Birthler: Archive müssen offen bleiben

Marianne Birthler im Gespräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler |
Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU), Marianne Birthler, hat über die Arbeit ihrer Behörde hinaus eine dauerhafte Zugänglichkeit der Stasi-Akten gefordert. Es sei von Beginn an klar gewesen, dass die BStU eine befristete Einrichtung sei, erklärte die ehemalige Bürgerrechtlerin. Eine Prognose, wann diese auslaufen werde, wagte Birthler aber nicht.
Deutschlandradio Kultur: War es nun ein großer Erfolg oder eine Panne, dass Ihre Mitarbeiter jetzt oder eben erst jetzt die Akte des Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras gefunden haben, der ein Spion des Staatssicherheitsdienstes gewesen ist?

Marianne Birthler: Na, wenn man solche Akten zur Kenntnis nimmt, ist es immer zweierlei. Zum einen ist es Erschrecken darüber, was drin steht. Das ist ja nun wirklich alles andere als eine erfreuliche Nachricht, dass dieser Todesschütze bei der Stasi war. Auf der anderen Seite bin ich sehr froh, dass wir mit unseren Aktenbeständen dazu beitragen können, die Dinge zu erhellen. Das war kein Zufall. Zufall ist es, wenn ich zehn Euro auf der Straße finde. Sondern im Zusammenhang mit Recherchen zu einem benachbarten Thema ist diese Akte aufgetaucht und dann zum Glück von einem Kollegen auch identifiziert worden als eine, die gesellschaftlich und politisch höchst relevant war. Das ist dann auch veröffentlicht worden. Darüber bin ich froh, dass wir das können. Das ist ja keine Selbstverständlichkeit, dass die Akten der Staatssicherheit nicht nur nicht vernichtet wurden, sondern auch noch zugänglich sind.

Deutschlandradio Kultur: Aber man fragt sich schon, warum ist es keinem Ihrer Mitarbeiter früher aufgefallen, denn die Akten wurden ja aufgearbeitet, die liegen ja schon seit vielen Jahren aufgearbeitet im Archiv?

Marianne Birthler: Na, um Akten zu finden, muss man ja erstmal auf einem bestimmten Gebiet forschen. So läuft es ja in allen Archiven der Welt. Kein Archivar kennt alles, was in seinen Archiven schlummert, nirgendwo, sondern die Dinge tauchen auf, wenn jemand ein bestimmtes Thema bearbeitet, wenn man eine bestimmte Frage stellt oder eine Hypothese hat, die man mit Hilfe der Akten beweisen will. So werden Details aus den Akten aufgefunden. Wenn jemand fünf Jahre eher auf die Frage gekommen wäre, hat denn der Kurras vielleicht für die Stasi gearbeitet, dann hätten wir die Akte gezogen und er hätte sie bekommen.

Nicht mal der Autor dieses Buches "Wer erschoss Benno Ohnesorg?", das ja erst vor wenigen Jahren erschienen ist, ist auf die Idee gekommen, bei uns eine Anfrage dazu zu stellen. Also, das ist der übliche Weg, wie Geheimnisse aus Archiven auftauchen, nicht nur bei uns. Wir publizieren ja nicht unsere sämtlichen Akten. Das ginge ja gar nicht. Wir forschen selber. Wir haben eine kleine Forschungsabteilung zu bestimmten Themen, natürlich nicht zu allen. Ansonsten sind wir in erster Linie Dienstleistungsinstitution und geben Akten auf Anfrage für bestimmte Forschungsprojekte heraus. So wäre es auch hier gekommen, wenn jemand gefragt hätte. Das ist aber nicht. Aber wir sind eben bei Gelegenheit anderer Recherchen auf diesen Fall gestoßen.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Frage ist ja schon, wie wird man aufmerksam? Und es fällt auch auf, dass beispielsweise Ihre Mitarbeiter erst eine Veröffentlichung geplant haben in einer Fachzeitschrift und nicht zuerst die Staatsanwaltschaft informiert haben. Denn Sie sind ja auch eine Rechtschutzbehörde und Kurras hat ja wirklich Leuten geschadet, die daran auch noch interessiert sein könnten, wie sehr er ihnen geschadet hat.

Marianne Birthler: Also, Sie können mir glauben, dass ich überhaupt nicht erfreut war, als ich von dieser Akte erst erfahren habe, unmittelbar bevor sie das Licht der Öffentlichkeit erreicht hat, obwohl der zuständige Wissenschaftler sie schon mehrere Wochen zuvor kannte. Das klären wir gerade im Hause. Das müssen wir auswerten. Ich bitte um Verständnis, wenn ich da jetzt keine Details sage. Das gefällt mir nicht. Ebenso wenig gefällt mir, dass vorab eine Zeitung und eine Fernsehstation diesen wichtigen Sachverhalt zur Kenntnis bekommen haben und die anderen nicht. Das ist eigentlich nicht Stil unseres Hauses. Eigentlich ist es bei uns so, dass, wenn interessante Dinge bei Gelegenheit von Recherchen auftauchen, ich die erstmal auf den Tisch bekomme und dann überlegen wir, was heißt das jetzt. Läuft bei uns gerade ein Forschungsantrag zu dem Thema, so dass wir diese Unterlagen da mit rein geben, dass das da mit verwertet werden kann oder machen wir selber ein Forschungsprojekt daraus? Also, so läuft es normalerweise. In diesem Fall war es leider anders, aber schließlich bleibt, dass dieser wichtige Sachverhalt die Öffentlichkeit erreicht hat, wenn auch auf einem etwas ungewöhnlichen Weg.

Deutschlandradio Kultur: Noch mal die Frage: Gibt es denn bei Ihnen ein System, ein Warnsystem, das sagt, hier müssen wir die Staatsanwaltschaft doch noch informieren?

Marianne Birthler: Ja natürlich, das ist sogar gesetzliche Vorschrift. Das haben wir jetzt inzwischen auch gemacht. Also, sowie wir Unterlagen finden, die entweder strafrechtlich relevant sein könnten oder wo es um Stasizusammenarbeit einer Person geht, die heute noch in Amt und Würden irgendwo ist, dann haben wir die Pflicht, den zuständigen Stellen Mitteilung zu machen. Das haben wir auch in diesem Fall gemacht, wenn auch durch das Verfahren, was ich eben geschildert habe, mit einer gewissen Verzögerung.

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem gibt es Kritiker, die sagen, diese Stasiunterlagen, die sind ungenügend erschlossen worden, sonst hätte man schon früher auf solche Fälle aufmerksam gemacht werden können. Das finden Sie falsch. Ist das Quatsch?

Marianne Birthler: Also, wir sind sehr stolz darauf, was wir schon geschafft haben bezogen auf die Erschließung. Also, jetzt muss ich ein paar Zahlen nennen, auch wenn das vielleicht langweilig ist. Wir haben mehr als 110 Aktenkilometer nur an Papier. Von diesen 110 Kilometern sind 50 Kilometer bereits vom Ministerium für Staatssicherheit archiviert worden, die sind da schon alle wohl sortiert zugriffsfähig, aber nur personenbezogen zugriffsfähig. Da gibt es keine Stichworte, Schlagworte oder so was. Dann gibt es die anderen 60 Kilometer. Die sind weder personen- noch sachbezogen zugänglich. Das sind die ganzen Ordner, die man aus den Büros der Offiziere damals zusammengeholt hat, Strippe drum und dann erstmal ab ins Regal. Da wussten wir überhaupt nicht, was drin ist, weder nach Personen noch nach Themen. Natürlich haben wir uns dann, als es darum ging, die Akten nach und nach sorgfältig zu erschließen, das heißt, man nimmt jede Akte in die Hand und gibt Stichworte, Namen, alles, was da drin vorkommt, in eine riesengroße Datenbank ein, natürlich auf das konzentriert, wo wir gar nichts drüber wussten, also, auf die Unterlagen aus den, wir nennen sie immer, Diensteinheiten. Und immerhin haben wir von den dort herstammenden 60 Kilometern jetzt schon 48 Aktenkilometer erschlossen.

Und das ist wirklich eine unglaubliche Leistung. Das muss ich hier mal zur Verteidigung meiner Kollegen sagen. Der Preis dafür ist, dass diese anderen Unterlagen, die bereits archiviert waren, nach wie vor nur personenbezogen zugänglich sind. Und dazu gehörte die Akte Kurras. Wer also nach der Person gefragt hat, konnte sie schon immer bekommen. Aber, mal angenommen, jemand hätte versucht in die Datenbank Ohnesorg einzugeben oder so, dann wäre man noch nicht auf die Akte gestoßen, aber das wissen Wissenschaftler, die mit unseren Akten arbeiten. Deswegen werden, wenn es große Forschungsprojekte gibt, immer auch zahlreiche Personenrecherchen ausgelöst.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie denn genügend, sagen wir mal, geeignete Mitarbeiter, die das schaffen? Es läuft ja immer das Gerücht um, man könne das schneller machen. Private Firmen würden schneller archivieren, vielleicht auch das Bundesarchiv. Warum ist das in Ihrer Behörde ein so schwieriges Unterfangen?

Marianne Birthler: Das sind alles Wunschträume. Normalerweise kriegt das Bundesarchiv vorsortierte Unterlagen aus Ministerien, aus Behörden usw. und da gibt es auch schon komplette Übergabelisten. Das heißt, das Bundesarchiv weiß dann auch, was es bekommen hat. Das ist bei den Stasiakten ganz anders. Und wir haben eine große Zahl ausgebildeter Archivare, die sehr viel arbeiten. Wir rechnen ungefähr, dass ein Archivar, wenn er nichts anderes tut, als Akten erschließen, schafft der im Monat drei bis vier Meter Akten zu erschließen. Das sind dann aber keine besonders schwierigen Fälle, sondern ganz normale Stasiunterlagen. Wenn Sie das jetzt hochrechnen, stellen Sie fest, dass für einen einzigen Aktenkilometer ein Mitarbeiter 25 Jahre beschäftigt sein müsste.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt dann aber auch, dass der Kulturstaatsminister Neumann Ihre Arbeit nicht richtig versteht. Weil er fordert in dem Zusammenhang mit Kurras mehr Effizienz in Ihrer Behörde und sagt, immerhin gibt er ja 100 Millionen aus seinem Etat.

Marianne Birthler: Also, wir legen ja alle zwei Jahre dem Bundestag einen Tätigkeitsbericht vor. Zum Bundestag gehört auch der Kulturstaatsminister. Und bis jetzt haben uns der Bundestag und die Behörde für unsere Arbeit immer gelobt. Ich weiß jetzt nicht, bei welcher Gelegenheit er das gesagt hat. Das war vielleicht ein Interview. Aber diejenigen, die sich sorgfältig mit diesen Dingen auseinandersetzen, auch die Mitarbeiter seiner Behörde, würden, glaube ich, so eine Behauptung nicht wiederholen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben es eben schon erwähnt. Sie haben 16.000 Aktensäcke mit geschreddertem Material. Und dieses Material ist wichtig für Sie, aber warum. Warum ist das so wichtig? Warum könnte man nicht sagen, okay, wir haben genug Akten im Regal stehen?

Marianne Birthler: Geschreddertes Material gibt es auch, aber das ist nicht der Inhalt dieser 16.000 Säcke, sondern damals, als die Stasioffiziere noch versucht haben hektisch so viel Material wie möglich unbrauchbar zu machen, haben sie verbrannt und verkollert, da macht man so Papier, haben auch geschreddert, und das wurde alles nicht richtig. Dann haben sie die Akten aus den Ordnern rausgenommen, Müllsäcke genommen, sie grob zerrissen und in die Säcke gestopft. Und bis jetzt wird der Inhalt dieser Säcke manuell rekonstruiert. Da haben wir schon fast 400 Säcke leer geräumt und wiederhergestellt. Dabei haben wir festgestellt, der Inhalt ist sehr, sehr interessant. Und das ist ja eigentlich auch logisch, wenn Stasioffiziere in letzter Minute versuchen, etwas zu vernichten, dann gehen die ja nicht ins Archiv und holen die alten Vorgänge aus den 60er Jahren raus, sondern die nehmen, was sie gerade zur Hand haben, was sie auf dem Tisch haben, was im Handregal ist oder das, wovon sie meinen, oh, das muss am schnellsten weg, das darf keiner in die Finger kriegen. Deswegen ist der Anteil sehr interessanter Unterlagen, kompletter Täter- und Opferakten und vor allen Dingen von Akten, die noch in der letzten Zeit der DDR in der Bearbeitung waren, relativ hoch in diesen Säcken.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man etwas zurückschaut, dann kann man sagen, viele Opfer wollten rauskriegen, ob sie bespitzelt wurden, wenn ja, von wem, ob das in unmittelbarer Nachbarschaft war. Das ist sicherlich ein Schwerpunkt der letzten Jahre gewesen. Ist es auch noch das Thema 20 Jahre nach dem Fall der Mauer?

Marianne Birthler: Also, vom Arbeitsvolumen her ist es immer noch das, was uns am meisten beschäftigt, das Recht aller, die das wünschen, ihre eigene Akte zu sehen. Inzwischen haben 1,7 Millionen so einen Antrag gestellt. Es gibt natürlich nicht zu jedem eine Akte - ungefähr zur Hälfte derer, die einen Antrag stellen. Bei manchen ist es nur eine einzelne Karteikarte und manche haben einen ganzen Tisch voller Ordner. Und das Interessante ist, dass das Interesse nicht nachlässt. Wir haben 2007, alleine in einem Jahr, über 100.000 solcher Anträge bekommen. Danach ging es zurück. Jetzt steigt es gerade wieder an. Und jeder dieser Akteneinsichtsanträge macht eine Menge Arbeit.

Ich freue mich trotzdem über diese Zahl, weil das ja zeigt, dass es unglaublich viele Menschen gibt, die Nein sagen zum Schweigen, die wollen es wissen für sich ganz persönlich. Das sind dann keine Sachen, wissen Sie, die die Zeitungen erreichen, die die Medien erreichen. Damit sind die Leute alleine und sie sprechen in ihrem Freundeskreis, in der Familie drüber, aber man darf das nicht unterschätzen. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Beitrag dafür, dass in der Öffentlichkeit, in der Gesellschaft über das Vergangene geredet wird.

Eine zweite wichtige Aufgabe ist, dass wir Unterlagen herausgeben an Medien, an Wissenschaftler für bestimmte Aufarbeitungszwecke. Das nimmt auch zu von Jahr zu Jahr. Das ist eher mehr als weniger. Jetzt gerade in Verbindung mit 20 Jahre Revolution, 20 Jahre Mauerfall ist das Interesse besonders groß. Dann die weitere Erschließung des Archivs, das ist sehr wichtig. Und wir haben noch einen Auftrag, den hat kein Archiv. Wir haben einen gesetzlichen Aufarbeitungsauftrag. Das heißt, wir sollen die Struktur, die Wirkungsweise, die Methoden der Staatssicherheit erforschen beziehungsweise zu ihrer Erforschung beitragen und wir sollen die Öffentlichkeit darüber unterrichten. Also kurz gesagt, ist das politische Bildung. Wir konzentrieren uns da sehr stark darauf, dass wir Unterrichtsmaterialien entwickeln für die Schulen, für die Lehrer, dass wir Veranstaltungen machen, Lehrerfortbildungen. Und das wird erfreulicherweise von Jahr zu Jahr mehr nachgefragt. Da ist aber auch noch sehr viel zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Und trotzdem sagen Sie selbst, dass es eine Menge guter Bücher gibt über die Staatssicherheit, aber sie werden vom Publikum, also, außer den Historikern, die sich vielleicht dafür interessieren müssen, nicht gelesen.

Marianne Birthler: Das stimmt leider. Also, es gibt eine große Kluft zwischen dem, was wir eigentlich schon über die Staatssicherheit wissen, also, was wir auch für gesicherte Erkenntnisse haben, und dem, was in der Öffentlichkeit angekommen ist. Das müssen wir versuchen zu überbrücken. Das ist nicht so einfach. Es gibt Leute, die sich dafür nicht interessieren. Im Westen halten Viele das Thema Stasi für so ein ostdeutsches Regionalthema oder manche Leute verweigern sich auch, die Dinge zur Kenntnis zu nehmen - entweder, weil es ihnen zu weh tut, oder weil sie es nicht wahrhaben wollen. Es ist ja auch schmerzlich manchmal, sich an diese Zeit zu erinnern. Und das wollen dann auch Viele nicht. Das ist ein Problem. Ich kann aber wenigstens sagen, dass die Entwicklung in die richtige Richtung zeigt. Also, es sind von Jahr zu Jahr doch mehr Anfragen, zum Beispiel aus Schulen, allerdings ausgehend von einem eher bescheidenen Niveau. Es reicht mir noch lange nicht.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie jetzt von einem Aufarbeitungsauftrag reden, dann könnte man sich sicherlich auch die Frage stellen, ist dieser Bereich Stasitätigkeiten im Westen in den letzten Jahren nicht vielleicht so aufgearbeitet worden, wie Sie sich das vorgestellt haben. Wird das jetzt 20 Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Fall Kurras möglicherweise mehr in den Vordergrund geschoben?

Marianne Birthler: Es sieht im Moment ganz so aus. Auch gibt es einen Unterschied. Es gibt schon reichlich Publikationen zu dieser Frage. Wir wissen darüber auch schon einiges. Also, alleine wir haben acht ziemlich umfangreiche Bücher zum Thema Westarbeit des MfS herausgegeben. Andere sind in Vorbereitung. Also, man kann nicht sagen, dass das Thema brach gelegen hat, aber es gibt, glaube ich, immer so Phasen, wo die Öffentlichkeit schwer für ein Thema zu interessieren ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie können das Thema ja auch setzen!

Marianne Birthler: Ja, wir tun es ja. Wir tun es mit Veranstaltungen, mit Publikationen und sehr viel mehr Möglichkeiten haben wir nicht. Axel Springer hat jetzt gerade eine große Studie bei uns in Auftrag gegeben bzw. hat ein Institut beauftragt, die mit Hilfe unserer Unterlagen das bearbeiten. Da wünschte ich mir noch mehr. Es wäre wunderbar, wenn die Berliner Polizei jetzt sagen würde, also, der eine Fall wird uns jetzt mal zum Anlass, mal zu gucken, was war denn noch so los. Nicht nur, wer war Spitzel, das ist auch eine interessante Frage, aber klüger wird man eigentlich auch noch durch andere Fragen. Wo haben sie versucht, Entscheidungen zu beeinflussen? Was hat sie interessiert? Was haben sie weitergeleitet? Das sind hoch spannende Fragen. Es ist nicht unsere Aufgabe, diese alle zu erforschen. Wir unterstützen diese Forschung, indem wir die notwendigen Unterlagen dafür bereitstellen und auch beraten bei der Erforschung dieser Themen.

Deutschlandradio Kultur: War es dann Ihrer Meinung nach ein Fehler, dass der Bundestag abgelehnt hat, eine historische Studie in Auftrag zu geben über die Legislaturperioden vor 1990?

Marianne Birthler: Also, was den letzten Antrag, die letzte Debatte in der vorherigen Woche da betraf, war es meiner Ansicht nach richtig, diesen Antrag abzulehnen, weil der erstens keine gesetzliche Grundlage hatte: Man hätte so gar nicht vorgehen können. Was nicht heißt, dass dieses Thema nicht zu Recht angesprochen wurde. Ich finde es schon ein wichtiges Thema zu erforschen, ob es Einflüsse, nicht nur der Stasi, sondern auch der SED oder auch der Gewerkschaft oder auch von wem auch immer, gegeben hat in der Bundesrepublik; wie man versucht hat einzuwirken auf Politik, auf Friedensbewegungen, auf Studentenbewegungen. Das ist schwierig herauszufinden, weil die Überlieferungslage, was die Westarbeit des MfS betrifft, eher mager ist. Das hängt mit den Anfangsjahren zusammen. Aber die Erfahrung zeigt, dass man doch eine ganze Menge erfahren kann, wenn man es nur versucht.

Insofern, was den Bundestag betrifft, bin ich gespannt, wie die Debatte weiter verläuft. Wir unterstützen das gerne, aber wir können das natürlich nicht selber machen. Wenn man wirklich eine umfangreiche Untersuchung machte, wäre es ein sehr, sehr großes Forschungsvorhaben, weil sie sich nicht nur auf die Abgeordneten konzentrieren dürften, denn die Staatssicherheit hat ja vorzugsweise mit der zweiten und dritten Reihe gearbeitet. Also, denen war manchmal ein Büroleiter oder persönlicher Referent viel wichtiger als die Abgeordneten, weil Abgeordnete kommen und gehen, aber der Stab bleibt. Also, die sehr wichtigen IM aus dem politischen Feld waren selten die aktiven Politiker, sondern sozusagen ihr Hinterland. Das müsste man natürlich in eine solche Untersuchung mit einbeziehen.

Deutschlandradio Kultur: Ist denn der Eindruck falsch, dass man glaubt, die westlichen Eliten haben gar kein so großes Interesse daran, genau aufzuarbeiten, wie stark der Stasieinfluss im Westen zu Zeiten der DDR war?

Marianne Birthler: Ich erlebe da zwei ganz gegensätzliche Diskussionen. Es gibt also doch nach wie vor sehr viele, die mit den Schultern zucken und sich abwenden, wenn sie Stasi hören, weil sie meinen, das hätte mit dem Westen überhaupt nichts zu tun, das sollen mal die da drüben machen, fast wörtlich sagen die das dann. Und dann gibt es aber wieder sozusagen auf der ganz anderen Seite solche, die meinen, das allerallerwichtigste Thema wäre die Westarbeit des MfS und verlangen von uns, dass wir alles andere zurückstellen, um das endlich aufzuhellen. Beides natürlich wird der Sache nicht gerecht. Das Thema Stasi im Westen ist ein wichtiges Thema, aber es ist natürlich nicht unser einziges. Man muss das nicht alternativ diskutieren. Unsere kleine Forschungsabteilung bearbeitet ja einerseits Westarbeit, aber natürlich auch internationale Zusammenhänge innerhalb des Ostblocks. Sie versucht herauszufinden, wie in der DDR SED, Massenorganisationen, Stasi zusammengearbeitet haben. Sie macht Oppositionsforschung und so.

Also, wir haben ganz viele Themen und ich könnte jetzt auch gar nicht sagen, was mir das wichtigste und liebste wäre. Und wir entscheiden das ja auch nicht so nach Gefühl und Wellenschlag, was wir machen, sondern wir haben ein wissenschaftliches Beratungsgremium mit externen Wissenschaftlern, mit denen wir unsere Forschungsprojekte beraten. Also, die werden erstmal entwickelt von uns oder von den Wissenschaftlern, muss ich genauer sagen. Dann werden sie mit uns, mit der Behördenleitung, besprochen. Und dann diskutieren wir sie mit diesem wissenschaftlichen Beratungsgremium, übrigens ein Gremium, was vom Deutschen Bundestag eingesetzt wurde, also, wo sehr unterschiedliche Fachleute sind. Die sind da gerade mal durchgegangen und haben all die Projekte begutachtet. Aber im Großen und Ganzen ist das ein sehr breit diskutiertes Feld.

Und Schwerpunkte liegen natürlich darin, dass wir sagen, die Stasiunterlagenbehörde soll das erforschen, was andere nicht erforschen dürfen, weil es Projekte sind, die einen Aktenzugang voraussetzen, der externen Wissenschaftlern noch nicht möglich ist. Und das liegt an den Besonderheiten der Stasiunterlagen. Es gibt ja durchaus auch Unterlagen, die dürften eigentlich gar nicht verwendet werden, weil sie unter Verletzung von Menschenrechten erhoben worden sind, sind datenschutzrechtlich also gesperrt für die Herausgabe. Und wenn wir da die Einwilligung der Betreffenden nicht haben, können wir sie auch nicht herausgeben. Das war ja überhaupt der Grund, weshalb unsere kleine Forschungsabteilung gebildet wurde, damit diese Forschungsfelder, solange dieser Datenschutz so notwendig ist, nicht brachliegen.

Und natürlich konzentrieren wir uns auf solche Forschungsgebiete, die aus diesem Grund dann von anderen nicht zu bearbeiten sind, plus Grundlagenforschung. Das, was kein anderer machen will, Institutionenkunde und so was alles. Besonders dramatisch finde ich es immer, wenn die sogenannten Multiplikatoren, damit meine ich immer vor allen Dingen Pädagogen, Journalisten, also, Leute, die auch auf die öffentliche Meinung einen starken Einfluss haben, meinen, das sei kein interessantes Thema. Das ist bedauerlich, weil das Thema SED-Diktatur im Allgemeinen und Stasi im Besonderen schon wichtig ist. Also, einmal für unser Selbstverständnis, es gehört einfach zur Kultur einer Gesellschaft, dass sie weiß, woher sie kommt und was war. Man ist es auch, denke ich, den Opfern gegenüber schuldig, an die Zeit zu erinnern.

Aber es kann uns, glaube ich, auch mit Blick auf Gegenwart und Zukunft einiges bringen. Also, wer sich intensiv damit beschäftigt, wie es sich lebt innerhalb einer Diktatur und was Menschen anderen antun können, wird vielleicht, so hoffe ich jedenfalls, etwa sensibler für die Gefährdungen der Demokratie. Für mich ist das meine Hauptmotivation, warum ich überhaupt dieses Amt auch gerne ausübe, dass ich sage, vielleicht lernen wir mal aus der Vergangenheit oder vielleicht begreifen Menschen, wenn sie solche Schicksale zur Kenntnis nehmen, wie wertvoll es ist, in Freiheit und Demokratie zu leben. In der Arbeit mit Jugendlichen zum Beispiel bemühen wir uns ja, ihnen das Thema nahezubringen, indem wir nicht Zahlen, Daten, Fakten in Vorträgen anhäufen, sondern ihnen vielleicht nur an ein, zwei, drei Einzelschicksalen deutlich machen, was das hieß, Jugendlicher in der DDR zu sein. Was es hieß, wenn man Punk war und nur wegen bunter Haare in die Fänge der Stasi kam oder mit seinem Freund mal über die Mauer wollte und der eine wurde erschossen, der andere festgenommen. Oder was es heißt, wenn eine 16-Jährige von der Staatssicherheit zum Spitzel gemacht wird. Da arbeiten wir direkt mit den Akten. Wir entwickeln Unterrichtsmaterial. Da finden sie die Akten im Faksimile und dazu natürlich ergänzende Informationen, die es den Lehrern, den Schülern möglich machen, zu verstehen, was ist da passiert. Damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Wenn man sich mal in so ein Schicksal vertieft hat, das ist vielleicht für Jugendliche wichtiger, als wenn sie einen Vortrag von mir hören.

Deutschlandradio Kultur: Könnte es denn sein, dass es auch eine deutsche Besonderheit ist. Die Polen machen das beispielsweise anders. Sie haben nicht diese Aufarbeitung der Archive. Sie haben sich für einen anderen Weg entschieden. Sie gehen mehr Richtung EU. Vielleicht war das für sie wichtig.

Marianne Birthler: Das war mal Anfang der 90er Jahre. Der Mainstream in Polen hat gesagt, das machen wir nicht. Wir gucken nach vorne. Wir gucken nicht zurück. Das hat sich nach ein paar Jahren erledigt, nämlich spätestens dann, als man gemerkt hat, dass die verschlossenen Archive gefährlicher sind, als die offenen, weil ja immer was durchsickert. Und dann muss man damit umgehen.

Und inzwischen gibt es in insgesamt, mit uns zusammen, sieben Länder aus dem früheren Ostblock, in denen es vergleichbare Institutionen gibt. Wir haben uns auch vernetzt. Und in Polen, in Warschau, ist die größte Institution. Das ist das IPN, also, das Institut der nationalen Erinnerung. Das ist inzwischen größer als unsere Stasiunterlagenbehörde. Und wir arbeiten eng mit denen zusammen. Also, sie haben umfangreiche Archive. Sie forschen. Sie haben sogar staatsanwaltliche Kompetenzen. Und wir arbeiten in dem Netzwerk der Institution, die sich mit den Geheimpolizeien der Kommunisten beschäftigen, auf das Engste zusammen. Jetzt im Juni haben wir zum Beispiel ein großes Jahrestreffen hier in Berlin, wo wir diesmal speziell über Fragen der politischen Bildung sprechen. Das ist jedes Mal ein anderes Thema.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja auch einen Brief in den Kreml geschickt als Netzwerk, um der russischen Bürgerrechtsbewegung "Memorial" zu helfen. Haben Sie eine Antwort bekommen?

Marianne Birthler: Keine Antwort. Ich bin froh, dass jetzt, wenn ich auf dem richtigen Dampfer bin, das letztinstanzliche Urteil so war, dass "Memorial" diese Datenträger wieder zur Verfügung gestellt werden. Ob sie sie wirklich bekommen haben, steht noch dahin. Ich weiß nicht, was dazu geführt hat. Unser Brief war ja nicht die einzige internationale Stimme, aber, ich finde, das waren wir uns einfach schuldig und auch den Leuten, die wirklich dort gegen große Widerstände versuchen, etwas für die gemeinsame Erinnerung zu tun, denen auch irgendwie den Rücken zu stärken. Das war eigentlich mein Hauptmotiv.

Deutschlandradio Kultur: Frau Birthler, Sie sind seit neun Jahren die Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheitsdienste der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Wann kann man sagen, Arbeit ist erledigt, jetzt können wir das Archiv übergeben?

Marianne Birthler: Also, ich bin vorsichtig mit Prognosen. Damals, als die Behörde gegründet wurde, haben alle gedacht, na, so zehn Jahre, dann fragt kein Mensch mehr nach Stasiakten. Das hat sich erledigt, wie wir alle wissen. Jetzt sind fast 20 Jahre um und das Interesse ist ungebrochen groß. Auch haben sich die Gründe, weshalb die Stasiunterlagen-Behörde gegründet wurde, ja noch keineswegs erledigt. Ich rechne damit, dass wir noch eine Weile zu tun haben.

Dass die Stasiunterlagenbehörde grundsätzlich eine befristete Einrichtung ist, das war von vorneherein eigentlich allen klar, nur hat man sich über die Zeiträume wahrscheinlich nicht wirklich klar werden können. Ich persönlich glaube, dass diese Behörde auch noch existieren wird, wenn wir den 30. Jahrestag der Revolution feiern. Aber ich will mich da nicht festlegen. Es gibt ja jetzt eine Vereinbarung, dass der Deutsche Bundestag in der nächsten Legislaturperiode eine Expertenkommission einsetzen wird, die sich ein Bild machen soll davon, wie lange unsere Aufgaben noch erfüllt werden müssen, in welcher Form. Und daraus werden sich dann Empfehlungen an den Gesetzgeber entwickeln. Das kann man ja erstmal in Ruhe abwarten. Ich bin da gar nicht so leidenschaftlich.

Wichtig sind mir eigentlich nur zwei Dinge. Zum einen, dass, was auch immer mit den Akten geschieht, der Zugang nicht erschwert werden darf. Sie müssen weiter und dauerhaft für die Aufarbeitung zur Verfügung stehen, und zwar sowohl für die Einzelnen wie auch für Wissenschaft und Medien. Und das Zweite ist, ich finde auch, dass die Expertise unserer Mitarbeiter zur Verfügung stehen muss. Da hat sich ja eine ganze Menge angesammelt und auch das, was wir auf dem Gebiet der politischen Bildung machen, müsste dann von jemand anderem fortgeführt werden. Bis es soweit ist, dass man dessen sicher sein kann, glaube ich, wird noch eine Weile Zeit vergehen.

Deutschlandradio Kultur: Frau Birthler, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!