Bizarre Schönheit

Nur ganz wenige Gedichtbände haben sich der Nachwelt so eingeprägt wie "Die Blumen des Bösen" von Charles Baudelaire. Als einer der Ersten hat Baudelaire die Moderne und das großstädtische Leben in seinen Versen festgehalten. Nun sind "Die Blumen des Bösen" zum ersten Mal komplett als Hörbuch erschienen.
Brückner:
"An eine, die vorüberging.

Betäubend heult die Straße rings um mich. Hochgewachsen,
schlank, in tiefer Trauer, hoheitsvoller Schmerz, ging eine Frau
vorüber üppig hob und wiegte ihre Hand des Kleides wellenhaften
Saum.

Leicht und edel setzte sie wie eine Statue das Bein. Ich aber
trank, im Krampf wie ein Verzückter, aus ihrem Auge, einem
fahlen, unwetterschwangeren Himmel, die Süße, die betört, die
Lust, die tötet."

So beginnt eines der berühmtesten Gedichte aus Charles Baudelaires Zyklus "Die Blumen des Bösen", das von der flüchtigen Begegnung zweier Menschen in der Großstadt handelt. Emphatisch lobte Victor Hugo die am 21. Juni 1857 in Paris erschienene erste Ausgabe von Baudelaires Gedichten. Mit ihnen habe er "dem Himmel der Kunst ein neues Gestirn mit der düsteren Leuchtkraft des Grauens geschenkt." Weniger erfreut reagierte hingegen die sittenstrenge Justiz, die sich um die Moral der Bürger sorgte und gerichtlich gegen den Autor und sein Werk vorging.

Für den Staatsanwalt schien es der allein richtige Weg zu sein, die Öffentlichkeit vor diesen angeblich obszönen und blasphemischen Versen zu schützen. Wegen Herabsetzung der Religion und der öffentlichen Moral wurden sechs von Baudelaires Gedichten, darunter "Lethe", verboten.

Brücker:
"Lethe
Komm an mein Herz, grausame, dumpfe Seele, geliebter Tiger,
lässiges Untier; lange will ich meine bebenden Finger eintauchen
in die Dichte deiner schweren Mähne

In deinen Röcken, voll von deinem Duft, mein schmerzgeplagtes
Haupt vergraben und, wie von welker Blüte, dem süßen Nachtge-
Ruch einatmen meiner toten Liebe."

Christian Brückner liest Baudelaires Gedichte in der sehr gelungenen Übertragung von Friedhelm Kemp. Ruhig, auf Pausen bedacht, ohne jedoch den Rhythmus der Verse zu vernachlässigen, gelingt es ihm, die geheimnisvollen Seiten dieser Gedichte zu entdecken. Baudelaire zieht es in die dunklen Räume, er ist den Huren, Trinkern und Lumpensammlern näher als der sich im Reichtum spiegelnden Welt.

Das Morbide erhält in seinen Gedichten einen fahlen Glanz, und die Wollust bezieht ihre Reize aus einer vergifteten Erotik. Er straft die Scheinheiligen, die auf ihre Moral bedachten Bürger mit der größten ihm zur Verfügung stehenden Verachtung: Er ignoriert sie. Baudelaire ist bei den Sündern zu Hause. In dem fulminanten Eröffnungsgedicht "An den Leser" lässt er keine Zweifel daran aufkommen, an wen er sich wendet.

Brückner:
"Der Teufel hält die Fäden , die uns bewegen! Widriges scheint
uns verlockend; mit jedem Tage tun wir höllenab einen weitern
Schritt, doch ohne Graun, durch Finsternisse voll Gestank

So wie ein armer Lüstling, der den zerquälten Busen einer abgelebten
Metze küßt und ißt, so im Vorbeigehn stehlen wir heimlich
eine Lust uns, die wir auspressen fest wie eine altgewordene Orange

Gedrängt und wimmelnd, gleich einer Unzahl Eingeweidewürmer,
schwelgt in unsern Hirnen ein Volk von Dämonen, und atmen
wir, so dringt in unsere Lungen, ein unsichtbarer Strom, der
Tod herab, mit dumpfem Klageton."

Viereinhalb Stunden hört man gebannt Baudelaires Verse in Christian Brückners Interpretation. Wie der Dichter, der es bei einer respektvolle Nähe zu den Erniedrigten belässt, nähert sich Brückner Baudelaires Gedichten äußerst behutsam, wobei es ihm gelingt, die ihnen eingeschriebene Melancholie zu verdeutlichen, die sich auch in dem Gedicht "Der Albatros" findet:

Brückner:
"Dieser geflügelte Reisende, wie ist er linkisch und schlaff! Er
unlängst noch so schön, wie ist er lächerlich und hässlich! Der
eine neckt seinen Schnabel mit einer Stummelpfeife, der andere
ahmt hinkend den Krüppel nach, wie er zu fliegen versuchte!

Der Dichter gleicht dem Fürsten der Wolken, der mit dem Sturm
Gemeinschaft hat und des Bogenschützen spottet; auf den Boden
verbannt, von Hohngeschrei umgeben, hindern die Riesenflügel
seinen Gang."

Christian Brückner entführt einen kraftvoll, aber dann auch wieder zurückhaltend zart in die geheimen Winkel der Baudelaireschen Dichtung. Dabei wird seine Stimme zum Halt gewährenden Vertrauten, wenn in den Gedichten die Abgründe des Daseins durchmessen werden.

Ist der letzte Vers eines Gedichts verklungen, lässt Brückner lange, wohltuende Pausen, damit das Gedicht nachklingen kann. Eine Dichtung von dunkler Schönheit, ein Hörerlebnis ersten Ranges.

Rezensiert von Michael Opitz

Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen
Gelesen von Christian Brückner. Übersetzt von Friedhelm Kemp. 4 CDs, Gesamtlänge 275 Minuten. Parlando Verlag. Berlin 2009.