vertrauen seiner Schüler. Dann begann er, besonders schwierigen ein Tagebuch zu schenken, das sie ihm freiwillig zum Lesen geben können. Mit Erfolg: "Da öffnet sich einfach eine neue Tür für die Schule."
"Es war beispielsweise meine Aufgabe, in einer 8. Klasse nachmittags mit Schülern irgendwie klar zu kommen, die vormittags schon, in Anführungsstrichen, schwer beschulbar waren. Das heißt, die sind durch ablehnendes Verhalten aufgefallen, eine sehr destruktive aggressive Art, wie die agiert haben", sagt Jörg Knüfken, den ich an einer Schule in Dorsten treffe. Inzwischen ist er kein Sozialarbeiter mehr, sondern berät Lehrer bei dem von ihm ins Leben gerufenen "Changewriter"-Projekt.
"Insgesamt würde ich sagen, ich habe viele Jahre im Schuldienst mehr oder weniger versucht, durch klassische Erziehungsmethoden die Schüler zu erreichen. Also viel 'Wenn-dann-Pädagogik' im Prinzip. Und ich hab immer gemerkt, dass die überhaupt nicht funktionierte."
Mehr durch Zufall sei ihm 2010 dann ein Film in die Hände gekommen, der für ihn und seine Arbeit alles ändern sollte: "Bei mir war's einfach so, dass ich diese erste Projektstunde hatte, die verlief nicht nach Plan", erinnert er sich. Damals sei er schon froh gewesen, wenn sich keiner in der Gruppe geprügelt hätte.
"Und ich hab dann gesagt: Das geb ich mir nicht mehr, das mach ich nicht mehr mit. Und dann hab ich mir gesagt, ich zeig einfach bis zu den Sommerferien in jeder Doppelstunde, wo ich mit denen arbeite, einen Film. Bei Filmen ist es meist so: Da sind sie zumindest ruhig. Ich hab Ruhe, die haben Ruhe."
"Und hab dann nach Filmen gesucht, da aber wieder gemerkt: So'n bisschen einen Anspruch hatte ich schon. Und bin dann auf den Film Freedom Writers gekommen. Hab dann gesehen: Der beruht auf einer wahren Begebenheit."
Eine Lehrerin schenkt ihren Schülern leere Notizbücher, und sie beginnen tatsächlich, in der Schule Tagebuch zu schreiben und sich dadurch langsam zu öffnen.
"Der Film hat mich sehr berührt und ich dachte: Warum soll das eigentlich da möglich sein, in den Vororten von Los Angeles, in den sogenannten Ghettos? Wieso soll das da möglich sein und mit meinen Schülern nicht?"

Schlechte Erfahrungen im Schulalltag

Ich treffe Dilara und die drei Jahre jüngere Medina in einem Jugendzentrum. Was beide verbindet, sind die schlechten Erfahrungen im Schulalltag und die Hilfe, die beide durch Knüfkens Change-Writing-Projekt erfahren haben.
"Dilara, wie war das, als der Jörg Knüfken zum ersten Mal mit diesem Vorschlag kam: Tagebuch schreiben?"
"Anfangs ziemlich ohne Sinn, wofür ich das jetzt machen soll und was es mir letztendlich bringt."
Die 22-Jährige erzählt, dass sie 2012 in einer von Knüfkens Projektgruppen in der Hauptschule saß, nachdem es für sie schulisch so bergab gegangen war, dass sie vom Gymnasium irgendwann dort gelandet sei:.
"Ich wirkte halt sehr nach einer Kein-Bock Schülerin. Obwohl da eigentlich viel mehr hinter steckte. Ich hab eigentlich nie viel erwartet oder dass man mit mir tiefgründig über meine Gefühle oder Probleme spricht, aber einfach dass auch gesehen wird, dass es dir schlecht geht, und nicht nur, ob du dich im Matheunterricht meldest oder so. Also meine Eltern haben sich getrennt, das war auf jeden Fall der Startschuss, weshalb es so hinunter ging."

Kein Glaube an die Zukunft mehr

"Ich wurde halt früher gemobbt und es ist auch selbstverständlich, dass die Noten dann runter gegangen sind. Ich hab auch irgendwie die Lust verloren daran…"
Ein dunkelhaariges Mädchen schreibt während der Schule in einem Tagebuch.
Dass hinter manch vermeintlicher Null-Bock-Haltung größere Probleme stecken, enthüllen die Tagebücher, die die Schüler ihren Lehrern freiwillig zum Lesen geben.© Changewriters e.V.
Medina und Dilara betonen, dass sie beide damals nicht mehr an sich und auch nicht an eine Zukunft geglaubt hätten.
"Es war schon so weit, dass auch körperliche Gewalt gegenüber mir da war. Und das war der Moment, wo ich noch nicht die Kraft hatte, irgendwem davon zu erzählen. Und dann hab ich angefangen, Schüler zu mobben."
Dann stirbt ihre Mutter. Medina spricht mit kaum jemandem darüber, sackt immer weiter in der Schule ab. Und irgendwann sitzt sie in einer AG, die Jörg Knüfken als Schulsozialarbeiter betreut. Er verteilt Tagebücher.
"Und ich weiß noch damals, ich hab den Rücken zu den anderen gedreht. Ich hab dann drei Seiten geschrieben. Und bei mir war's klar, als ich angefangen hab zu weinen, dass Herr Knüfken versucht, mit mir zu reden, ich aber in dem Moment nur gesagt habe: Lesen Sie doch selber!"

"Schlechte Schicksale können auch was Gutes haben"

Das ist vier Jahre her. Knüfken nimmt sich Zeit für Medina und führt lange persönliche Gespräche mit ihr.
"Er hat mir sozusagen ein Gefühl gegeben, dass schlechte Schicksale eigentlich auch was Gutes haben können", sagt sie.
Durch die intensiven Gespräche und die Projektgruppe gewinnt Medina langsam Selbstvertrauen und beginnt zu lernen:
"Ja, meine Noten haben sich verbessert. Alles 2 bis 3, bis auf Mathe, das ist halt nicht so mein Ding. Wenn mein Gesicht irgendwie verzogen war oder so, dann hier, hast du dein Tagebuch, haste eben deine fünf Minuten, geh raus und schreib."

Inzwischen macht Dilara eine Erzieherausbildung

"Hab dann irgendwie gemerkt, wie sich meine Gedanken ordnen, wenn ich die aufschreibe", sagt Dilara. Bis sie erstmals einen Tagebucheintrag an Knüfken weiterreicht, vergeht ein halbes Jahr. Sie schreibt über ihre Traurigkeit und die Angst darüber, dass sie ihre Träume mit einem Hauptschulabschluss wohl nicht verwirklichen kann. Knüfken spricht mit ihr.
"Irgendwo hat mir das halt auch wieder Hoffnung gebracht, weil er gesagt hat: Nur, weil du jetzt hier gelandet bist, heißt das nicht, dass das das Letzte ist, was du mitnimmst."
Dilara hat ihre Schulzeit inzwischen hinter sich, die 19-jährige Medina holt gerade ihren Realschulabschluss nach.
"Also ich hab meinen 10b-Abschluss gemacht, dann hab ich mein Fachabitur nachgeholt. Und dann mach ich ja momentan eine Erzieherausbildung."
Eine Gruppe Schüler steht in einem Halbkreis vor einem Turm aus Holzklötzen, den sie mit einem von Schnüren gesteuerten Metallkran aufbauen.
"Tower of Power": Zu Changewriters gehören auch Kooperations- und Kommunikationsübungen, die mittels Tagebucheinträgen reflektiert werden. © Changewriters e.V.
Die meisten Methoden des Change Writings, wie Jörg Knüfken die Biografie-Arbeit mit den Schülern genannt hat, sind nicht neu. Es ist mehr die Mischung, die es für ihn ausmache. Der amerikanische Kinofilm Freedom Writers schafft die erste Aufmerksamkeit, im weiteren Projektverlauf gibt es Rollenspiele und Gruppenübungen, die die Jugendlichen stärken, ihr Interesse füreinander wecken und ihnen helfen sollen, Konflikte konstruktiv zu lösen.
"Es gibt keine Lerntheorie, die was anderes sagt als: Erst muss Vertrauen aufgebaut, erst Druck abgebaut, alle Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen geschaffen werden."

"Da öffnet sich eine neue Tür für die Schule"

Manchmal reiche es schon aus zu wissen, ob ein Schüler sich um Geschwister kümmern müsse oder nach der Schule jobbe. Die Schüler sichtbar machen und dadurch anders auf sie einzugehen.
"Möglicherweise weniger Hausaufgaben aufzugeben oder zu sagen: Mach nur noch zwei im Halbjahr, die dafür kannst du in der Schule machen. So hab ich einfach eine Möglichkeit, wieder eine Chance zu geben."
Medina und Dilara sind inzwischen auch im Verein Change Writers aktiv, um Lehrern, die Weiterbildungen und Workshops besuchen, ihre Geschichte zu erzählen und die Erfahrungen zu teilen, die sie mit dem Projekt gemacht haben.
"Da öffnet sich einfach so 'ne neue Tür für die Schule, wo man mit ein bisschen mehr Hoffnung, ein bisschen mehr Selbstvertrauen auch wieder reingeht."
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