Birgit Birnbacher: "Ich an meiner Seite"
Zsolnay Verlag, Wien 2020
272 Seiten, 23 Euro
Wer sind wir ohne die richtigen Papiere?
04:11 Minuten
In der Reihe "Autor*innen empfehlen Autor*innen" lobt Helena Adler den Debütroman der Bachmann-Preisträgerin Birgit Birnbacher. Berichtet wird das Leben von Arthur, der sich vom wohlstandsverwahrlosten Privatschüler zum Internetbetrüger entwickelt.
Der Roman "Ich an meiner Seite" erzählt die wahre Geschichte eines 22-jährigen Kriminellen, der nach der Haft wieder Fuß fassen soll. Arthur befindet sich in einem Resozialisierungsprojekt, das aus WG und Therapie bei seinem schrägen Therapeuten Börd besteht.
Bei Börd weiß man nie genau, was einen als nächstes erwartet, und das verleiht dieser gesamten Therapie nicht nur einen skurrilen, sondern auch einen tragisch-komischen Kern. Weil seine Klienten ihn nicht vollquatschen sollen, sprechen sie ihre Lebensgeschichten auf Bänder, die sich Börd angeblich anhört. In Wahrheit berichtet ihm seine Assistentin Betty, die das eigentliche Hirn dieser ganzen Therapie und der zugrundeliegenden Studie ist, was seine Klienten wirklich bewegt.
Ein Unfall im bekifften Zustand
So erfährt man zum Beispiel, wie Arthur in seiner Kindheit nicht nur den Wohnort, sondern gleich die gesamte soziale Schicht wechselt – seine Mutter zieht mit den zwei Buben aus der trostlosen Eisenbahnersiedlung im kleinbürgerlichen Bischofshofen weg und eröffnet ein Luxushospiz in Andalusien.
Arthur wird zum wohlstandsverwahrlosten Geschäftsführerkind und Privatschüler und lernt schon während dieser Zeit das Handwerkszeug zum Internetbetrüger. Was ihn aus der Bahn wirft, ist ein Badeunfall in bekifftem Zustand: Seine Freundin stirbt während eines Bootsausflugs zu dritt, wo Arthur, abgelenkt durch eine lächerliche Macho-Aktion zwischen ihm und einem Freund, nicht bemerkt, wie sie ertrinkt.
Arthur bricht in Andalusien die Zelte ab und kehrt zurück nach Wien. Daraufhin beginnt die eigentliche Abwärtsspirale. Anschaulich wird beschrieben, wie er sich strafbar macht, und spannend ist, wie nachvollziehbar das wirkt. Im Gefängnis wird es erst richtig übel für Arthur, auch das wird in einer Rückblende anschaulich erzählt. Zwischen Arthur und Börd entwickelt sich eine eigenwillige Freundschaft zwischen zwei Verlierern; und wie nebenbei auch die verlockende Idee einer kleinen Lüge, die die große Freiheit bringen könnte.
Ehrlich und sensibel erzählt
Das eigentliche Thema dieses Romans ist: Wer sind wir, wenn wir nicht über die richtigen Papiere verfügen, auf denen steht, was wir können und wozu wir befugt sind? Birgit Birnbachers Roman liefert uns einige Betrachtungsmöglichkeiten, aber keine besserwisserischen Erklärungen oder schulmeisterhafte Wegweiser. Zum Schluss gibt es ein Ende, mit dem nicht unbedingt gerechnet werden kann.
Was ich an Birgit Birnbachers Sprache sehr schätze, ist, dass da trotz der vielen feinen und subtilen Nuancen immer auch eine ehrliche Bescheidenheit durchschimmert. Sie erhebt sich nie über ihre Protagonisten, sondern öffnet diesen Randfiguren die Tür, holt sie in unsere Mitte herein und bietet ihnen ein Platz an. Sie beleuchtet nicht, sondern sie protokolliert, mit ehrlichem Interesse, enormer Sensibilität und angenehmer Zurückhaltung. So wie Fräulein Smilla ein Gespür für Schnee hat, hat es Birgit Birnbacher für Zwischenmenschliches.