Birgit Hofmann: Der Prager Frühling und der Westen - Frankreich und die Bundesrepublik in der internationalen Krise um die Tschechoslowakei 1968
Wallstein Verlag Göttingen, Oktober 2015
480 Seiten, 39,90 Euro
Wie sich Prag 1968 auf deutsche und französische Politik auswirkte
Birgit Hofmann analysiert quellenreich die Auswirkungen des Prager Frühlings auf die deutsch-französischen Beziehungen. Beide Länder verfolgten eine so unterschiedliche Ostpolitik, dass die Revolte zum Streit der Regierungschefs führte.
Eine neue Ostpolitik wollte man Mitte der 1960er-Jahre links und rechts des Rheins machen. Frankreichs Präsident Charles De Gaulle verfolgte eine ganz eigene Strategie, einzelne Länder des Ostblocks als Nationen anzusprechen - in der Hoffnung, sie sukzessive aus dem Warschauer Pakt herauslösen zu können. In Bonn versuchte die Große Koalition unter CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger dagegen, mit dem SPD-Außenminister Willy Brandt nachbarschaftliche Beziehungen zu osteuropäischen Ländern aufzubauen, ohne die Sowjetunion in Besorgnis zu versetzten. Détente - "Entspannungspolitik" hieß beides.
In dieses Szenario hinein platzten 1968 die Ereignisse des Prager Frühlings. Zunächst war dieses "Reformexperiment der herrschenden politischen Eliten" lokal begrenzt, erklärt Birgit Hofmann. "Im Kern versuchte man, eine gesellschaftliche Liberalisierung durchzuführen." Doch das erwies sich als Projekt "ohne großen Masterplan". Denn bald schon zeigte sich, dass die Gemengelage des Kalten Krieges regionale Emanzipationsversuche kleiner Völker nicht erlaubte. Im August 1968 marschierten die Soldaten des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein.
Das schlimmste Gespräch zwischen De Gaulle und Kiesinger
Seit langem schwelende Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich brachen offen aus. De Gaulle warf Deutschland vor, die Ostpolitik der Bundesrepublik habe den Einmarsch provoziert. "Kiesinger brach darauf zusammen" berichtet die Historikerin Hofmann. "Er hatte das Gefühl: Das war das schlimmste Gespräch, das es zwischen einem französischen Staatschef und einem deutschen Kanzler jemals gegeben hat." Nicht gerade deeskalierend wirkte sich dabei aus, dass die tschechischen "Reformkommunisten sehr großes Vertrauen zur Bundesregierung hatten. Das erregte das Misstrauen der Franzosen."
So gibt die Krise von 1968 eine Blaupause auch für spätere Krisenbewältigungen im europäischen Raum ab. Obwohl weder die Bundesrepublik noch Frankreich unmittelbar von der Niederschlagung des Prager Frühlings betroffen waren, bewegten sie sich doch in einem gemeinsamen Referenzrahmen, "in dem die Handlungen der Akteure sich wechselseitig beeinflussen und bedingen", wie Hofmann schreibt. Beispielsweise hatte die kommunistische Partei Frankreichs große Probleme, dem großen Bruder in Moskau zu folgen: "Der Prager Frühling war somit einer von mehreren Entwicklungsschüben einer Distanzierung der Linken Frankreichs von Staatssozialismus und Moskautreue."
Interessant für die Leser zeigt sich in der quellenstarken Arbeit Birgit Hofmanns ein differenziertes Bild des "Übergangskanzlers" Kiesinger: "Kiesinger war offener, als man manchmal denkt, auch für Ansichten der SPD." Allerdings bremsten ihn erst die eigenen CDU-Hardliner aus, dann erlaubte seine Position zwischen den außenpolitischen Machtblöcken wenig Bewegung. "Diese Ostpolitik hatte schon ein utopisches Moment", urteilt die Historikerin. Die Früchte erntete wenige Jahre später Willy Brandt alleine. Auf ihn hat sich die Geschichtsschreibung der Ostpolitik bislang konzentriert.
Erkenntnistransfer für aktuelle deutsch-französische Befindlichkeiten?
Gibt es darüber hinaus Möglichkeit eines Erkenntnistransfers auf aktuelle deutsch-französische Befindlichkeiten? Man muss sich nur die Differenz in der aktuellen Rhetorik ansehen. Wo in Frankreich Kriegsmetaphern regieren, bleibt Deutschland tendenziell pazifistisch. "Eigentlich sieht man diese Linien schon 1968", sagt Birgit Hofmann. Aufgrund seiner Traditionen ist Frankreich "mit militärischen Lösungen schneller bei der Hand", während für Deutsche vermutlich noch immer typisch ist, was Kanzler Kiesinger 1968 über die sowjetischen Agressoren sagte: "Wir können doch nicht dem gereizten Bären auch noch ein Streichholz unter den Schwanz halten."
Zum Schluss zählt allerdings nicht die Entschlossenheit eines einzelnen Staates, sondern die europäische Zusammenarbeit: "Es kommt ganz wesentlich auf die Kooperation der Referenzpartner an." Der Kreis dieser Partner ist dabei meist viel größer, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Nicht getroffen zu sein, heißt keineswegs, nicht betroffen zu sein - das gilt für Prag 1968 wie für heute.