Meike Stoverock: "Female Choice. Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation"
Tropen-Sachbuch, Stuttgart 2021
352 Seiten, 22 Euro
Das Ende der männlichen Zivilisation
11:22 Minuten
Biologin Meike Stoverock plädiert in ihrem Buch "Female Choice" für ein Ende der Unterdrückung der weiblichen Sexualität. Wie im Tierreich sollten die Weibchen den Zugang zu Sex kontrollieren. Viele Männer würden dann keine Partnerin mehr finden.
Christian Rabhansl: Männer haben es in unserer Zivilisation perfektioniert, über Frauen und über weibliche Sexualität zu bestimmen. Manchmal halten sie das dann sogar für die natürliche Ordnung. Mit so etwas muss man der Biologin Meike Stoverock nicht kommen. Sie hat "Female Choice" geschrieben, ein Buch über ein Ordnungsprinzip in der Natur, ein Ordnungsprinzip der Sexualität, in dem die Frauen die Wahl haben.
In einem Satz: Wie funktioniert das Prinzip Female Choice?
Meike Stoverock: Female Choice funktioniert so, dass Männer oder Männchen sich für den Geschlechtsakt, der an die Fortpflanzung gebunden ist, bewerben müssen. Sie müssen eine Leistung erbringen. Die Weibchen entscheiden dann, welcher Kandidat am geeignetsten ist, um überlebensfähigen Nachwuchs zu zeugen.
Rabhansl: Sie schreiben ausdrücklich, das ist kein Naturgesetz, aber es ist im Tierreich der statistische Normalfall. Verstehe ich das richtig?
Stoverock: Das ist richtig. Es gibt ein paar kleine Ausnahmen, bei denen die Modalitäten der Female Choice etwas anders funktionieren, aber dieses Prinzip der Damenwahl ist das am weitesten verbreitete Paarungssystem.
Rabhansl: Jetzt haben Sie sich gerade schon verbessert, Sie wollten erst Mann sagen und haben dann Männchen gesagt. Sie schreiben über Tiere, dann aber doch auch über den Menschen. Wenn Sätze fallen wie "Männchen wollen möglichst alle rumkriegen und die Weibchen lassen fast alle abblitzen", dann kann ich es ehrlich gesagt niemandem so richtig verdenken, wenn wir die Augen verdrehen. Ist das nicht eine Plattheit, mit der sich Evolutionsbiologen regelmäßig unmöglich machen?
Stoverock: Ich denke nicht, weil das tatsächlich auch vielfach der Lebensrealität von Männern und Frauen entspricht. Wenn Sie nur mal daran denken, dass es bis heute absolut gängig ist, dass der Mann den ersten Schritt macht, auch wenn wir an Street Harassment denken, also an sexuelle Belästigung im Straßenbild, dann sind es Männer, die Frauen hinterherrufen, hinterherpfeifen. Das sind alles Interessensbekundungen, und zwar nicht an einer Runde Mau Mau, sondern am sexuellen Austausch.
Unfreiwillige Enthaltsamkeit kann zu Aggressionen führen
Rabhansl: Deswegen sind Sätze gerechtfertigt, die anfangen mit: "Frauen sind …" und "Männer sind …"?
Stoverock: Nein, so pauschal sicherlich nicht. Aber diese statistischen Häufungen und diese statistischen Verteilungsmuster, die kann man in sehr vielen Bereichen bei Merkmalen beobachten, die nach der Standardnormalverteilung funktionieren. Das heißt, auf einen sehr großen Teil, zwischen 60 und 98 Prozent - je nachdem wo man die Grenze setzt - trifft ein Merkmal zu. Dann gibt es noch eine Minderheit drunter und drüber, auf die es nicht zutrifft. Diese mittlere Gruppe, diese Standardgruppe sozusagen, für die gelten tatsächlich vergleichbare Beobachtungen. Das heißt, ein Satz wie "Männer sind …", der meint natürlich nicht, "alle Männer sind …" oder "alle Frauen sind …", sondern "diese 60 bis 98 Prozent in der Mitte sind …".
Rabhansl: Das machen Sie in Ihrem Buch auch sehr deutlich. Das war ein bisschen gemein, dass ich so gefragt habe, weil Sie in Ihrem Buch das alles sehr differenziert beschreiben. Wenn wir noch mal auf dieses Prinzip der Female Choice kommen: Da nennen Sie als Daumenregel, 80 Prozent der Weibchen akzeptieren überhaupt nur 20 Prozent der Männchen. Dieses Prinzip habe sich durchgesetzt vom Hirschkäfer bis zum Hirsch. Alle folgen diesem Prinzip. Warum wir Menschen nicht?
Stoverock: Wir Menschen sind diesem Prinzip mehr oder weniger früher auch gefolgt, aber mit der Sesshaftwerdung änderte sich das, weil die Männer natürlich gesehen haben, dass das eine ganz – im wahrsten Sinne des Wortes – unbefriedigende Situation ist, wenn so viele Männer ohne Partnerin und damit ohne Zugang zu Sex bleiben. Denn unfreiwillige Enthaltsamkeit kann leicht auch zu Aggressionen führen. Deshalb mussten die Männer am Beginn der Sesshaftigkeit Lösungen finden, wie Frauen besser auf Männer verteilt werden können. Das haben sie dann leider Gottes auch getan.
Gegen Unterdrückung weiblicher Sexualität
Rabhansl: In Ihren Augen ist die Unterdrückung weiblicher Sexualität und die Unterdrückung von Frauen also nicht das Nebenprodukt unserer Zivilisation, sondern das Fundament unserer Zivilisation?
Stoverock: Richtig! Ich bin sehr fest davon überzeugt, dass eine Gruppe von Menschen, die nicht mehr nomadisch lebt, sondern anfängt, dauerhaft am selben Ort eng zusammenzusitzen, die kann nicht gedeihen, da ist kein Fortschritt möglich, wenn die Mehrzahl der Männer frustriert und potenziell aggressiv ist, weil sie eben keine Partnerin finden, weil sie nicht nach dem Female-Choice-Prinzip erwählt werden.
Rabhansl: Solche frustrierten Männer haben wir aber auch schon heute, obwohl unsere Gesellschaft nicht nach dem Female-Choice-Prinzip funktioniert oder zumindest nicht überwiegend. Trotzdem gibt es Männer, die ernsthaft glauben, es gäbe so eine Art Verschwörung von Frauen gegen sie, die sich dann als unfreiwillig im Zölibat Lebende bezeichnen, sogenannte Incels. Die haben schon so manches Massaker an Frauen angerichtet. Männer, die keinen Sex haben, die sind eine Zeitbombe, oder?
Stoverock: So drastisch würde ich es nicht formulieren, auch weil in aller Regel ein ziemlich langer Weg zu diesem Hass und der Gewaltbereitschaft hinführt. Zunächst einmal sind diese Männer unheimlich einsam, sie haben unerfüllte Sehnsüchte, die man ihnen kaum zum Vorwurf machen kann. Das würde Männer, glaube ich, zu sehr kriminalisieren, wenn man sagt, das sind tickende Zeitbomben. Aber es stimmt schon, im Bereich dieser unfreiwillig zölibatär lebenden Männer gibt es zumindest ein Gewalt- und Aggressionspotenzial, das man rechtzeitig abfangen muss. Man muss diese Männer im Grunde auffangen, bevor aus Einsamkeit Aggression wird.
Rabhansl: Aber erst mal würden die Ideen, die Sie in Ihrem Buch entwickeln, diese Probleme sogar noch verschärfen. Sie schreiben zwar nicht, dass Sie direkt zu einem Female-Choice-Prinzip zurückwollen, aber ich lese Ihr Buch schon so, dass sich Männer damit abfinden müssen, dass es künftig normal ist, dass sehr viele Männer niemals eine Partnerin haben werden und niemals nicht-gekauften Sex haben werden.
Stoverock: Ja. Das ist so. Für mich ist das Wichtigste, dass Frauen nicht mehr sexuell unterdrückt werden. Das bedeutet natürlich in gewisser Weise schon eine Rückkehr zu Female Choice. Frauen müssen die Menge und Häufigkeit ihrer Sexpartner völlig frei wählen, ohne dabei von irgendwelchen patriarchalen Zwängen geleitet zu sein.
Gleichzeitig muss man natürlich auch diese Männer auffangen. Akzeptieren, dass die weibliche Sexualität in Zukunft frei sein wird, das müssen sie. Da gibt es auch aus meiner Sicht nichts zu diskutieren. Aber natürlich will ich nicht sagen, das ist irgendwie dein Schicksal, nimm hin und der Rest ist mir egal. Sich nicht drum zu kümmern, das führt, glaube ich, viel eher zu Aggression oder Gewalt oder auch vermehrten Suiziden. Depression ist sicherlich das häufigere Merkmal, wenn man so lange einsam ist. Aber es gibt für mich tatsächlich nur den Weg, dass Frauen ihre Sexualität frei leben können.
Rabhansl: Das habe ich auch nicht infrage stellen wollen. Mich überraschen dann aber durchaus die Lösungen, die Sie vorschlagen, weil die so gar nicht feministisch klingen. Sie fordern zum Beispiel mehr Pornografie und mehr Prostitution.
Stoverock: Pornografie und Prostitution sind natürlich Vorschläge, die extrem polarisieren. Ich habe auch geschrieben, dass beide Industriezweige erst grundlegend reformiert werden müssen, damit Frauen - und natürlich auch männliche Sexworker - sicher dieser Arbeit nachgehen können. Im Moment, vor allem im Bereich der Prostitution, ist noch so viel Elend, Gewalt und Gefahr für die Frauen dabei, dass man wirklich nicht sagen könnte, ich empfehle die Prostitution als Incel-Prophylaxe. Aber mittelfristig, wenn man diesen Bereich auch wirklich liberalisiert und entkriminalisiert, sehe ich schon großes Potenzial, dass diese Frauen und Männer, Sexworkerinnen und Sexworker, Incel-Gewalt abfangen können.
"Wir brauchen eine androgyne Zivilisation"
Rabhansl: Sie schreiben am Ende Ihres Buches: Jetzt sind wir auch am Ende der männlichen Zivilisation. Sie schlagen uns stattdessen eine neue, androgyne Zivilisation vor. Wie kann ich mir die vorstellen?
Stoverock: Mein Ziel oder meine Vision ist keine Gesellschaft, in der die Frauen über die Männer bestimmen, das ist im Grunde genommen nur Patriarchat in Grün. Es geht mir nicht um eine Machtstellung der Frau, sondern es geht mir um Freiheit, es geht um Gerechtigkeit. Wenn man annimmt, dass die männliche Zivilisation eben nur so fortschrittlich wachsen konnte, weil sie auf der Ungerechtigkeit der unterdrückten weiblichen Sexualität basiert, dann ist das inhärent kein gerechtes System.
Kein Geschlecht sollte die Macht über ein anderes haben, keine Bevölkerungsgruppe die Macht über andere. Mir schwebt vor, dass man eine Zivilisation schafft, die die Grundlagen der Sexualität inkludiert, berücksichtigt, akzeptiert und in der alle Geschlechter gemeinsam die Möglichkeit haben, ihre Einflüsse geltend zu machen.
Rabhansl: Evolutionsbiologen denken in langen Zeiträumen. Werden wir das noch erleben?
Stoverock: Ich glaube tatsächlich, dass dieser Prozess sehr lange dauern wird. Das sind vor allen Dingen auch Prozesse, die oft nur von Generation zu Generation funktionieren. Wenn Sie überlegen, eine Generationsdauer ist 25 bis 30 Jahre. Insofern denke ich tatsächlich, dass man da mindestens in Jahrhunderten denken muss, wenn nicht sogar noch länger.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.