Bittere Logik
Die folgende Sendung ist gleich in mehrfacher Weise eine "Zeitreise". Sie erinnert an zwei berühmte Männer - an einen Dichter und an einen Mathematiker, an Gottfried Benn, der vor 50 Jahren starb und an Kurt Gödel, der vor 100 Jahren geboren wurde. Und sie erinnert an das Denken dieser beiden Köpfe, in dem die Zeit und sogar die "Zeitreise" eine wesentliche Rolle spielten.
Am 7. Juli vor 50 Jahren starb Gottfried Benn: Ein poetisch-expressiver Revolutionär wider die strukturelle Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg dann ein Anwalt der Kunst… Kunst - in Benns Augen - die letzte Instanz im allgemeinen Wertezerfall.
Die psychologischen Wurzeln großer Teile des Spätwerks lassen sich vielleicht einfacher als bisher freilegen. Benn kämpfte gegen den Relativismus. Seine Erkenntnis sollte allgemeingültig sein und schwankte immer zwischen zwei Polen geistiger Wahrnehmung: dem Formalen und dem Intuitiven.
Er teilte diese Disposition mit Kurt Gödel dem "größten Logiker seit Aristoteles". Persönlich trafen sie sich nie. Doch sie waren vereint im Kampf gegen die Relativität, den Relativismus und damit gegen die Zeit… ihren Begriff und ihr Wesen.
"Wer je bestimmte Präludien
Von ihm hörte…
wird es schwer vergessen.
Nie eine Oper komponiert,
keine Symphonie,
nur diese tragischen Progressionen
aus artistischer Überzeugung
und mit einer kleinen Hand."
Tragisches Fortschreiten aus artistischer Passion. Gottfried Benn sprach über Frederic Chopin… und gleichzeitig über sich. Man hat Benn das Habitus - Ideal eines Lebens- Sezierers unterstellt. Doch, bei den Vivisektionen seiner Seele gab es einen unklaren Befund. Für ihn selbst sowie für die Kritik an seinem Werk: Das Leiden an der Zeit, der Begriff der Zeit reduzierte sich schließlich bei Benn in einer Ästhetik der Vergangenheit. Vor allem im lyrischen Spätwerk, das frei ist von den expressionistischen Explosionen der Jugend. War es die artistische Überzeugung mit dem Manko eines philosophischen Defizits? Oder handelte es sich um eine Art gefühlter Logik aus dem Geist souveräner Eitelkeit? Gottfried Benn: Vielleicht weniger analytischer Zeitzeuge mit sinntastender Wahrnehmung… mehr ein Opfer des Jetzt, Opfer der eindimensionalen Zeit?
"Die Dichter sind die Tränen der Nation,"
rief Benn am Grab von Klabund.
Tränen, die Zeugnis davon ablegen, dass jede Form von Aufklärung im Sinn instrumenteller Vernunft eine Volksverführung darstellt.
Schon der junge Gottfried Benn schrieb in seinem ersten Prosatext:
"Ich lehne den Erkenntnistrieb des Naturforschers für mich ab. Ich kann mich nicht mehr an der Notzucht der Dinge durch die menschliche Großhirnrinde und der intellektuellen Befleckung der Welt beteiligen. Ich nehme den Kausaltrieb leidlos von meiner Stirn; er war mir nur eine Dornenkrone, die mein Blut erschöpft hat. Ich möchte mit den Dingen wieder rein und brüderlich verkehren."
Rein und brüderlich mit den Dingen umgehen, Ursache-Wirkungs-Ketten aus den Gedanken verbannen. Diese frühe Sehnsucht Benns, sich mit den deutschen Gemütslagen zu arrangieren, blieb die Ausnahme in seinem Leben. Nicht dagegen der lyrische Kampf gegen das tragische Fortschreiten der Dinge. Gottfried Benn liest das Gedicht "Einst" aus dem Jahr 1934.
Gottfried Benn:
"Einst
Einst, wenn der Winter begann,
du hieltest von seinen Schleiern,
den Dämmerdörfern, den Weihern
die Schatten an.
Oder die Städte erglommen
sphinxblau an Schnee und Meer-,
wo ist das hingekommen
und keine Wiederkehr.
Alles des Grams, der Gaben
früher in unser Blut-:
Wenn wir gelitten haben,
ist es dann gut?"
Damals konntest du doch die Schatten anhalten… einst….
Es gibt keine Wiederkehr. Die geistigen Klimmzüge am Begriff der Zeit, mit denen
sich die Wissenschaften zieren, trösten dich nicht.
Schon Lyriker der Romantik sollen nicht gut auf Isaac Newton zu sprechen gewesen sein. Dessen Sichtweise der Zeit als grundlegende, absolute Größe mit nur einer Richtung: Vergangenheit, Jetzt, Zukunft… alles festgelegt… geistleer… und…
200 Jahre später: Die absolute Zeit längst abgeschafft… und immer noch keine Definition von Zeit. Nur ihre Verschränkung mit dem Raum und der Gravitation wurden offenbar. Welches Motiv steht hinter dem Bestreben des Menschen, aus den Strukturen des historischen Zeitflusses vielleicht Sinngebendes für die Zukunft zu filtern?
Gottfried Benn: "Keiner Weine
Was soll der Glanz der europäischen Auguren,
der großen Namen,
der Pour le merite,
die auf sich sehn und weiter schaffen,
ach, nur Vergehendes ist schön,
rückblickend die Armut, sowie das Dumpfe, das sich nicht erkennt,
schluchzt und stempeln geht,
wunderbar dieser Hades,
der das Dumpfe nimmt
wie die Auguren -
keiner weine
keiner sage ich, so allein."
Ein Gedicht aus dem Jahr 1952: Als wenn der Pessimismus mit lyrischer Energie sein Antiteilchen produziert. Nur Vergehendes ist schön!
Benns Gedanken werden in dieser Zeit durch Geschichts- und Zivilisationspessimismus geprägt. Er glaubte daran, dass diese - seine - Zeit die letzte Epoche der Kunst sei. Und er suchte auf höchstem Niveau der Selbstbeobachtung einer zerrissenen Seele immer noch die Disziplin der Verse. Die Hoffnung auf ein Projekt Mensch im Sinn humaner Optimierung der Welt war längst aggressiv zerronnen. Er rief:
"Lasst doch euer ewiges ideologisches Geschwätz, euer Gebarme um etwas Höheres, der Mensch ist kein höheres Wesen, wir sind nicht das Geschlecht, das aus dem Dunkel ins Helle strebt."
Und an die Jugend adressiert:
"Allons enfants, tut nicht so wichtig,
die Erde war schon vor euch da
und auch das Wasser war schon richtig -
Hipp, hipp, hurra!"
Wäre Benn jemals dem Logiker Kurt Gödel begegnet, wären die Ahnungen der Jugend und sein lebenssattes Spätwerk mit der großinquisatorischen Logik des Mathematikers zusammengeflossen. Und Benns Gedichte nach dem zweiten Weltkrieg - immer wieder schwingt die unbegreifliche Zeit durch sie hindurch - wären möglicherweise mit mehr Sarkasmus gewürzt worden. Denn im Jahr 1949 verschwand das Gestern. Gödel zeigte, dass eine Reise in die Vergangenheit theoretisch möglich ist. Wir dürfen mit dem Gedanken spielen, daß Benn als Passagier die Zeitreise tragisch versäumt hat….sowie auch alle anderen Metaphern aus dem Fundus der Science Fiction – wie etwa die von Jean Claude Dunyach:
"Als das Universum eines Nachts zerriß und zu bluten begann, waren die Berge natürliche Deiche und schufen eine Zeitsenke…"
Der in Brünn geborene Kurt Gödel kam 1924 als Student nach Wien. Die Stadt war im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts ein intellektuelles Zentrum der Welt… Ludwig Wittgenstein, Sigmund Freud, Gustav Mahler…Karl Kraus. Gödel begann hier seine geistige Reise, trainierte unter anderem Zahlentheorie bei Philip Furtwängler, der ihn endgültig für die Mathematik warb. Immer größere Strenge markierte dann seinen Weg über die mathematische Physik zur mathematischen Logik und schließlich zur mathematischen Philosophie.
Der Philosoph Palle Yourgrau hat Gödel als "Personalunion von Kafka und Einstein" charakterisiert. Das Leitmotiv des Gödelschen Lebenswerks war es, die Dialektik zwischen dem Formalen und dem Intuitiven aufzuspüren, besonders auch in Bezug auf die Zeit. Wie Gottfried Benn, der dann mit seinem lyrischen Zeitgesang die formale Vergangenheit beschwörend aufwertete. Auch schon 1924… als Gödel nach Wien kam.
Benn: (Zeilen aus dem Gedicht "Nebel" von 1924)
"Ach, du zerrinnender
und schon gestürzter Laut,
eben beginnender
Lust vom Munde getaut,
ach so zerrinnst du,
Stunde, und hast kein Sein,
ewig schon spinnst du
weit in die Nebel dich ein."
Gödel zeigte in einem komplizierten Beweisverfahren – begründet durch so genannte Zeitreihen - dass grundsätzlich der intuitive Begriff – das, was wir subjektiv fühlen… etwa die offensichtlich vergehende Zeit…nicht durch eine formale, objektive Darstellung erfasst werden kann.
Platon und Kant hatten sich gefragt, ob unser subjektives Zeitempfinden einen objektiven Hintergrund, eine objektive Entsprechung besitzt. Der Logiker bemerkte dazu grundsätzlich, dass es eine…
"...fruchtbare Sicht der Dinge ist, zwischen den subjektiven und den objektiven Elementen unseres Erkennens zu unterscheiden…"
Dass darin aber auch eine große Gefahr liege… und, als hätte er die Wissenschaftsskandale der Moderne antizipiert… warnte Gödel, wenn dieser Ansatz …
"…in der Wissenschaftsgeschichte gebraucht wird, er sofort die Neigung hat, zum grenzenlosen Subjektivismus zu verkommen."
Einstein schuf die objektive Entsprechung subjektiven Zeitempfindens. Aber vielleicht doch keinen wirklichen Hintergrund… nur einen Aspekt von Objektivität… vielleicht nur eine Annäherung. Denn die Zeit allein konnte auch Einstein nicht objektiv fassen. Nur im Zusammenspiel mit dem Raum.
Gödel versuchte nun zunächst, diese intuitive Zeit zu beschreiben. Für ihn offenbarte sich darin eine eindimensionale Mannigfaltigkeit, die eine vollständige lineare Ordnung aller Ereignisse in der Natur liefert. Zeit im intuitiven Sinn ist für Gödel nur unmittelbar, direkt erfahrbar.
Und daraus folgt für ihn, den Logiker, dass nur die Gegenwart wirklich existiert.
Dagegen Gottfried Benn: (aus dem Gedicht "Der Dunkle" (1950))
"Der Dunkle
Ach, gäb er mir zurück die alte Trauer,
die einst mein Herz so zauberschwer umfing,
da gab es Jahre, wo von jeder Mauer
ein Tränenflor aus Tristanblicken hing.
Da littest du, doch es war Auferstehung,
da starbst du hin, doch es war Liebestod,
doch jetzt bei jedem Schritt und jeder Drehung
liegen die Fluren leer und ausgeloht.
Die Leere ist wohl auch von jenen Gaben,
in denen sich der Dunkle offenbart,
er gibt sie dir, du mußt sie trauernd haben,
doch diese Trauer ist von anderer Art.
Und nun beginnt der enggezogene Kreis,
der trächtige, der tragische, der schnelle,
der von der großen Wiederholung weiß -
und nur der Dunkle harrt auf seiner Stelle."
Für den Logiker existiert nur die Gegenwart. Der Dichter erdenkt sich für die anderen Zeitmodi das Dunkle: Die Metapher für Zukunft und Tod. Gegen das Dunkle ist das zauberschwere, sentimentale Liebestrauern marginale Irritation der Seele.
Spötter mögen sagen: Seniorenlyrik auf hohem Niveau. Da kämpft einer mit dem Unabwendbaren…Altersdepression mit poetischer Disziplin. Nein!
Hier offenbart sich ein kategorischer Nihilismus, welcher aus der Rezeption, dem Wesen der Zeit geboren wurde. Hier wird deutlich, dass Benn - wohl immer – mit seinem Werk gegen die Relativierbarkeit der Dinge angeschrieben hat …mit einer gefühlten Logik. In deren Folge ergibt sich konsequent die Ablehnung aller dieser – teils angemahnten - pädagogischen Fesseln von Bezugssystemen aller Art im Denken und Leben des Menschen… außer dem der Kunst.
Benn: (aus der Geschichte "Der Glasbläser" in der Novelle "Der Ptolemäer", Berliner Novelle 1949)
"Der Mensch von heute rechnet weder mit Vergangenheit noch Zukunft. Der Satz, den er gerade schreibt, muss alles enthalten… vielleicht der Absatz, beim Maler vielleicht das Bild. Aber alles, was darüber hinauslangt, ist Unvermögen und Rechnen mit dem Wohlwollen der anderen. Der Künstler ist der Einzige, der mit den Dingen fertig wird, der über sie entscheidet. Alle anderen Typen nässen die Probleme weiter, nässen sie durch Generationen, durch Jahrhunderte bis die Gehirne sich verwandeln und die Natur eingreift. Also ein menschenunwürdiges Unterfangen"."
Der Mensch rechnet weder mit Vergangenheit noch Zukunft. Benn empfand die Zeit als Bürde, die Zeitgenossenschaft als sekundäres Abbild des eigentlichen Zeitbewusstseins.
Er kämpfte gegen die Sichtweise eines "Sowohl als auch", plädierte nie für das differenzierte Betrachten der Dinge als intellektuelles Muss… er ahnte die Grenzen der Relativierbarkeit
in der real-erlebten Welt.
Gottfried Benn negierte das Credo der so genannten deutschen Lebensphilosophie, die seit Hegel als geistiger Unterton der Kultur mitschwingt… und heute neuen Nährboden zu gewinnen scheint. Dass nämlich dem geschichtliche Charakter der menschlichen Existenz eine Wesensbestimmung von metaphysischer Bedeutung zukomme.
Aus der Verinnerlichung dieser Hypothese wächst ja der Relativismus, wächst die Neigung, kulturelle Werte zu relativieren. Man lässt alles an sich vorbeirauschen und verliert den Blick gegenüber den Aufgaben der Zeitgenossenschaft im praktischen Sinn…eifert dem Ideal eines interdisziplinären Kolibris nach …halbgebildet, naschend an den Bildern und Begriffen der Existenz, der Realität vorbeifliegend.
Der verbale Kampf dagegen charakterisiert Benns Spätwerk.
""Nicht alles ist relativierbar!"
Nicht alles ist relativierbar! So dachte auch Gödel. Aber er versuchte eine Begründung zu geben, welche über die gefühlte Logik Benns hinausreichte. Man kann erkennen, dass das, was für mich links ist, für jemand anderen rechts ist. Relativität….das ist klar! Doch die Realität umfasst beides: Links oder…und rechts, sie ist absolut.
Das ist der Gödelsche Ansatz: Die Realität ist absolut.
Was heißt absolut? Unanfechtbar? Immer vorhanden?... Der Äther der Philosophie?
Es bedeutet zunächst, dass dieser Satz - diese Behauptung – den ewigen Kreuzungspunkt von reproduzierbarer Wissenschaft und Philosophie markiert – eine Kreuzung, einen Schnittpunkt, an dem sich zwei Disziplinen begegnen, und unbeeinflusst voneinander weiterlaufen. Denn die Wissenschaft analysiert keine Begriffe. Gerade dies ist aber die Aufgabe der Philosophie. Doch beim Problem der Frage nach der Realität kam zumindest Gödel nicht darum herum, an der Kreuzung stehenzubleiben und eine Entscheidung zu treffen. Denn, wenn die Realität als absolut angesehen wird, muss sie zwangsweise die Qualität eines unverrückbaren Bezugssystems des Menschen darstellen:
Das mutet wie höherer Unsinn an. Der hat aber ungeahnte Folgen. Vor allem die, dass Einsteins spezielle Relativitätstheorie in Frage gestellt wird. Denn, deren philosophische Konsequenz läuft ja darauf hinaus, dass die Existenz der Zeit, die Realität des Jetzt… und damit die Realität selbst… gegenüber einem Bezugssystem relativiert werden kann.
Kein Problem für die Physik. Wohl aber für den Logiker. Denn, Gödel sagte sich: Es ist falsch, Begriffe wie Existenz oder Realität zu relativieren, ohne ihren Sinn völlig zu zerstören.
Du hast deine Sicht der Welt, ich habe meine. Beide Sichtweisen sind und bleiben aber real.
Und daraus folgt weiterhin in Bezug auf die objektive, Einsteinsche Zeit, dass diese Objektivität an der existenziellen Situation des Jetzt vorbeirauscht, sie unberührt lässt.
Und Gödel erklomm dann den Gipfel seiner Logik, indem er folgerte, dass wir eine Welt haben können, in der es eine Zeit gibt - die immer nur durch den jeweiligen Aufenthaltsort des Uhrenablesers bestimmt wird, die Zeit, die wir natürlich auch intuitiv empfinden… oder wir entschieden uns für eine Welt, in der es eine Realität gibt, auf deren Form die Zeit keinen Einfluss hat. Aber beides zugleich lässt sich nicht gewinnen.
Also entschied sich Gödel für eine Welt ohne Zeit. Zeit gibt es nicht!
Zeit gibt es nicht. Was allerdings nicht bedeutete, dass Gödel die Theorie seines Freundes Einstein verwarf oder als unvollständig wertete. Gödel wies nur darauf hin - was die meisten von uns leicht aus dem Gefühl heraus nachvollziehen - dass die Relativitätstheorie nicht erklären kann, was alltägliche Zeiterfahrung ist.
Das ist trivial, bekannt… eine vielfach ausgewalzte Thematik? Nein! Denn der Logiker schloss: Unser Empfinden der intuitiven Zeit beruht auf einem Missverständnis, einem
Irrtum.
Was bleibt, um diesen Irrtum zu überwinden, einen neuen Gefühlsmodus zu gewinnen - die Seele neu zu programmieren? Die Einsicht, dass die Mathematik eine von den zwischenmenschlichen Vereinbarungen und Reaktionen unabhängige Realität darstellt?
Was wäre mit dieser philosophischen Einsicht gewonnen? Handelt es sich nicht um ein zum Scheitern verurteiltes Denken an der Grenze der Erkenntnis?
Gottfried Benn zog für sich den Schluss: (Prosa aus der Geschichte "Urgesicht")
"Nach Jahren des Kämpfens um Erkenntnis und die letzten Dinge hatte ich begriffen, dass es diese letzten Dinge wohl nicht gibt."
Gödel dagegen, der fühlte, dass das Geheimnis der Zeit nicht innerhalb eines säkularen Projekts gelüftet werden konnte, trat in die Spuren von Gottfried Wilhelm Leibniz und versuchte sich auch an einem formalen Gottesbeweis.
"90 Prozent der heutigen Philosophen sehen ihre Hauptaufgabe darin, den Menschen die Religion aus dem Kopf zu schlagen,"
schrieb er an seine Mutter. Der Logiker veröffentlichte den Gottesbeweis nie. Erst nach seinem Tod erwiesen sich die logischen Prämissen seiner Überlegungen als problematisch.
Leibniz, besonders dessen "Prinzip des zureichenden Grundes" war ein geistiger Altar Gödels. Der Ansatz des zureichenden Grundes ist in Bezug auf die Zeit ein Kausalprinzip. Danach trägt jede Gegenwart, jedes Jetzt, schon die Zukunft in sich.
Und dies stand im Gegensatz zur damals stark diskutierten Unbestimmtheit physikalischer Größen im Mikrokosmos. Die Basis der so genannten Quantenphysik weckte sowohl Gödels als auch Einsteins Widerstand.
Gödel klagte: "Insbesondere hat diese Entwicklung in der Physik gerade in unserer Zeit einen Höhepunkt erreicht, in dem weitgehend die Möglichkeit einer Erkenntnis der objektivierbaren Sachverhalte bestritten wird, und es behauptet wird, dass man sich begnügen muss, Beobachtungsresultate vorauszusagen, was eigentlich das Ende jeder theoretischen Wissenschaft im üblichen Sinn ist."
Kurt Gödel scheiterte bei dem Versuch, die Philosophie auf die Frage nach der Realität der Zeit zu lenken. Es gelang ihm auch nicht, die Physiker davon zu überzeugen, daß er die philosophischen Konsequenzen der Relativitätstheorie wie kein anderer durchleuchtet hatte.
Einsam suchte er am Ende seines Lebens nach astronomischen Belegen dafür, daß unser expandierendes Universum eine zeitlose Welt repräsentiert.
Einsam, unverdrossen… wie Benn. Der bittere Maßstab für die Kunst des Denkens!
"Ich nehme den Kausaltrieb leidlos von meiner Stirn,"
hatte der junge Benn geschrieben.
"Es gibt strukturelle Gesetze in der Welt, die sich nicht kausal erklären lassen,"
erkannte Gödel… und teilte mit Gottfried Benn dessen Geschichtspessimismus:
"Die Welt neigt zum Verfall,"
bemerkte der Logiker enttäuscht… und mit ihr die Philosophie.
"Mit ihr geht es bergab, sie ist heute bestenfalls dort, wo die Mathematik zur Zeit der Babylonier war,"
erklärte er sarkastisch.
Man kann von einer Seelengemeinschaft zwischen Gödel und Benn sprechen.
Die intuitive Zeit als Irrtum, Missverständnis… und doch Quelle einer ästhetischen Kraft, die sich in einem der schönsten Gedichte des lyrischen Spätwerks Gottfried Benns offenbart. Die Zeit als Täuschung… Fata Morgana.
Benn: (Passagen aus dem Gedicht "Melancholie" von 1954)
"Wenn man von Faltern liest, von Schilf und Immen,
dass sich darauf ein schöner Sommer wiegt,
dann fragt man sich, ob diese Glücke stimmen
und nicht dahinter eine Täuschung liegt,
und auch das Saitenspiel, von dem sie schreiben,
mit Schwirren, Dufthauch, flügelleichtem Kleid,
mit dem sie tun, als ob sie bleiben,
ist anderen Ohren eine Fraglichkeit:
ein künstliches, ein falsches Potpourri –
untäuschbar bleibt der Seele Agonie.
Von Blumen musst du solche wählen,
die blühn am Zaun und halb im Acker schon,
die in das Zimmer tun, die Laute zählen
des Lebens Laute, seinen Ton:
vermindert oder große Terzen-
ein Kältliches verstarrt die Herzen.
Die Blumen so – dann zu Vergangenem
sich wendend oder Zukunft, wie sie wird,
da gehst du von Verschleiert zu Verhangenem,
einem vielleicht zu einwandfrei Geirrt,
ein Hin und Her: Einmal versiegte Güsse
und Noah strahlt, die Arche streift auf Land,
und einmal ist der Nil der Fluß der Flüsse,
Antonius küsst die braune, schmale Hand:
die Ruriks, Anjous, Judas, Rasputin
und nur dein eigenes Heute ist nicht drin."
Gottfried Benn als skeptischer Naturlyriker. Er schrieb in einem Brief:
"Ich bin ja kein Städter, ich hänge an Dörfern und am Land; Lyrik kann und konnte ich immer nur machen mit Landschaft um mich oder wenigstens in unmittelbarer Nähe, aber ich bekämpfe diese Neigung, sowie es sich um Gedankliches und Prosa handelt…"
Der Kritiker Friedrich Sieburg schrieb 1949 emphatisch über das Bennsche Spätwerk:
"In eisigem Licht wird das menschliche Herz in seiner Einsamkeit plötzlich sichtbar. Dass eine Dichtung so vollständig aus der Schöpfung heraustritt, um das Leben einer eigenen Schöpfung zu führen, widerfährt uns selten. Erst Benn ist es gelungen, diesem letzten Rückzug des Menschen auf sich selbst eine süße, fast schluchzende Sangbarkeit zu geben."
Zu Gedichten anderer Autoren hat sich Gottfried Benn immer anerkennend geäußert. Wenn sie sein strengstes Kriterium erfüllten: Keine Mittelmäßigkeit! Er sagte auch:
"Man erschafft das Gedicht mit, man denkt oder träumt in es hinein. Dann vergisst man es, oder lebt mit ihm weiter."
Aus seinen eigenen Werken schlug er dann 1950 für eine Anthologie nur dies Gedicht vor:
Benn: "Einst, wenn der Winter begann,
du hieltest von seinen Schleiern,
den Dämmerdörfern, den Weihern
die Schatten an.
Oder die Städte erglommen
Sphinxblau an Schnee und Meer-,
wo ist das hingekommen
und keine Wiederkehr.
Alles des Grams, der Gaben
frühher in unser Blut -:
wenn wir gelitten haben,
ist es dann gut?"
Wenn wir gelitten haben… in und an der Zeit…
Geist und Leben stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Benn und Gödel: Denk - Geschwister unter demselben Motiv. Mehr Inspiration zur Arbeit für den Dichter, mehr Signatur des Schicksals für den Logiker.
Doch gleichen die Vorstellungswelten, die sie uns hinterließen, den Entwürfen zweier Architekten für ein Gebäude, das sich nicht präzise zeichnen lässt, weil sein Fundament auf
der Zeit schwankt.
Die psychologischen Wurzeln großer Teile des Spätwerks lassen sich vielleicht einfacher als bisher freilegen. Benn kämpfte gegen den Relativismus. Seine Erkenntnis sollte allgemeingültig sein und schwankte immer zwischen zwei Polen geistiger Wahrnehmung: dem Formalen und dem Intuitiven.
Er teilte diese Disposition mit Kurt Gödel dem "größten Logiker seit Aristoteles". Persönlich trafen sie sich nie. Doch sie waren vereint im Kampf gegen die Relativität, den Relativismus und damit gegen die Zeit… ihren Begriff und ihr Wesen.
"Wer je bestimmte Präludien
Von ihm hörte…
wird es schwer vergessen.
Nie eine Oper komponiert,
keine Symphonie,
nur diese tragischen Progressionen
aus artistischer Überzeugung
und mit einer kleinen Hand."
Tragisches Fortschreiten aus artistischer Passion. Gottfried Benn sprach über Frederic Chopin… und gleichzeitig über sich. Man hat Benn das Habitus - Ideal eines Lebens- Sezierers unterstellt. Doch, bei den Vivisektionen seiner Seele gab es einen unklaren Befund. Für ihn selbst sowie für die Kritik an seinem Werk: Das Leiden an der Zeit, der Begriff der Zeit reduzierte sich schließlich bei Benn in einer Ästhetik der Vergangenheit. Vor allem im lyrischen Spätwerk, das frei ist von den expressionistischen Explosionen der Jugend. War es die artistische Überzeugung mit dem Manko eines philosophischen Defizits? Oder handelte es sich um eine Art gefühlter Logik aus dem Geist souveräner Eitelkeit? Gottfried Benn: Vielleicht weniger analytischer Zeitzeuge mit sinntastender Wahrnehmung… mehr ein Opfer des Jetzt, Opfer der eindimensionalen Zeit?
"Die Dichter sind die Tränen der Nation,"
rief Benn am Grab von Klabund.
Tränen, die Zeugnis davon ablegen, dass jede Form von Aufklärung im Sinn instrumenteller Vernunft eine Volksverführung darstellt.
Schon der junge Gottfried Benn schrieb in seinem ersten Prosatext:
"Ich lehne den Erkenntnistrieb des Naturforschers für mich ab. Ich kann mich nicht mehr an der Notzucht der Dinge durch die menschliche Großhirnrinde und der intellektuellen Befleckung der Welt beteiligen. Ich nehme den Kausaltrieb leidlos von meiner Stirn; er war mir nur eine Dornenkrone, die mein Blut erschöpft hat. Ich möchte mit den Dingen wieder rein und brüderlich verkehren."
Rein und brüderlich mit den Dingen umgehen, Ursache-Wirkungs-Ketten aus den Gedanken verbannen. Diese frühe Sehnsucht Benns, sich mit den deutschen Gemütslagen zu arrangieren, blieb die Ausnahme in seinem Leben. Nicht dagegen der lyrische Kampf gegen das tragische Fortschreiten der Dinge. Gottfried Benn liest das Gedicht "Einst" aus dem Jahr 1934.
Gottfried Benn:
"Einst
Einst, wenn der Winter begann,
du hieltest von seinen Schleiern,
den Dämmerdörfern, den Weihern
die Schatten an.
Oder die Städte erglommen
sphinxblau an Schnee und Meer-,
wo ist das hingekommen
und keine Wiederkehr.
Alles des Grams, der Gaben
früher in unser Blut-:
Wenn wir gelitten haben,
ist es dann gut?"
Damals konntest du doch die Schatten anhalten… einst….
Es gibt keine Wiederkehr. Die geistigen Klimmzüge am Begriff der Zeit, mit denen
sich die Wissenschaften zieren, trösten dich nicht.
Schon Lyriker der Romantik sollen nicht gut auf Isaac Newton zu sprechen gewesen sein. Dessen Sichtweise der Zeit als grundlegende, absolute Größe mit nur einer Richtung: Vergangenheit, Jetzt, Zukunft… alles festgelegt… geistleer… und…
200 Jahre später: Die absolute Zeit längst abgeschafft… und immer noch keine Definition von Zeit. Nur ihre Verschränkung mit dem Raum und der Gravitation wurden offenbar. Welches Motiv steht hinter dem Bestreben des Menschen, aus den Strukturen des historischen Zeitflusses vielleicht Sinngebendes für die Zukunft zu filtern?
Gottfried Benn: "Keiner Weine
Was soll der Glanz der europäischen Auguren,
der großen Namen,
der Pour le merite,
die auf sich sehn und weiter schaffen,
ach, nur Vergehendes ist schön,
rückblickend die Armut, sowie das Dumpfe, das sich nicht erkennt,
schluchzt und stempeln geht,
wunderbar dieser Hades,
der das Dumpfe nimmt
wie die Auguren -
keiner weine
keiner sage ich, so allein."
Ein Gedicht aus dem Jahr 1952: Als wenn der Pessimismus mit lyrischer Energie sein Antiteilchen produziert. Nur Vergehendes ist schön!
Benns Gedanken werden in dieser Zeit durch Geschichts- und Zivilisationspessimismus geprägt. Er glaubte daran, dass diese - seine - Zeit die letzte Epoche der Kunst sei. Und er suchte auf höchstem Niveau der Selbstbeobachtung einer zerrissenen Seele immer noch die Disziplin der Verse. Die Hoffnung auf ein Projekt Mensch im Sinn humaner Optimierung der Welt war längst aggressiv zerronnen. Er rief:
"Lasst doch euer ewiges ideologisches Geschwätz, euer Gebarme um etwas Höheres, der Mensch ist kein höheres Wesen, wir sind nicht das Geschlecht, das aus dem Dunkel ins Helle strebt."
Und an die Jugend adressiert:
"Allons enfants, tut nicht so wichtig,
die Erde war schon vor euch da
und auch das Wasser war schon richtig -
Hipp, hipp, hurra!"
Wäre Benn jemals dem Logiker Kurt Gödel begegnet, wären die Ahnungen der Jugend und sein lebenssattes Spätwerk mit der großinquisatorischen Logik des Mathematikers zusammengeflossen. Und Benns Gedichte nach dem zweiten Weltkrieg - immer wieder schwingt die unbegreifliche Zeit durch sie hindurch - wären möglicherweise mit mehr Sarkasmus gewürzt worden. Denn im Jahr 1949 verschwand das Gestern. Gödel zeigte, dass eine Reise in die Vergangenheit theoretisch möglich ist. Wir dürfen mit dem Gedanken spielen, daß Benn als Passagier die Zeitreise tragisch versäumt hat….sowie auch alle anderen Metaphern aus dem Fundus der Science Fiction – wie etwa die von Jean Claude Dunyach:
"Als das Universum eines Nachts zerriß und zu bluten begann, waren die Berge natürliche Deiche und schufen eine Zeitsenke…"
Der in Brünn geborene Kurt Gödel kam 1924 als Student nach Wien. Die Stadt war im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts ein intellektuelles Zentrum der Welt… Ludwig Wittgenstein, Sigmund Freud, Gustav Mahler…Karl Kraus. Gödel begann hier seine geistige Reise, trainierte unter anderem Zahlentheorie bei Philip Furtwängler, der ihn endgültig für die Mathematik warb. Immer größere Strenge markierte dann seinen Weg über die mathematische Physik zur mathematischen Logik und schließlich zur mathematischen Philosophie.
Der Philosoph Palle Yourgrau hat Gödel als "Personalunion von Kafka und Einstein" charakterisiert. Das Leitmotiv des Gödelschen Lebenswerks war es, die Dialektik zwischen dem Formalen und dem Intuitiven aufzuspüren, besonders auch in Bezug auf die Zeit. Wie Gottfried Benn, der dann mit seinem lyrischen Zeitgesang die formale Vergangenheit beschwörend aufwertete. Auch schon 1924… als Gödel nach Wien kam.
Benn: (Zeilen aus dem Gedicht "Nebel" von 1924)
"Ach, du zerrinnender
und schon gestürzter Laut,
eben beginnender
Lust vom Munde getaut,
ach so zerrinnst du,
Stunde, und hast kein Sein,
ewig schon spinnst du
weit in die Nebel dich ein."
Gödel zeigte in einem komplizierten Beweisverfahren – begründet durch so genannte Zeitreihen - dass grundsätzlich der intuitive Begriff – das, was wir subjektiv fühlen… etwa die offensichtlich vergehende Zeit…nicht durch eine formale, objektive Darstellung erfasst werden kann.
Platon und Kant hatten sich gefragt, ob unser subjektives Zeitempfinden einen objektiven Hintergrund, eine objektive Entsprechung besitzt. Der Logiker bemerkte dazu grundsätzlich, dass es eine…
"...fruchtbare Sicht der Dinge ist, zwischen den subjektiven und den objektiven Elementen unseres Erkennens zu unterscheiden…"
Dass darin aber auch eine große Gefahr liege… und, als hätte er die Wissenschaftsskandale der Moderne antizipiert… warnte Gödel, wenn dieser Ansatz …
"…in der Wissenschaftsgeschichte gebraucht wird, er sofort die Neigung hat, zum grenzenlosen Subjektivismus zu verkommen."
Einstein schuf die objektive Entsprechung subjektiven Zeitempfindens. Aber vielleicht doch keinen wirklichen Hintergrund… nur einen Aspekt von Objektivität… vielleicht nur eine Annäherung. Denn die Zeit allein konnte auch Einstein nicht objektiv fassen. Nur im Zusammenspiel mit dem Raum.
Gödel versuchte nun zunächst, diese intuitive Zeit zu beschreiben. Für ihn offenbarte sich darin eine eindimensionale Mannigfaltigkeit, die eine vollständige lineare Ordnung aller Ereignisse in der Natur liefert. Zeit im intuitiven Sinn ist für Gödel nur unmittelbar, direkt erfahrbar.
Und daraus folgt für ihn, den Logiker, dass nur die Gegenwart wirklich existiert.
Dagegen Gottfried Benn: (aus dem Gedicht "Der Dunkle" (1950))
"Der Dunkle
Ach, gäb er mir zurück die alte Trauer,
die einst mein Herz so zauberschwer umfing,
da gab es Jahre, wo von jeder Mauer
ein Tränenflor aus Tristanblicken hing.
Da littest du, doch es war Auferstehung,
da starbst du hin, doch es war Liebestod,
doch jetzt bei jedem Schritt und jeder Drehung
liegen die Fluren leer und ausgeloht.
Die Leere ist wohl auch von jenen Gaben,
in denen sich der Dunkle offenbart,
er gibt sie dir, du mußt sie trauernd haben,
doch diese Trauer ist von anderer Art.
Und nun beginnt der enggezogene Kreis,
der trächtige, der tragische, der schnelle,
der von der großen Wiederholung weiß -
und nur der Dunkle harrt auf seiner Stelle."
Für den Logiker existiert nur die Gegenwart. Der Dichter erdenkt sich für die anderen Zeitmodi das Dunkle: Die Metapher für Zukunft und Tod. Gegen das Dunkle ist das zauberschwere, sentimentale Liebestrauern marginale Irritation der Seele.
Spötter mögen sagen: Seniorenlyrik auf hohem Niveau. Da kämpft einer mit dem Unabwendbaren…Altersdepression mit poetischer Disziplin. Nein!
Hier offenbart sich ein kategorischer Nihilismus, welcher aus der Rezeption, dem Wesen der Zeit geboren wurde. Hier wird deutlich, dass Benn - wohl immer – mit seinem Werk gegen die Relativierbarkeit der Dinge angeschrieben hat …mit einer gefühlten Logik. In deren Folge ergibt sich konsequent die Ablehnung aller dieser – teils angemahnten - pädagogischen Fesseln von Bezugssystemen aller Art im Denken und Leben des Menschen… außer dem der Kunst.
Benn: (aus der Geschichte "Der Glasbläser" in der Novelle "Der Ptolemäer", Berliner Novelle 1949)
"Der Mensch von heute rechnet weder mit Vergangenheit noch Zukunft. Der Satz, den er gerade schreibt, muss alles enthalten… vielleicht der Absatz, beim Maler vielleicht das Bild. Aber alles, was darüber hinauslangt, ist Unvermögen und Rechnen mit dem Wohlwollen der anderen. Der Künstler ist der Einzige, der mit den Dingen fertig wird, der über sie entscheidet. Alle anderen Typen nässen die Probleme weiter, nässen sie durch Generationen, durch Jahrhunderte bis die Gehirne sich verwandeln und die Natur eingreift. Also ein menschenunwürdiges Unterfangen"."
Der Mensch rechnet weder mit Vergangenheit noch Zukunft. Benn empfand die Zeit als Bürde, die Zeitgenossenschaft als sekundäres Abbild des eigentlichen Zeitbewusstseins.
Er kämpfte gegen die Sichtweise eines "Sowohl als auch", plädierte nie für das differenzierte Betrachten der Dinge als intellektuelles Muss… er ahnte die Grenzen der Relativierbarkeit
in der real-erlebten Welt.
Gottfried Benn negierte das Credo der so genannten deutschen Lebensphilosophie, die seit Hegel als geistiger Unterton der Kultur mitschwingt… und heute neuen Nährboden zu gewinnen scheint. Dass nämlich dem geschichtliche Charakter der menschlichen Existenz eine Wesensbestimmung von metaphysischer Bedeutung zukomme.
Aus der Verinnerlichung dieser Hypothese wächst ja der Relativismus, wächst die Neigung, kulturelle Werte zu relativieren. Man lässt alles an sich vorbeirauschen und verliert den Blick gegenüber den Aufgaben der Zeitgenossenschaft im praktischen Sinn…eifert dem Ideal eines interdisziplinären Kolibris nach …halbgebildet, naschend an den Bildern und Begriffen der Existenz, der Realität vorbeifliegend.
Der verbale Kampf dagegen charakterisiert Benns Spätwerk.
""Nicht alles ist relativierbar!"
Nicht alles ist relativierbar! So dachte auch Gödel. Aber er versuchte eine Begründung zu geben, welche über die gefühlte Logik Benns hinausreichte. Man kann erkennen, dass das, was für mich links ist, für jemand anderen rechts ist. Relativität….das ist klar! Doch die Realität umfasst beides: Links oder…und rechts, sie ist absolut.
Das ist der Gödelsche Ansatz: Die Realität ist absolut.
Was heißt absolut? Unanfechtbar? Immer vorhanden?... Der Äther der Philosophie?
Es bedeutet zunächst, dass dieser Satz - diese Behauptung – den ewigen Kreuzungspunkt von reproduzierbarer Wissenschaft und Philosophie markiert – eine Kreuzung, einen Schnittpunkt, an dem sich zwei Disziplinen begegnen, und unbeeinflusst voneinander weiterlaufen. Denn die Wissenschaft analysiert keine Begriffe. Gerade dies ist aber die Aufgabe der Philosophie. Doch beim Problem der Frage nach der Realität kam zumindest Gödel nicht darum herum, an der Kreuzung stehenzubleiben und eine Entscheidung zu treffen. Denn, wenn die Realität als absolut angesehen wird, muss sie zwangsweise die Qualität eines unverrückbaren Bezugssystems des Menschen darstellen:
Das mutet wie höherer Unsinn an. Der hat aber ungeahnte Folgen. Vor allem die, dass Einsteins spezielle Relativitätstheorie in Frage gestellt wird. Denn, deren philosophische Konsequenz läuft ja darauf hinaus, dass die Existenz der Zeit, die Realität des Jetzt… und damit die Realität selbst… gegenüber einem Bezugssystem relativiert werden kann.
Kein Problem für die Physik. Wohl aber für den Logiker. Denn, Gödel sagte sich: Es ist falsch, Begriffe wie Existenz oder Realität zu relativieren, ohne ihren Sinn völlig zu zerstören.
Du hast deine Sicht der Welt, ich habe meine. Beide Sichtweisen sind und bleiben aber real.
Und daraus folgt weiterhin in Bezug auf die objektive, Einsteinsche Zeit, dass diese Objektivität an der existenziellen Situation des Jetzt vorbeirauscht, sie unberührt lässt.
Und Gödel erklomm dann den Gipfel seiner Logik, indem er folgerte, dass wir eine Welt haben können, in der es eine Zeit gibt - die immer nur durch den jeweiligen Aufenthaltsort des Uhrenablesers bestimmt wird, die Zeit, die wir natürlich auch intuitiv empfinden… oder wir entschieden uns für eine Welt, in der es eine Realität gibt, auf deren Form die Zeit keinen Einfluss hat. Aber beides zugleich lässt sich nicht gewinnen.
Also entschied sich Gödel für eine Welt ohne Zeit. Zeit gibt es nicht!
Zeit gibt es nicht. Was allerdings nicht bedeutete, dass Gödel die Theorie seines Freundes Einstein verwarf oder als unvollständig wertete. Gödel wies nur darauf hin - was die meisten von uns leicht aus dem Gefühl heraus nachvollziehen - dass die Relativitätstheorie nicht erklären kann, was alltägliche Zeiterfahrung ist.
Das ist trivial, bekannt… eine vielfach ausgewalzte Thematik? Nein! Denn der Logiker schloss: Unser Empfinden der intuitiven Zeit beruht auf einem Missverständnis, einem
Irrtum.
Was bleibt, um diesen Irrtum zu überwinden, einen neuen Gefühlsmodus zu gewinnen - die Seele neu zu programmieren? Die Einsicht, dass die Mathematik eine von den zwischenmenschlichen Vereinbarungen und Reaktionen unabhängige Realität darstellt?
Was wäre mit dieser philosophischen Einsicht gewonnen? Handelt es sich nicht um ein zum Scheitern verurteiltes Denken an der Grenze der Erkenntnis?
Gottfried Benn zog für sich den Schluss: (Prosa aus der Geschichte "Urgesicht")
"Nach Jahren des Kämpfens um Erkenntnis und die letzten Dinge hatte ich begriffen, dass es diese letzten Dinge wohl nicht gibt."
Gödel dagegen, der fühlte, dass das Geheimnis der Zeit nicht innerhalb eines säkularen Projekts gelüftet werden konnte, trat in die Spuren von Gottfried Wilhelm Leibniz und versuchte sich auch an einem formalen Gottesbeweis.
"90 Prozent der heutigen Philosophen sehen ihre Hauptaufgabe darin, den Menschen die Religion aus dem Kopf zu schlagen,"
schrieb er an seine Mutter. Der Logiker veröffentlichte den Gottesbeweis nie. Erst nach seinem Tod erwiesen sich die logischen Prämissen seiner Überlegungen als problematisch.
Leibniz, besonders dessen "Prinzip des zureichenden Grundes" war ein geistiger Altar Gödels. Der Ansatz des zureichenden Grundes ist in Bezug auf die Zeit ein Kausalprinzip. Danach trägt jede Gegenwart, jedes Jetzt, schon die Zukunft in sich.
Und dies stand im Gegensatz zur damals stark diskutierten Unbestimmtheit physikalischer Größen im Mikrokosmos. Die Basis der so genannten Quantenphysik weckte sowohl Gödels als auch Einsteins Widerstand.
Gödel klagte: "Insbesondere hat diese Entwicklung in der Physik gerade in unserer Zeit einen Höhepunkt erreicht, in dem weitgehend die Möglichkeit einer Erkenntnis der objektivierbaren Sachverhalte bestritten wird, und es behauptet wird, dass man sich begnügen muss, Beobachtungsresultate vorauszusagen, was eigentlich das Ende jeder theoretischen Wissenschaft im üblichen Sinn ist."
Kurt Gödel scheiterte bei dem Versuch, die Philosophie auf die Frage nach der Realität der Zeit zu lenken. Es gelang ihm auch nicht, die Physiker davon zu überzeugen, daß er die philosophischen Konsequenzen der Relativitätstheorie wie kein anderer durchleuchtet hatte.
Einsam suchte er am Ende seines Lebens nach astronomischen Belegen dafür, daß unser expandierendes Universum eine zeitlose Welt repräsentiert.
Einsam, unverdrossen… wie Benn. Der bittere Maßstab für die Kunst des Denkens!
"Ich nehme den Kausaltrieb leidlos von meiner Stirn,"
hatte der junge Benn geschrieben.
"Es gibt strukturelle Gesetze in der Welt, die sich nicht kausal erklären lassen,"
erkannte Gödel… und teilte mit Gottfried Benn dessen Geschichtspessimismus:
"Die Welt neigt zum Verfall,"
bemerkte der Logiker enttäuscht… und mit ihr die Philosophie.
"Mit ihr geht es bergab, sie ist heute bestenfalls dort, wo die Mathematik zur Zeit der Babylonier war,"
erklärte er sarkastisch.
Man kann von einer Seelengemeinschaft zwischen Gödel und Benn sprechen.
Die intuitive Zeit als Irrtum, Missverständnis… und doch Quelle einer ästhetischen Kraft, die sich in einem der schönsten Gedichte des lyrischen Spätwerks Gottfried Benns offenbart. Die Zeit als Täuschung… Fata Morgana.
Benn: (Passagen aus dem Gedicht "Melancholie" von 1954)
"Wenn man von Faltern liest, von Schilf und Immen,
dass sich darauf ein schöner Sommer wiegt,
dann fragt man sich, ob diese Glücke stimmen
und nicht dahinter eine Täuschung liegt,
und auch das Saitenspiel, von dem sie schreiben,
mit Schwirren, Dufthauch, flügelleichtem Kleid,
mit dem sie tun, als ob sie bleiben,
ist anderen Ohren eine Fraglichkeit:
ein künstliches, ein falsches Potpourri –
untäuschbar bleibt der Seele Agonie.
Von Blumen musst du solche wählen,
die blühn am Zaun und halb im Acker schon,
die in das Zimmer tun, die Laute zählen
des Lebens Laute, seinen Ton:
vermindert oder große Terzen-
ein Kältliches verstarrt die Herzen.
Die Blumen so – dann zu Vergangenem
sich wendend oder Zukunft, wie sie wird,
da gehst du von Verschleiert zu Verhangenem,
einem vielleicht zu einwandfrei Geirrt,
ein Hin und Her: Einmal versiegte Güsse
und Noah strahlt, die Arche streift auf Land,
und einmal ist der Nil der Fluß der Flüsse,
Antonius küsst die braune, schmale Hand:
die Ruriks, Anjous, Judas, Rasputin
und nur dein eigenes Heute ist nicht drin."
Gottfried Benn als skeptischer Naturlyriker. Er schrieb in einem Brief:
"Ich bin ja kein Städter, ich hänge an Dörfern und am Land; Lyrik kann und konnte ich immer nur machen mit Landschaft um mich oder wenigstens in unmittelbarer Nähe, aber ich bekämpfe diese Neigung, sowie es sich um Gedankliches und Prosa handelt…"
Der Kritiker Friedrich Sieburg schrieb 1949 emphatisch über das Bennsche Spätwerk:
"In eisigem Licht wird das menschliche Herz in seiner Einsamkeit plötzlich sichtbar. Dass eine Dichtung so vollständig aus der Schöpfung heraustritt, um das Leben einer eigenen Schöpfung zu führen, widerfährt uns selten. Erst Benn ist es gelungen, diesem letzten Rückzug des Menschen auf sich selbst eine süße, fast schluchzende Sangbarkeit zu geben."
Zu Gedichten anderer Autoren hat sich Gottfried Benn immer anerkennend geäußert. Wenn sie sein strengstes Kriterium erfüllten: Keine Mittelmäßigkeit! Er sagte auch:
"Man erschafft das Gedicht mit, man denkt oder träumt in es hinein. Dann vergisst man es, oder lebt mit ihm weiter."
Aus seinen eigenen Werken schlug er dann 1950 für eine Anthologie nur dies Gedicht vor:
Benn: "Einst, wenn der Winter begann,
du hieltest von seinen Schleiern,
den Dämmerdörfern, den Weihern
die Schatten an.
Oder die Städte erglommen
Sphinxblau an Schnee und Meer-,
wo ist das hingekommen
und keine Wiederkehr.
Alles des Grams, der Gaben
frühher in unser Blut -:
wenn wir gelitten haben,
ist es dann gut?"
Wenn wir gelitten haben… in und an der Zeit…
Geist und Leben stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Benn und Gödel: Denk - Geschwister unter demselben Motiv. Mehr Inspiration zur Arbeit für den Dichter, mehr Signatur des Schicksals für den Logiker.
Doch gleichen die Vorstellungswelten, die sie uns hinterließen, den Entwürfen zweier Architekten für ein Gebäude, das sich nicht präzise zeichnen lässt, weil sein Fundament auf
der Zeit schwankt.