Botho Strauß: Herkunft
Carl Hanser Verlag, München 2014
96 Seiten, 14,90 Euro
Ein Lob auf die ereignislose Kleinstadt
Er war einer der wichtigsten Dramatiker der alten Bundesrepublik und gehört auch heute noch zu den meistgespielten zeitgenössischen Autoren auf deutschen Bühnen: Botho Strauß. In seinem neuen Buch "Herkunft" erzählt er seine Kindheitserinnerungen.
"Morgen wird die Wohnung entrümpelt. Morgen wird mein Zuhause aufgelöst."
So endet das schmale Buch "Herkunft". Wohnungsauflösung, so Botho Strauß, "zieht Herkunft hervor". Eine Herkunft hat jeder. Gerade das ist der interessante Punkt in der dieser Betrachtung. Was also erzählt er über das Allgemeingültige hinaus, wie sehr "öffnet" er sein Leben?
Eigentlich war ein "privates" Buch von dem Verweigerer der Öffentlichkeit kaum zu erwarten. Aber im Jahr seines siebzigsten Geburtstags öffnet der scheueste aller Dramatiker, Essayisten, Romanciers und Prosaisten tatsächlich die Tür zu sich selbst. In "Herkunft" beschreibt er eigentlich ausschließlich den Vater. Die Mutter ist die absolute Nebenfigur. Durch die Figur des Vaters lenkt er den Blick auf sich.
"Herkunft" erzählt von einem bürgerlich akkuraten, undurchlässigen und von der Außenwelt abgeschotteten Elternhaus, das in vielem dem gängigen Bild der fünfziger und sechziger Jahre entspricht. Aber eigentlich handelt das Buch von einer noch viel weiter entfernten Zeit. Der Vater, der bei der Geburt des Sohnes bereits 54 Jahre alt war, verlor im Ersten Weltkrieg ein Auge.
Zehn Mark für Griechisch-Nachhilfe
Nach der Flucht aus Naumburg nach Bad Ems verdiente er sein Geld mit Gutachten für die pharmazeutische Industrie und Rezepturen, die er an Apotheken lieferte. Er verehrte Schriftsteller, verfasste selbst ein Buch mit dem Titel "Nicht so früh sterben", zahlte dem Sohn zehn D-Mark für eine Griechisch Doppelstunde. Viel Geld damals. Mit seinem einzigen Auge beobachtete er das Kind, es in "Liebe würgend".
Das Psychogramm dieses Mannes, erstellt durch den Schriftsteller-Sohn, ergibt ein Doppelportrait Vater/Sohn. Der Bildungsanspruch als Forderung und die Hinwendung zum Alleinsein stehen im Zentrum. Nicht nur das Lesen wird trainiert, sondern die Welt durch die Fenster von Innen von Innen nach Außen zu betrachten wird zum Muster, das der Vater dem Sohn vorlebte. Die Herkunfts-Kulisse wird mit dem typischen Botho Strauß'schen Vokabular ausgemalt, schweifend zwischen Adalbert Stifter-haften Naturszenen und knappen Darstellungen.
Weit entfernt von der heutigen Welt
Das ist stimmungsvoll, ruhig und weit entfernt von der gegenwärtigen Welt. Und neben allem ist "Herkunft" ein Lob auf die eine ereignislose Kleinstadt, Bad Ems an der Lahn. Es tauchen die Namen kindlich und jugendlicher Prägungen auf: Von den Brüdern Grimm zu Elvis, von Wagner zu James Dean oder von "Bravo" zum Tristan. Fast ganz alltäglich, also.
Das Allgemeingültige und das Romantische von Rückbesinnungen hat durchaus auch hier seinen Platz. Aber indiskret ist nichts an diesem Text. "Herkunft" ist ein aufschlussreiches Selbstportrait. Und eine Sozialisationsgeschichte. Der spätere Zeitgeistdramatiker Strauß schildert, dass das frühe Fernsehen für ihn die größte Inspiration war. Psychoanalytiker können an die Arbeit gehen, Leser mit der Selbstbefragung beginnen, angeregt durch diesen lohnenden aufschlussreichen und stimmungsreichen Text.