Europa wurde im Libanon geboren
Mit Figuren der griechischen Mythologie inszeniert das Regisseurinnen-Duo Julie Bertin und Jade Herbulot die Eurokrise. Das Duo nennt sich Birgit-Ensemble. Unser Kritiker hält die zwei jungen Frauen für die Entdeckung des diesjährigen Festivals in Avignon.
Auftritt Nina Hagen im Phantasiekostüm. Sie singt vor einer Wand, die quer durch den Spielraum geht und die Zuschauer in zwei Gruppen teilt: Berlin Ost und Berlin West. In einer gewaltigen Revue erzählten Julie Bertin und Jade Herbulot in "Berliner Mauer - Vestige" die deutschen Nachkriegsjahrzehnte. Die entstand vor drei Jahren eigentlich als Abschlussarbeit am Schauspielkonservatorium, wurde aber aufgrund des großen Erfolgs sofort auch in den Spielplan des Theatre Gérard Philippe im Pariser Norden übernommen. Die Arbeit wurde so zum Start in das Abenteuer einer ausgewachsenen Tetralogie über die großen Umwälzungen und Krisen Europas. Entworfen haben dies zwei Schauspielerinnen und Regisseurinnen, deren Geburt in die Zeit der Maueröffnung fiel.
Julie Bertin: "Wir wollten uns die individuelle und die kollektive Erinnerung neu aneignen und unser Erbe kritisch hinterfragen. Was für ein Europa erben wir da eigentlich? Wo sind wir aufgewachsen und unter welchen ideologischen Diskursen?"
Das Festival in Avignon gab den beiden Theaterkünstlerinnen nun die Möglichkeit, die letzten beiden Teile ihrer Europa-Trilogie in der Rhônestadt uraufzuführen. Das Birgit-Ensemble, wie sich die Truppe um die beiden jungen Regisseurinnen nennt, dokumentiert in "Dans les Ruines d’Athènes" – "In Athens Ruinen" die Verhandlungen der Politiker in der griechischen Schuldenkrise und schickt einige junge verschuldete Griechen in eine zynisches Fernsehshow.
Nach mythologischen Figuren sind die jungen hoch verschuldeten Teilnehmerinnen und Teilnehmer benannt, die hier für ihr finanzielles Überleben um die Gunst der Zuschauer buhlen müssen. Sie heißen Orest, Antigone, Iphigenie oder Medea.
Fernsehästhetik auf der Theaterbühne
Die Showmaster sind brillant verkörpert, die Verzweiflung der Kandidaten berührend. Natürlich entpuppt sich das Versprechen der Entschuldung mithilfe des Fernsehens als zynisches Spiel. Hochgradig unterhaltend ist die Verknüpfung ästhetischer Ebenen zwischen der Fernsehshow und den Theaterauftritten der Politiker auf einer höher gelegenen Spielebene. Jade Herbulot wundert sich über die in Frankreich gelegentlich noch geäußerten Vorbehalte gegen die Fernsehästhetik auf einer Theaterbühne.
"Wir sind in einer Welt der Bilder aufgewachsen. Wir haben kein moralisches Werturteil in Bezug auf Bilder, einem, das zwischen den guten und den schlechten Bildern unterscheidet, den guten und reinen des Theaters und den schlechten des Fernsehens und des Video, einem manipulierenden und pervertierten. Alle Bilder manipulieren irgendwie. Es wäre ein Missverständnis zu glauben, wir wollten die Fernsehbilder kritisieren."
"Memories of Sarajevo", der ebenfalls in Avignon uraufgeführte dritte Teil der Tetralogie, ist dokumentarisches Theater der virtuosen Art. Es erzählt vom Zerfall Jugoslawiens und von einer Geschichte des Balkan, der in Westeuropa kaum je richtig verstanden wurde.
"Ich habe das Gefühl, in einem okzidentalen Europa geboren zu sein. Das ist ein Europa, das auf seinen östlichen Teil und dessen Geschichte herabschaut. Wir wollten den östlichen und den westlichen Teil Europas wieder zusammenbringen. Deshalb gibt es in unserer Aufführung auch die mythologische Figur der 'Europa', von der ja erzählt wird, dass sie am Ostufer des Mittelmeeres, in Phönizien, im heutigen Libanon geboren wurde."
Das Birgit-Ensemble, das seinen Namen einer Figur aus dem ersten, dem Berlin-Stück entlehnt, ist die Entdeckung des diesjährigen Festivals. Mit ihm betritt eine junge Generation die französische Theaterbühne, die keine Angst vor dem großen Ganzen hat und sich ihre Geschichte mit naivem, unideologischen Erkenntnisinteresse aneignet. Ihre spielerischen Mittel sind verblüffend. Allerdings hat ihre Dramaturgie etwas enzyklopädisches und scheint eher den gängigen digitalen Quellen wie Google und Wikipedia zu vertrauen als eigener Recherche.