Paul Glaser: "Die Tänzerin von Auschwitz"
Aufbau Verlag, Berlin, 2015
286 Seiten, 19,95 Euro
Tanzen, um zu überleben
Jahre hatten die Eltern von Paul Glaser die Geschichte seiner Tante, Roosje Glaser, verschwiegen. Er machte sich dennoch auf die Suche und erzählt in "Die Tänzerin von Auschwitz" über eine Frau mit einem unerschütterlichen Überlebenswillen.
Ausschnitt einer Hitler-Rede nach Machtergreifung: "Wir wollen nicht lügen und wollen nicht schwindeln, ich habe deshalb es abgelehnt, jemals vor dieses Volk hinzutreten und billige Versprechungen zu geben..."
Als Adolf Hitler 1933 in Deutschland die Macht ergreift, scheint in den Niederlanden die Welt von Roosje Glaser noch in Ordnung. Eine junge, emanzipierte Frau voller Lebenshunger – und mit einer großen Leidenschaft: das Tanzen.
"Das Leben meinte es gut mit Wim und mir. Wir meldeten uns in der Tanzakademie an und ließen uns keinen Ball der Stadt entgehen. Moderne Tänze, viele davon aus Amerika, verliehen unserem Lebensrhythmus einen besonderen Akzent."
Das sind Tänze, die die Nazis verachten und verbieten. Sie bevorzugen Polka und Walzer, wie Roosje Jahre später in Auschwitz feststellt, wo sie SS-Offizieren Tanzunterricht gibt – und dadurch überlebt. Eine außergewöhnliche Lebensgeschichte – und ein außergewöhnliches Buch.
1940 marschieren die Deutschen auch in den Niederlanden ein. Das Klima verschärft sich. Auch Roosjes Ehemann, mit dem sie gemeinsam eine Tanzschule leitet, lässt sich vom nationalsozialistischen Gedankengut in den Bann ziehen.
"Gehorsam und Schicksalsergebenheit prägten den allgemeinen Ton unter den Niederländern, aber auch Bewunderung und der Wunsch, Teil der Neuordnung und des Großdeutschen Reiches zu sein.“
Verraten von Freunden
Roosje rebelliert. Sie lässt sich scheiden, weigert sich, den Davidstern zu tragen und gründet heimlich eine Tanzschule auf dem Dachboden ihres Elternhauses.
Aber Roosje wird verraten, von Menschen, die sie einst geliebt hatte: Sie kommt in verschiedene Arbeitslager, 1943 landet sie schließlich in Auschwitz. Dort wird Roosje Opfer von Menschenversuchen. Der berüchtigte SS-Arzt Carl Clauberg sterilisiert sie. Später muss sie die Toten aus den Gaskammern schleppen.
"Ich war fest entschlossen, mich seelisch abzuschotten. Deshalb bemühte ich mich, mein Denken abzuschalten, das heißt nicht ganz, denn ich musste mich ja darauf konzentrieren, zu überleben – nur darum ging es jetzt."
Die Hoffnung nicht verlieren – dabei hilft Roosje auch die Musik. Sie schreibt Gedichte und Lieder, darunter eines über die sogenannten "Kapos", Häftlinge, die im Auftrag der SS die anderen Gefangenen überwachten, und dafür Privilegien erhielten.
Musik: "Ich hab mir in Auschwitz einen Kapo angelacht, der mir schöne Pakete schickt und der mir Freude macht. Ich hab' ihn engagiert, damit er organisiert. Mein Kapomann, ohne den ich nicht kann..."
Roosje tut alles, um zu überleben. Sie gibt den SS-Männern Tanzunterricht, beginnt sogar eine Affäre mit einem der Offiziere.
"Als ich sie in Stockholm traf, habe ich sie nach einigem Zögern danach gefragt. Ich habe sie gefragt: Wie ging das? War das einfach für dich? Sie sagte: In Auschwitz, nachdem ich in den Gaskammern gearbeitet hatte, nachdem ich diese medizinischen Experimente ertragen hatte, war es heilsam für mich, mit jemandem zu schlafen. Jemand war freundlich zu mir. Ich fühlte mich wieder etwas menschlicher."
Der Autor Paul Glaser erfuhr erst als Erwachsener von den jüdischen Wurzeln seiner Familie. Glasers Vater hatte das Schicksal seiner Schwester Roosje verschwiegen. Erst durch hartnäckige Nachforschungen kam der Autor der traurigen Wahrheit auf die Spur.
"Obwohl ich schon geahnt hatte, was ich nun wusste, erschrak ich. Einen Moment war ich wie gelähmt und vergaß, weiterzusprechen, zu fragen, was für Menschen die Eltern meines Vaters gewesen seien und, natürlich, was mit Tante Roosje sei."
Eine Mauer des Schweigens
So erzählt "Die Tänzerin von Auschwitz" eigentlich zwei Geschichten. Die von Roosje, basierend auf Tagebucheinträgen, Briefen, Fotos und Polizeiprotokollen, und die von Paul Glasers Spurensuche – seinem beharrlichen Versuch, eine Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Der Autor berichtet abwechselnd aus seiner eigenen und aus Roosjes Perspektive. Nach und nach puzzelt er eine authentische und bewegende Familiengeschichte zusammen, ohne je den Zeigefinger zu erheben: Glaser urteilt weder über das Schweigen seines Vaters, noch über Roosjes Tun. Er lässt sie einfach erzählen. Schnörkellos – und manchmal fast erschreckend nüchtern.
"Es war seltsam, im Gefängnis zu sitzen, ohne von einem Richter verurteilt worden zu sein, nur deshalb, weil ich so war, wie ich war (…). Aber es war auch verständlich. Die Judenfrage existierte nun einmal, zumindest glaubten das alle, und Fragen musste man lösen, nicht wahr?"
Zu Beginn der Lektüre irritiert die kühle Distanziertheit, die Roosje den schrecklichen Ereignissen gegenüber an den Tag legt. Nach und nach aber wird deutlich: Es ist genau dieser Pragmatismus, der ihr in den Lagern zum Vorteil wird und ihr schließlich das Leben rettet.
"Als wir in Malmö anlegten, standen unzählige Leute zu unserer Begrüßung bereit. Ich winkte ihnen und sagte zu Martha, die neben mir stand: ´Jetzt fängt ein neues Leben an.`"
1945 wird Roosje Glaser vom schwedischen Roten Kreuz befreit. Sie kommt in ein Auffanglager in Malmö. Dort tut sie das, was sie schon immer am liebsten getan hat: Sie tanzt.
"Je länger ich tanzte, desto mehr geriet ich in eine Art Trance. Erst der dissonante Schlussakkord holte mich in die Wirklichkeit zurück. Leicht benommen, atemlos und schwitzend stand ich vor dem schweigenden Publikum, und als ich die Arme sinken ließ, brach tosender Applaus los. Der Tanz zum Bolero war für mich etwas ganz Besonderes. Er symbolisierte meine Befreiung."