"Bisher schotten wir ab"

Sabine Hess im Gespräch mit Ute Welty |
Szenarien, in denen Europa von Flüchtlingen überrannt wird, weist die Migrationsexpertin Sabine Hess als eurozentristische Überschätzung zurück. Weltweit betrachtet sei Europa für Migranten gar nicht "die erste Adresse". Hess fordert, ein Nachdenken über Einwanderung, das nicht um Restriktionen kreist.
Ute Welty: Eine Ankündigung, eine Bekundung, eine Versicherung – der EU-Gipfel in Brüssel erging sich in Belanglosigkeiten, was den Umgang mit Flüchtlingen angeht. Ja, die Geschehnisse von Lampedusa müssten Konsequenzen haben, nein, wirklich ändern will man nichts. Viel radikaler denkt da Sabine Hess, die Kulturanthropologin leitet das Labor für kritische Migration- und Grenzregimeforschung der Universität in Göttingen. Guten Morgen!

Sabine Hess: Guten Morgen!

Welty: Sie gehen im übertragenen Sinne mit Jesus und sagen, lasset die Kindlein zu mir kommen – würde Europa seine Grenzen öffnen, hätte das gar nicht die katastrophalen Auswirkungen, im Gegenteil, es könnte durchaus von Vorteil sein! Inwieweit von Vorteil?

Hess: Naja, das Bild des Migranten oder des Flüchtlings, welches ja über die letzten Wochen noch mal massiv durch die Katastrophe von Lampedusa gezeichnet wird, ist ja das Bild von verarmten Menschen, die sozusagen nach Europa wollen, um die Brottöpfe des Europäers anzugreifen sozusagen. Und dieses Bild ist ja ein absoluter Mythos, es ist ja ein Trugbild dessen, von diesen Menschen, die sich da auf diesen Weg machen, auf diesen immer beschwerlicheren Weg, der immer mehr kostet, der immer mehr soziale Kompetenzen erwartet.

Das heißt, die Menschen, die sich da auf den Weg machen, sind eben nicht die Ärmsten der Ärmsten, sondern sind Leute, die Mut haben, die auch über die Netzwerke verfügen, die über die Kontakte verfügen, die das Geld haben, überhaupt diesen militarisierten Weg, den die Europäische Union aufgebaut hat, zu überwinden.

Welty: Die durchaus auch Potenzial darstellen könnten?

Hess: Potenzial natürlich, wobei der Begriff des Potenzials kommt ja aus der neoliberalen Sprache und die Neoliberalen haben schon vor Jahren angefangen darüber nachzudenken, wie es wäre, einen globalen Arbeitsmarkt zu schaffen und die nationalen Grenzen sozusagen einzureißen. Das ist ja durchaus eben keine linksutopistische Vorstellung mehr, eben eine grenzenlose Welt. Für Waren ist sie ja mittlerweile schon seit Jahrzehnten produziert, diese grenzenlose Welt, und die Europäische Union hat ja durchaus auch diese Vision binneneuropäisch schon umgesetzt mit der Freizügigkeit, die jetzt wieder angegriffen wird, weil es wieder nicht die richtigen Menschen sind, die sich auf den Weg machen. Sehen wir uns nur die Debatte um die bulgarischen und die rumänischen Arbeiterinnen an!

"Arabische Staaten, USA und Kanada sind beliebte Einwanderungsländer"
Welty: Wer käme nach Europa, und vor allem, wie viele kämen nach Europa?

Hess: Da muss man spekulieren! Ich meine, das ist durchaus eine eurozentristische Überschätzung, dass alle Menschen nach Europa wollen! Es gibt über Jahrhunderte binnenregionale Migrationssysteme, die Masse der Menschen geht jetzt schon nicht nach Europa, sondern die gehen in die prosperierenden arabischen Staaten oder in die USA und Kanada oder mittlerweile eben auch nach Lateinamerika in die prosperierenden Länder. Das heißt, Europa, ein krisengeschütteltes Europa ist mittlerweile auch in den globalen Migrationsnetzwerken sozusagen nicht mehr die erste Adresse, die man anlaufen will. Es gibt Berichte, dass mittlerweile Leute zurückgehen in die Türkei, weil die Türkei viel prosperierender ist.

Welty: Worauf stützen Sie Ihre Überlegungen und Schlussfolgerungen?

Hess: Das sind Forschungen von internationalen Kollegen, die sich eben mit den TransitmigrantInnen beschäftigen, sich mit den MigrantInnen beschäftigen, sie nach ihren Motivationen fragen, sie nach ihren Migrationsprojekten fragen, die sich vor allem eben an den Rändern Europas aufhalten, dort aufgehalten werden durch die europäische Grenzpolitik. Dort findet man sie, in Istanbul, aber mittlerweile ja auch in Libyen, in Tunesien, in Israel. Das heißt, Forschungen, die ganz nah an MigrantInnen herankommen und sich informieren über die Migrationsprojekte, die produzieren ein ganz anderes Bild als hier unsere Politiker das immer noch zeichnen.

Welty: Wenn dieses Bild stimmt, was Sie jetzt beschreiben, warum geht man da nicht lockerer an die ganze Sache heran? Warum öffnet man nicht die Grenzen und warum ist die Situation so, wie sie ist, warum auch so angstbesetzt?

Hess: Naja, weil über Jahrzehnte… - Ich meine, unsere deutsche Geschichte zeichnet ein Bild davon, wie der Fremde und das Fremde immer wieder hergenommen wurde für eine Politik der Angst und für eine Politik der Hysterisierung, die vor allem natürlich in politischen Motivationen und Logiken und Rationalitäten entspringt.

In Frankreich sehen wir es gerade auch wieder mit dem Front National, wie sie die Migrationskarte ausspielt und sofort die konservative Partei meint, nachhechten zu müssen auf dieser Seite, und auch sozusagen eine Grundfeste der Französischen Revolution jetzt infrage stellt, nämlich das Jus-soli- Prinzip. Das heißt, mit Migration wird schon immer Wahlkampf gemacht, das sind vor allem sozusagen innenpolitische Rationalitäten, die das Thema Migration seit Jahrzehnten oder nicht seit Jahrzehnten, aber vor allem in den letzten zehn, 20 Jahren unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkte gestellt haben und es zu so einem Schreckgespenst der Globalisierung gemacht haben.

Welty: Wie sehen Sie die deutsche Rolle und wie müsste die sich ändern unter einer nächsten Bundesregierung, wenn man das System in eine bessere Zukunft überführen will?

"Es muss überhaupt mal über Einwanderung nachgedacht werden"
Hess: Na ja, unter Rot-Grün gab es ja schon mal eine Expertenrunde, da saß Frau Süssmuth vor. Und die haben eigentlich ja schon mal ganz vernünftige Vorstellungen entwickelt, sozusagen alles realpolitische Vorstellungen. Man kann da noch mal ganz anders drüber denken, aber wenn man realpolitisch darüber nachdenkt, dann gab es da schon vernünftige Vorschläge auf dem Tisch. Auch die Europäische Kommission hat schon sehr liberale Einwanderungsvorstellungen in der Schublade gehabt, die sie aber nie durchsetzen kann an der Gegenwehr der europäischen Innenminister, die, wie gesagt, dieses Thema immer wieder restriktiv behandeln wollen…

Welty: Das heißt konkret was? Welche Liberalisierungen stellen Sie sich vor?

Hess: Es muss überhaupt mal über Einwanderung nachgedacht werden. Bisher schrecken wir ab, wir schotten ab, auch wenn immer Leute zu uns kommen, sei es nur die Saisonarbeiterin, sei es im Pflegebereich, sei es in der Hausarbeit. Ich meine, unsere Gesellschaft beruht auf migrantischer Arbeit und in vielen Sektoren wird ein Auge zugedrückt, weil wir sie brauchen, auch die Billigarbeiterinnen in der Landwirtschaft oder im Pflegebereich.

Das heißt, wir führen sowieso schon eine total verlogene Debatte, die eigentlich der Realität absolut hinterherhinkt. Aber wenn wir sozusagen dieser Realität, der Faktizität der Migration in unserem Land ins Auge schauen wollen, dann müssen wir endlich über vernünftige Einwanderungspolitiken nachdenken, über eine Arbeitsmigration nachdenken und die Leute eben nicht in diesen Flüchtlingsbereich abdrängen, wo sie nichts verloren haben, viele von denen.

Welty: Migration bedeutet nicht den Untergang des Abendlandes, sagt die Kulturanthropologin Sabine Hess hier in der "Ortszeit". Ich danke für diese Einschätzungen!

Hess: Bitteschön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema