Christoph Nonn: Bismarck - Ein Preuße und sein Jahrhundert
C. H. Beck, 2015, 416 Seiten, 24,95 Euro
Politisches Talent in einem Land voller Bauern
An Bismarck scheiden sich die Geister: Den einen gilt er als politisches Genie, das das Deutsche Reich gegründet hat, für die anderen ist er der Blockierer der Modernisierung Deutschlands. Christoph Nonns Biografie vermeidet diese einfachen Einordnungen.
Historiker, die sich auf Bismarck einlassen, bewegen sich in einem Raum festgefügter Geschichtsbilder: Bismarck, der Reichsgründer, der Deutschland unter preußischer Führung zusammenschweißte und mit sicherer Hand lenkte. Bismarck, der Fürst, der dem Nationalstaat die obrigkeitlich-preußischen Fesseln anlegte und politische Modernisierung nach westlichem Vorbild verhinderte. Aus diesen eingefahrenen Interpretationsmustern bricht der Düsseldorfer Historiker Christoph Nonn aus.
In seiner Bismarck-Biografie stellt Nonn Bismarcks politisches Talent nicht in Frage und holt ihn doch von dem Sockel. "Er war (...) ein Akteur unter vielen in einem weiten, ausgesprochen unübersichtlichen Feld", resümiert Nonn nüchtern.
Nach seiner eigenen, wirkungsmächtigen Legende hat Bismarck planvoll den Weg zur Gründung des Deutschen Reiches beschritten. Nonn widerlegt das, indem er anhand zeitnaher Quellen zeigt, wie der Kanzler auf veränderte Rahmenbedingungen nicht nur taktisch, sondern auch in seinen Zielsetzungen reagierte. Danach war der deutsch-französische Krieg 1870 nicht der planvoll in Szene gesetzte Schlussakt, um mit der Entfesselung nationaler Leidenschaften die Reichsgründung herbeizuführen. Vielmehr hatte Bismarck diesen Krieg vermeiden wollen und versuchte kunstvoll, einen friedlichen Ausweg aus dem diplomatischen Geplänkel mit dem französischen Kaiser zu bahnen, bis Napoleon - aus innenpolitischen Gründen - dem preußischen König den Fehdehandschuh hinwarf. Erst als Reaktion darauf setzte Bismarck im Krieg gegen Frankreich mit Erfolg auf die nationale Karte.
Er kalkulierte auf den Verschleiß der Liberalen
Hier zeigt sich die Kombination, die Bismarck erfolgreich machte: Er blieb unbeirrbar ein preußisch-konservativer Aristokrat und Monarchist. Gleichzeitig schreckte er vor keinem Tabubruch zurück, um seine Ziele zu erreichen: "Dieser ebenso zielbewusste wie in den Mitteln flexible pragmatische Konservatismus war im Preußen seiner Zeit selten." Alles Parlamentarische war Bismarck zuwider, aber er sorgte für einen Reichstag mit vergleichsweise demokratischem Wahlrecht, weil er - zu Recht - damit kalkulierte, dass er damit die ungeliebten Liberalen verschleißen würde.
War Bismarck ein deutsches Verhängnis, weil er die nötige Modernisierung blockierte? Nonn widerspricht: Bismarcks konservative Politik passe durchaus zu der überwiegend agrarischen deutschen Gesellschaft, in der er breite Unterstützung fand. In agrarischen Gesellschaften, die einen rasanten Prozess der Industrialisierung durchmachen, sind die Voraussetzungen für Demokratisierung und Liberalisierung schlecht, so eine von Nonns wesentlichen Schlussfolgerungen.
Im Übrigen bezweifelt Nonn, dass die liberale Alternative zu Bismarck per se besser war. So erscheint Bismarck hier weder als der übermächtige Reichseiniger noch als machtvoller Blockierer demokratischer Entwicklung. Was Nonn mit seiner Bismarck-Biografie vorlegt, ist nichts weniger als die Fortsetzung von Christopher Clark: Er entdämonisiert Bismarck und damit die Rolle Deutschlands im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Nonn ist in mehrfacher Hinsicht ein Coup gelungen. Mit der Konzentration auf zeitgenössische Quellen entzieht er Bismarck der Mythisierung, er wartet mit überraschenden Perspektiven auf - etwa, dass Bismarck ausgerechnet in der Außenpolitik überfordert war. Er verbindet gekonnt Personen- mit Strukturgeschichte, und er wagt das Spiel mit kontrafaktischen Überlegungen, indem er die Logik politischer Alternativen beschreibt. Spannend zu lesen, welche Alternativen drohten, wenn Wilhelm II. Bismarck 1890 nicht entlassen hätte!