Birgit Kreipe: "Aire"
Gedichte
kookbooks, Berlin 2021
95 Seiten, 19,90 Euro
Skizzen, leicht in die Luft geworfen
05:54 Minuten
Gemäldegedichte beschreiben Gemälde nicht: Sie reagieren auf sie, bestehen neben ihnen als eigenes Kunstwerk. Die bildende Kunst kann ihnen im Dialog Kumpel, Sprungbrett, Sparringspartner, Steinbruch sein – und noch einiges mehr, zeigt Birgit Kreipe.
In der frühen Neuzeit hatte eine Gedichtart ihre Hochblüte, die man heute Gemäldegedicht nennt. Der Dichter Thomas Kling hat sie in einem Vortrag einmal ganz nüchtern bestimmt: "Ein Gemäldegedicht ist dichterische Schrift parallel zu Erzeugnissen und mit, mit Hilfe, der bildenden Kunst." Das entscheidende Wörtchen in dieser Definition ist "parallel".
Es geht nicht darum, einfach den Inhalt eines Bildes mit dem Gedicht zu beschreiben, sondern dem Kunstwerk eine eigene dichterische Sprache an die Seite zu stellen. Kling interessierte sich in einer etymologischen Engführung von Malen und Schreiben vor allem für die verfilzten Ränder, für das "Ab- und Ausgegrenzte" in Gemälden und Sprachen, für Schmutz- und Fleck- und Farbworte.
Inszenierungen von Metamorphosen
Die Dichterin Birgit Kreipe kennt das Mäandern in den Grenzbereichen von Bildern und Wörtern nur zu gut. Sie dreht Klings Vorstellungen auf ganz eigene Art und Weise weiter – und Fleck- und Farbworte spielen in dieser Bewegung eine entscheidende Rolle. In ihrem vierten Gedichtband entwirft sie ganze Serien von Gemäldegedichten, fern aller Beschreibung oder umgekehrten Illustration.
Vielmehr nimmt sie Bilder von Francesca Woodman oder Gerhard Richter gleichsam als Sprungbretter für sehr assoziative Versformationen, nutzt rhythmische Muster oder Wassermetaphern für Reisen in die Innenwelt der Sprecherin. Dabei lässt sie sich immer wieder von den Farbnuancen der Bilder anregen oder trägt deren Stoffschichten ab, um dahinter nicht zuletzt die Verwandlungen des Unbewussten zu entdecken.
"Aire", wie der Titel des Buches lautet, ist ein Wort, das man in verschiedenen Sprachen finden kann. Es versammelt so unterschiedliche Bedeutungen wie "Luft", "Fluss" oder einfach nur "Platz". Von daher passt es ideal zu den sehr offenen Bedeutungsfächern von Kreipes Versen. Es gibt in diesem Band großartige Verse, die Metamorphosen inszenieren, das kann ein gewöhnlicher Umzug genauso sein wie eine schwere psychische Erkrankung.
Oder ein Gleiten durch die Meereswelt des eigenen Bewusstseins. Hier richten sich "ohrenquallen" auf, "lauschen / in ihrem schlecht leitenden medium". Und inmitten dieser Sphäre wird eine Bewegung spürbar, "als arbeiteten tausend flügel im wasser".
Traumbilder und sprachliche "glutnester"
Am intensivsten aber wirken die Gemäldegedichte nach. Gleich drei Zyklen gelten der Künstlerin Francesca Woodman, die sich 1981 mit gerade 22 Jahren in New York das Leben nahm. Woodmans Schwarz-Weiß-Ffotografien, die in harten und genau komponierten Figurationen fast immer den eigenen Körper inszenieren, übersetzt Kreipe in sprachliche Gefüge aus Fragen, Bildblitzen und rhythmischen Verschiebungen.
Mal schwingt im Hintergrund Inger Christensens "Schmetterlingstal" mit, mal eine Melange aus antiken Mythen. Stets aber gelingt es Kreipe, psychologische Fachsprache mit eigenen Findungen so zu verschränken, dass die Verse bisweilen selbst wirken wie "skizzen / leicht in die luft geworfen".
Das zeigt sich vor allem in den Gedichten zu Gerhard Richters "Park"-Serie. Wo Richter Fotografien durch Übermalung in abstrakte Formationen verwandelt, nutzt Kreipe die abstrakten Gebilde, um konkrete Dinge und Wesen zu imaginieren, "gottesanbeterinnen" etwa oder "reste von staubblumen-vögeln". Wie sie aus Richters Farbflächen psychische Landschaften herausarbeitet, ist eine Kunst für sich. In ihren Rhythmen überlagern sich die Unruhe dieser pandemischen Zeit, Traumbilder und sprachliche "glutnester" zu einem "allerorts brennenden mai".