„Es ist mir zuwider, in dem kostbaren Leben großer Schriftsteller herumzustochern, und ich hasse den voyeuristischen Blick über den Zaun ihres Lebens. Ich hasse die Vulgarität des menschlichen Interesses, ich hasse das Rascheln der Röcke und das Gekicher in den Korridoren der Zeit — und kein Biograph wird je einen Blick auf mein Privatleben erhaschen.“
So schrieb der Schriftsteller Vladimir Nabokov in seinen "Vorlesungen über russische Literatur." Selbstverständlich lag er falsch mit seiner Prophezeiung. Denn längst gibt es auch über ihn eine überaus sorgfältig gearbeitete Biografie. Und ebenso falsch lag Nabokov mit seiner Ansicht, Biografien dienten allein dazu, den allgemeinen Voyeurismus zu befriedigen.
Immer mehr gute Biografien
Selbstverständlich gab und gibt es solche Machwerke, doch mittlerweile gibt es keinen ernst zu nehmenden Kritiker mehr, der dem Genre Biografie die Daseinsberechtigung absprechen würde. Zu groß ist inzwischen die Zahl der formal und stilistisch gelungenen Beispiele. Aufzuhalten ist sie ohnehin nicht mehr: Jahr für Jahr erscheinen allein in Deutschland durchschnittlich etwa 1500 Biografien und Auto-Biografien in Buchform – im englischsprachigen Raum ein Mehrfaches davon.
Das vollständige Manuskript der Sendung finden Sie hier.
Wie es dazu kommen konnte, warum die Biografie so lange um ihr Ansehen kämpfen musste, welche Probleme sie aufwirft, was ihre Verächter und ihre Verteidiger vorzubringen haben – dies sind Themen der ersten Stunde unserer "Langen Nacht der Biografie".
In der zweiten Stunde wenden wir uns einigen biografischen Projekten zu: über die Schauspielerin Ingrid Bergman, den Schriftsteller Albert Camus und über den NS-Rüstungsminister Albert Speer. Wir sprechen mit den Biografen und erfahren einiges über deren Motivation, aber auch über die Hindernisse und Frustrationen, die mit der Erforschung eines fremden Lebens unweigerlich einhergehen.
In der dritten Stunde schließlich geht es um die überaus verwickelten Recherchen, aus der die dreibändige Kafka-Biografie von Reiner Stach hervorging, des Autors dieser Sendung – ein Standardwerk, das mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Wiebke Porombka spricht mit Stach.
Menschenmaler statt Historienmaler
Die Geschichte der Biografie reicht weit zurück: Überlieferte Fragmente deuten darauf hin, dass bereits im 3. Jahrhundert vor Christus aus der philosophischen Schule des Aristoteles eine ganze Reihe von Lebensbeschreibungen über Dichter, Denker und Herrscher hervorgegangen sind. Auch das Lukasevangelium hat im Wesentlichen die Form einer Biografie.
Erst der griechische Schriftsteller Plutarch jedoch tat zu Beginn des 2. Jahrhunderts nach Christus den – aus unserer Sicht – entscheidenden Schritt: Er wollte kein Historienmaler mehr sein, sondern Menschenmaler. Mit Plutarch, dem Porträtisten mit der Schreibfeder, beginnt der Hauptstrom der europäischen Biografie.
Der Philosoph und Historiker Plutarch auf einem Stich von 1837: Er war der erste Biograf, der Charakterbilder ins Zentrum seines Schreibens stellte.© picture-alliance / akg-images
Das frühe 20. Jahrhundert bringt dann eine wahre Flut an Biografien hervor, viele davon minderwertig – worin es sich vom 19. Jahrhundert gar nicht so sehr unterscheidet –, aber auch ein kritisches Nachdenken über Möglichkeiten und Grenzen der Biografie: etwa durch Walter Benjamin, Wilhelm Dilthey oder Virginia Woolf. Der Anspruch der Biografie, wahre Charakterbilder und stimmige Lebensläufe zu entwerfen, wird zunehmend infrage gestellt.
Spannung zwischen Nähe und Distanz
Kritische Stimmen weisen auf einen zentralen Widerspruch in der Arbeit des Biografen hin: Einerseits stellt er einen einzelnen Menschen in den Mittelpunkt seines Werks und übernimmt damit zwangsläufig dessen Perspektive, als Zentrum seiner Welt. Um aber zu verstehen, was in diesem Zentrum vor sich ging, muss der Biograf auf Distanz gehen und die Zeitumstände mit einbeziehen, in denen der biografierte Mensch nur einer unter Millionen anderen ist. Wie geht das zusammen?
Das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz angemessen auszutarieren, bleibt eine wesentliche Herausforderung für Biografinnen und Biografen. Der amerikanische Literaturkritiker Leon Edel hat es auf folgende Formel gebracht: "Der Biograf muss in jedem Sinne des Wortes versuchen, jene paradoxe Figur zu sein, die die moderne Psychologie den ´teilnehmenden Beobachter` genannt hat. Er muss einfühlend und doch distanziert sein, involviert und doch unbeteiligt."
Der Filmpublizist Thilo Wydra hat für seine Biografie von Ingrid Bergman eine enge Beziehung zu deren Nachkommen aufgebaut - die dankten es ihm mit der Öffnung des Nachlasses.© picture alliance / Frank May
Auch der Filmpublizist Thilo Wydra, der viel beachtete Biografien über Grace Kelly, Romy Schneider und Ingrid Bergman geschrieben hat, beschreibt die Notwendigkeit dieser Gratwanderung: „Ich muss dieser Person so nahe kommen, wie ich nur kann, über Zeitzeugen, über Archive, über möglichst unentdecktes Material. Zugleich muss ich aber auch immer wieder in eine objektive Distanz gehen, sofern das möglich ist. Und natürlich führt mich der Weg in die Archive, er führt mich zu Freunden, zu Freundinnen und zu den Familien.“
Erfindungen der Wahrheit
Seine Bergman-Biografie etwa beruht nicht zuletzt auf 187 Kisten mit dem persönlichen Nachlass der Schauspielerin, die die Familie für ihn geöffnet hat. „Das hat natürlich für mich als Biograf dazu beigetragen, dass ich Dinge auswerten konnte, die bis dahin noch nicht ausgewertet worden sind, und im Idealfall das ikonische Bild dieser Person korrigieren, ergänzen und aktualisieren konnte, sodass es sich nach der Lektüre dieser Biografien im Idealfall ein wenig verschiebt, vielleicht auch erweitert.“
Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler bei einer Rede - die biografische Wahrheit sei immer auch Fiktion, betont sie.© picture-alliance/ dpa / Martin Schutt
Ein anderes Spannungsverhältnis besteht zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Sachbuch und Belletristik, Handwerk und Kunst. Dazu sagt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler:
„Die Biografie ist ja überhaupt ein Hybrid, ein Bastard der Geschichtswissenschaft, und oszilliert eigentlich zwischen Belletristik und Sachbuch. Das macht dann natürlich auch den Reiz dieses Genres aus. Biografien erzählen nie die Wahrheit über eine Person. Die Wahrheit über ein Leben ist ja Interpretationssache, ist immer zeitabhängig, es ist veränderbar. Biografien sind auch immer vorläufig, sie sind Mutmaßungen auf Basis der vorliegenden Informationen, also eine Art Fiktion."
Löffler zitiert in diesem Zusammenhang den englischen Biografen Peter Ackroyd:
Biografien sind Erfindungen der Wahrheit. Und die Wahrheit ändert sich, auch wenn neue Quellen auftauchen, neues Material daherkommt.
Biografien bieten Rollenmodelle
Biografien versprechen intellektuellen Genuss, Belehrung und tiefere Einblicke in das Leben anderer Menschen, als unser Alltag es jemals bieten kann. Bei unserer Faszination für Biografien spielt auch unsere Suche nach Vorbildern eine Rolle, glaubt die Literaturredakteurin Iris Radisch, selbst Autorin einer Camus-Biografie. Sie selbst erinnert sich etwa, wie wichtig es für sie als junge Frau war, Frauen-Biografien zu lesen:
„Die haben mir Mut gemacht, wie ein Frauenleben verlaufen kann. Wie haben die denn das alles ausgehalten, wie haben die das mit der Liebe gemacht, wie sind die mit ihren Sehnsüchten, mit Not und Krankheit umgegangen? All das sind ja auch Vorbilder, und ich finde das absolut legitim, solche Informationen in Biografien zu suchen.“
Die Literaturkritikerin und Redakteurin Iris Radisch, hier bei einer Rede im Staatstheater Darmstadt. Ihre Camus-Biografie schrieb sie aus persönlicher Faszination für den Autor.© picture alliance/dpa
Dieser persönliche Zugang, eine Faszination für die biografierte Person war für Radisch entscheidend, um überhaupt selbst eine Biografie anzugehen. Das sagt auch Wydra: „Ich muss grundlegend eine Sympathie für diese Person haben, ganz gleich ob Mann oder Frau, um später im Idealfall, wenn ich tief in das Werk eintauche, über diese Person recherchiere, zu Zeitzeugen reise, in Archive gehe, eine Empathie für sie zu erzeugen.“
Albert Speer: Reinwaschung per Biografie
Anders ist das bei dem Historiker Magnus Brechtken, der eine Biografie über den Architekten und NS-Rüstungsminister Albert Speer geschrieben hat: „Die Beschäftigung mit einer historischen Figur ist für einen Historiker, jedenfalls für mich, zunächst mal analytisch. Und je nachdem, was das für eine historische Person ist, kann man dann bisweilen Empathie empfinden, das war aber bei Speer in keiner Weise der Fall und war auch nicht nötig. Man muss – und das ist jetzt einfach Teil der beruflichen Professionalität – diesen analytischen Blick bewahren und sich an den Quellen orientieren, und so habe ich das auch bei Speer gehalten.“
Der Fall Albert Speer zeigt auch, wie sehr Biografen den Personen, über die sie schreiben, bewusst oder unbewusst auf den Leim gehen können. So war das bei Speers erstem Biograf, Joachim Fest, der Speers Lebensbeschreibungen nur allzu willig für bare Münze nahm – obwohl viele davon bereits damals durch einen Blick in die Archive als Lügen zu entlarven gewesen wären.
Prof. Magnus Brechtken ist stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte. In seiner Biografie Albert Speers erklärt er auch, warum dessen Lügen so bereitwillig geglaubt wurden.© picture alliance / rtn - radio tele nord
„Fest, aus seiner nicht wissenschaftlichen Perspektive, meinte, Speer wird ihm da schon irgendwelche Wahrheiten aus dem innersten Kreis erzählen – der war eine perfekte Quelle aus der Sicht von Fest“, sagt Brechtken. „Und das hat natürlich dazu beigetragen, dass Speer seine Märchen, seine Fabeln, die er über die Jahre seit Mai 1945 immer stärker verfeinert hatte, mit der literarischen Hilfe von Fest sehr deutlich ausformulieren konnte.“
Wie aber ist der erstaunliche und nachhaltige Erfolg dieser Manöver zu erklären? Wie die Millionenauflagen von Speers Büchern? Es gehört zu den Stärken von Brechtkens Biografie, dass er sich auch dieser Frage stellt und die geheime Komplizenschaft beschreibt, die Speers manipulative Erinnerungen mit seinen Lesern und deren Sehnsucht nach Entlastung eingehen: „Speers Erinnerungen erzählen die Fabel vom unbedarften Bürgersohn, der sich plötzlich von unappetitlichen braunen Typen umgeben sieht.“ Biografie geht hier über in Mentalitätsgeschichte, sie hält nicht nur dem biografierten Menschen den Spiegel vor, sondern auch denen, die ihm glaubten, die sich von ihm beeindrucken ließen.
Eine Brücke, die nicht ganz hinüberführt
Die Leiden und das Glück des Biografen kennt der Autor dieser Langen Nacht aus eigener Erfahrung – Reiner Stach hat eine dreibändige Kafka-Biografie verfasst, die inzwischen als Standwerk in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Im S. Fischer Verlag erschien 2002 der Band "Kafka. Die Jahre der Entscheidungen", 2008 folgte "Kafka. Die Jahre der Erkenntnis", 2014 "Kafka. Die frühen Jahre".
Anstoß, eine Kafka-Biografie zu schreiben, war für Reiner Stach die Liebe zu Kafkas Werken - mit der Theorie der Biografie beschäftigte er sich erst später.© picture alliance / dpa / Paul Zinken
Über seine Motivation, selbst zum Biografen zu werden, sagt Reiner Stach: „Der Ursprung meiner Beschäftigung mit Kafka war nicht dieses biografische Interesse, sondern die Bewunderung für die Texte. Und bei mir gab es so eine Art Durchbruch in Beziehung auf Kafka, als ich gemerkt habe, dass alle seine autobiografischen Texte, also Briefe, Tagebücher usw. nicht nur in derselben Sprache verfasst sind wie die Werke, sondern auch auf demselben Niveau. Das heißt, der Mann lebt in der Sprache, und in seinen Metaphern, in den Bildern, so wie wir atmen.
Ich wollte einfach wissen: Wie kommen solche Texte zustande, wie fühlt sich das von innen an, wenn man so etwas produzieren kann?
Scheinbar ist das Stach mit seiner Kafka-Biografie gelungen, denn er bekam nach der Veröffentlichung immer wieder zu hören, das Buch lese sich, als sei er dabei gewesen. Das findet er zwar schmeichelhaft, ihm ist es aber wichtig, die unaufhebbare Distanz zu Gegenstand der Biografie nicht aus dem Blick zu verlieren:
„Natürlich sind wir nicht dabei. Ich bin nicht dabei, die Leser auch nicht, sondern ich versuche, eine Brücke zu bauen über eine Kluft von hundert Jahren fast, und natürlich noch über eine entsprechende kulturelle Kluft. Und auch wenn es manchmal noch so schön ist: Die Leser und die Kritiker müssen im Hinterkopf behalten, dass die Brücke, die wir da bauen, sehr fragil ist, jeden Moment bedroht ist und vielleicht auch nicht bis ganz hinüberführt.“
Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Reiner Stach; Regie: Daniela Herzberg; Moderation: Wiebke Porombka; Sprecherinnen und Sprecher: Stephan Schad, Nina Petri, Oliver Mallison, Peter Weis, Max Simonischek; Redaktion: Dr. Monika Künzel; O-Töne von: Magnus Brechtken, Sigrid Löffler, Iris Radisch, Reiner Stach, Almut Winter, Thilo Wydra; Webdarstellung: Constantin Hühn.
Zum Weiterlesen:
Reiner Stach: „Kafka. Die frühen Jahre“
Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2016
608 Seiten, 14,99 Euro
Iris Radisch: „Camus. Das Ideal der Einfachheit – Eine Biographie“
Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 2014
352 Seiten, 14 Euro
Thilo Wydra: „Ingrid Bergman. Ein Leben“
DVA, 2017
Ebook (epub), 22,99 Euro
Magnus Brechtken: „Albert Speer. Eine deutsche Karriere“
Siedler Verlag, München 2017
912 Seiten, 40 Euro