Der Kampf um schwarze Wählerstimmen
22:00 Minuten
Corona, Polizeibrutalität und die schwierige Wirtschaftslage sind Themen, die afroamerikanische US-Bürger umtreiben. Und auf ihre Stimmen könnte es bei den US-Präsidentschaftswahlen ankommen. Gelingt es, sie für die Wahl zu mobilisieren?
Prunkvolle Plantagenhäuser der typischen Südstaatenarchitektur säumen die Straße. Ein Gärtner sprengt den makellosen Rasen unter den Oleanderbäumen. Die Küstenstadt Charleston in South Carolina gilt als Architekturjuwel und als Touristen-Hotspot.
Doch in diesem Jahr sind viele Besucher wegen der Coronakrise weggeblieben. Nur wenige Pferdekutschen mit Touristen holpern durch die Stadt. Die edle Einkaufsmeile, die King Street mit ihren teuren Boutiquen, Austernbars und Weinläden, wirkt an diesem Tag wie ausgestorben.
Cinder Cooper Barnes ist keine Touristin. Die Afroamerikanerin mit den langen Dreadlocks und den goldenen Ohrringen ist hier in South Carolina geboren. Die 46-Jährige versinkt fast in dem plüschigen Sessel in der Lobby des altehrwürdigen Mills House Hotel, einem rosafarbenem Kasten aus dem 19. Jahrhundert. Die Gegend um Charleston ist ihr Zuhause, erzählt sie.
"Ich bin in einer Stadt nordwestlich von hier aufgewachsen, eher ein Dorf mit etwa 2000 Einwohnern. In meiner Schule war die Mehrheit schwarz. Wahrscheinlich 90 Prozent, oder sogar 95 Prozent Schwarze und nur fünf Prozent Weiße."
Weiterhin Straßenproteste gegen Polizeiwillkür
Rund ein Drittel der Bevölkerung in South Carolina ist schwarz. Die wenigsten von ihnen wohnen im schicken Charleston. Die Mieten und das Leben sind zu teuer geworden. Nur wenige Kilometer weiter – in North Charleston – gibt es Wohnviertel, in denen fast nur Afroamerikaner wohnen. Gegenden, in die sich kein Tourist nach Anbruch der Dunkelheit mehr trauen würde.
Auch Cinder Cooper Barns lebt schon lange nicht mehr in Charleston. In diesen Wochen kümmert sie sich um ihre alten Eltern in Myrtle Beach in South Carolina. Normalerweise lebt sie in Maryland. Dort lehrt sie am Montgomery College Literatur. Dass sie als Schwarze zu einer Minderheit zählt, habe sie erst an der Uni festgestellt, erzählt die Amerikanerin. "Nur wenig hat darauf hingedeutet, dass wir in einer rassistischen Gesellschaft gelebt haben. Es gab nur ein paar Momente, an die ich mich erinnern kann, in denen ich offenen Rassismus erlebt habe."
Heute sieht Cinder Cooper Barns das anders. Seit dem Tod des Afroamerikaners George Floyd Anfang Mai in Minneapolis sind die Rassenunruhen in den USA wieder aufgeflammt. Floyd kam ums Leben, weil ein weißer Polizeibeamter bei einer Routinekontrolle acht Minuten und 46 Sekunden auf seinem Hals gekniet und ihm die Luft abgeschnürt hatte. Festgehalten auf einem verstörenden Handyvideo.
Seitdem kommt es überall in den USA immer wieder zu Straßenprotesten. Die Menschen demonstrieren gegen Polizeiwillkür und für mehr soziale Gleichheit von Schwarzen und Weißen im Land. Die Benachteiligung der schwarzen Minderheit wird durch die Corona-Pandemie noch verstärkt.
Afroamerikaner sind stärker von Corona betroffen
Afroamerikaner sind von Covid-19 wesentlich häufiger betroffen – unter anderem, weil sie mehr Vorerkrankungen haben. Laut dem Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention (CDC) war von den Corona-Patienten, die ins Krankenhaus mussten, rund ein Drittel schwarz. Dabei beträgt ihr Anteil an der US-Bevölkerung nur 15 Prozent. Hunderttausende haben ihren Job verloren – und damit auch häufig ihre Krankenversicherung. Fast ein Viertel der afroamerikanischen Bevölkerung lebt ohnehin unter der Armutsgrenze. Zwangsläufig sind daher für die Black Community vor dieser Präsidentenwahl drei Themen besonders wichtig: Polizeigewalt, wirtschaftliche Not und Diskriminierung.
Cinder Cooper Barnes hat ihren Sohn Cody und dessen Freunde zusammengetrommelt. Junge Charlestonians, die der Tyrannisierung von Schwarzen ein Ende bereiten wollen und sich für soziale Gerechtigkeit engagieren. Ihre Initiative nennen sie The HUB: ein Aktionsnetzwerk, das sich vor allem für Bildung und eine bessere wirtschaftliche Situation von Schwarzen einsetzt.
Geschichte der Sklaverei – ein Tabuthema?
Treffpunkt der jungen Leute ist eine Art Gemeindezentrum in einem schmuddeligen Hinterhof in Downtown Charleston. Aus den Gullys riecht es faulig, vor der Tür liegen Unmengen an Zigarettenkippen. Drinnen: alte Sofas und wackelige Stühle, auf denen sich die jungen Leute – mit dem gebotenen Corona-Abstand – fläzen. Unaufgefordert fangen sie an zu erzählen. Die Unterdrückung von Schwarzen kann man jeden Tag in Charleston beobachten, erklärt Jack, ein großer schlanker Kerl, mit weißem Hemd und Goldkette.
"Charleston ist die Nummer eins in der Welt, was Sklavengeschichte angeht. Aber die Stadt hält den Deckel drauf. Weiße Leute erzählen Lügen, um damit Geld zu verdienen. Und wir Schwarze haben einen Maulkorb. Ich bin einer von nur drei schwarzen Tourguides hier in der Stadt. Insgesamt gibt es über 1000. Ich bin in der Nähe des Sklavenmarktes aufgewachsen. Aber sie wollen nicht, dass ich die Wahrheit erzähle."
Jacks Augen blitzen vor Wut. Er redet sich in Rage. Cody, der Sohn von Cinder Cooper Barnes, der neben ihm sitzt, wirkt etwas entspannter. Der 26-Jährige ist Musiker, arbeitet, um zu überleben, als Musiklehrer.
"Als schwarze Person in Amerika empfindet man eine Menge Wut und Verwirrung. Man fühlt sich ständig missverstanden und kann sich nicht richtig ausdrücken. Erstens, weil man es nicht gelernt hat, zweitens, weil mit Unbehagen darauf reagiert wird."
"Biden kann einen besseren Job machen als Trump"
Vor allem junge Leute sind nicht länger bereit, die Ungleichbehandlung von Menschen verschiedener Hautfarbe hinzunehmen. Seit Monaten gehen sie auf die Straße, um gegen diese schreiende Ungerechtigkeit zu protestieren. Unter anderem in Minneapolis, New York, Kenosha, Rochester, Portland und in Washington.
"We are all humans" – "Wir sind alle Menschen" – steht auf den Schildern der Demonstranten vor dem Lincoln Memorial. Tausende haben sich am 28. August an der National Mall in der US-Hauptstadt versammelt, um ein Zeichen zu setzen. Das Datum ist nicht zufällig gewählt. Der 28. August ist der Jahrestag der berühmten "I have a dream"-Rede von Martin Luther King. Am 28. August 1963 hatte der Bürgerrechtler vor mehr als 250.000 Menschen genau an diesem Ort seine Zukunftsvision von einer Gleichstellung aller Afroamerikaner verkündet.
Joseph Armstrong sitzt mit seiner Familie unter einem Baum im Schatten. Der 26-Jährige trägt eine Baseballkappe und eine Maske, auf der steht "I can’t breathe". Er sei aus Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin angereist, erzählt er, weil er will, dass sich endlich was verändert.
"Leute werden auf der Straße getötet, so als sei nichts gewesen. Jeden Tag aufs Neue. Alle sehen es, und es ist ihnen egal", beklagt Joseph. "Ich glaube wirklich, dass Biden einen besseren Job machen kann, als Trump es derzeit macht. Trump macht die Dinge nur schlimmer. Er hat eine Menge von dem, was wir gerade erleben, ausgelöst."
Demokraten rücken nach links
Demonstrationen sind eine Maßnahme, um sich in einer Demokratie Gehör zu verschaffen. Eine andere ist die aktive Mitwirkung im politischen Prozess, sprich: wählen zu gehen.
In einem Wahlspot wendet sich Joe Biden, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, ausdrücklich an die schwarze Community. Die Schwarzen haben immer an das Versprechen eines besseren Amerika geglaubt, heißt es darin. Auch heute sollten sie Stellung beziehen – gegen den amtierenden Präsidenten.
Viele Schwarze schätzen Joe Biden noch aus der Obama Zeit und wissen, dass sie sich auf ihn verlassen können. Auch deswegen kann er sich der Mehrheit der schwarzen Wählerstimmen relativ sicher sein. Bei der letzten Wahl im Jahr 2016 stimmten rund 89 Prozent für Hillary Clinton und nur acht Prozent für Donald Trump. Das liegt vor allem daran, dass die Demokraten in den Sechzigerjahren die Bürgerrechtsgesetze mit erkämpft haben, sagt Kris Marsh. Sie ist Soziologie-Professorin an der University of Maryland. Wegen der Corona-Restriktionen treffen wir uns bei ihr zu Hause und sitzen auf Campingstühlen in ihrer Garage zwischen Gartengeräten und Mülltonnen.
"Im Moment denkt die schwarze Wählergruppe, dass die Demokraten eher ihre Bedürfnisse befriedigen. Von den beiden Parteien, zwischen denen wir uns entscheiden können, setzen sich die Demokraten eher für Randgruppen ein, insbesondere für Schwarze."
Marshs Kollege Clarence Lusane, Politikwissenschaftler an der Howard University in Washington, nennt drei Faktoren, mit denen die Demokraten die Schwarzen gewinnen wollen. Erstens: Sie haben Kamala Harris als Vizepräsidentschaftskandidatin aufgestellt. Zweitens: Sie sind weiter nach links gerückt und sprechen dadurch besonders junge Wähler an. Und drittens: Sie haben Strategien gegen Polizeibrutalität erarbeitet. Professor Lusane ist per Skype zum Interview dazu geschaltet.
"Das Repräsentantenhaus hat ein Polizeigesetz entworfen, das dem entspricht, was viele Demonstranten fordern, zum Beispiel: den Würgegriff zu verbieten. Die Biden-Kampagne hat sich das zu eigen gemacht und will damit speziell schwarze und braune Wähler ansprechen."
Niedrige Wahlbeteiligung befürchtet
Ein weiteres Problem ist die niedrige Wahlbeteiligung. Bei der letzten Wahl gingen nur rund 55 Prozent der wahlberechtigten Amerikaner an die Urne. Die Demokraten sind daher auf jede einzelne Stimme angewiesen – vor allem in den sogenannten Swingstates, den Wechselwählerstaaten wie etwa North Carolina, Pennsylvania, Michigan und Wisconsin. Je mehr junge schwarze Wähler zur Wahlurne gehen, desto bessere Chancen haben die Demokraten zu gewinnen. Politikprofessor Clarence Lusane hält die Corona-Pandemie für einen Faktor, der wahlausschlaggebend sein könnte.
"Viele Schwarze waren entweder selbst krank oder haben Familienmitglieder, die krank waren. Die Auswirkungen der Pandemie auf die schwarze Community sind nicht zu übersehen. Viele Afroamerikaner haben Freunde und Verwandte, die an Covid gestorben sind. Dafür geben sie der Trump-Regierung die Schuld."
Eine schwarze Republikanerin in Maryland
Nicht alle Menschen mit dunkler Hautfarbe in den USA sind liberal. Wie vielen weißen männlichen Wählern gefällt auch manchen schwarzen Wählern Trumps Geprotze und Macho-Gehabe. Andere Afroamerikaner sind sehr gläubig und lehnen daher Abtreibung oder die gleichgeschlechtliche Ehe ab.
Kimberly Klacik aus Baltimore hat sich für die Republikaner für die Kongresswahl aufstellen lassen. Für ein Propagandavideo läuft die Vorzeigefrau von Präsident Trump auf roten Highheels durch eine heruntergekommene Gegend Baltimores und prangert die Missstände in der Stadt an.
"Die Demokraten haben diesen Teil von Baltimore seit über 50 Jahren unter Kontrolle. Sie haben ihn zugrunde gewirtschaftet. Verlassene Gebäude, Schnapsläden an jeder Ecke, Drogenabhängige, Waffen auf der Straße, das ist heutzutage in vielen Stadtteilen normal. Traurigerweise sieht man diesen Verfall in vielen demokratisch regierten US-Städten. Und trotzdem gehen die Demokraten davon aus, dass die Schwarzen für sie wählen werden."
Unermüdlich tourte die 38-jährige Afroamerikanerin in den letzten Wochen durch ihren Wahlkreis in Maryland – und begrüßt trotz Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus jeden potenziellen Wähler mit Handschlag, dafür ohne Gesichtsmaske. Bei den meisten Bürgern, die sich in dem proppevollen Restaurant maskenlos um sie scharen, kommt die junge Konservative gut an.
"Ich glaube, sie ist eine sehr unabhängige, junge, aggressive Führungspersönlichkeit. So etwas brauchen wird dringendst in diesem Wahlkreis", sagt ein weißer Herr. Auch ein Besucher mit dunkler Hautfarbe ist von der jungen Frau beeindruckt.
"Es ist selten, dass man eine schwarze Republikanerin in Maryland trifft. Wenn es ums Geld ausgeben geht, bin ich ziemlich konservativ. Für welche Partei soll ich dann stimmen: Republikaner oder Demokraten? Ich bin flexibel und offen und höre erst einmal zu. Am liebsten hätte ich noch eine dritte Alternative!"
Jung, Afroamerikaner, Nicht-Wähler
Zurück ins gepflegte Charleston in South Carolina mit seinen ruhigen Straßen und herausgeputzten Südstaatenvillen. Das Treffen der jungen Leute im Gemeindezentrum ist fast zu Ende. Sie debattieren noch darüber, ob sie am 3. November wählen gehen sollen – oder nicht. Der Bundesstaat South Carolina gilt als "Red State", ist also fest in republikanischer Hand. Und daran wird sich vermutlich auch nach dem 3. November nichts ändern. In der Stadt Charleston haben allerdings seit geraumer Zeit die Demokraten die Oberhand. Cody, der Musiklehrer und Sohn von Cinder Cooper Barns, erzählt, dass er sich zumindest registriert hat, um wählen zu gehen.
"Ich habe die Entscheidung noch nicht endgültig getroffen. Aber ich finde, dass Wählen auf der lokalen und regionalen Ebene wichtiger ist als die Entscheidung darüber, wer der nächste Präsident wird."
Seinem Kumpel Quis, der neben ihm auf dem Teppichboden hockt, ist es ebenfalls ziemlich egal, wer als nächstes die USA regieren wird. "Was die Präsidentschaftswahlen angeht, würde ich eher für eine Zigarette stimmen als für einen der beiden Kandidaten. Mir wurde das Wählen auch nie richtig nahegebracht. Aber auf lokaler Ebene – Stadtparlament, Bürgermeister – ist es voll wichtig. Da bin ich hundertprozentig gleicher Meinung."
Auch von den anderen jungen Leuten im Raum hat keiner vor, wählen zu gehen. Ein typisches Bild für das Wählerverhalten von jungen Leuten in den USA, insbesondere junger Afroamerikaner, meint Cinder Cooper Barns. Sie wird am 3. November auf jeden Fall ihre Stimme abgeben – für Joe Biden und Kamala Harris.
"Ich glaube, wenn Biden und Harris gewinnen, dann können wir damit beginnen, die Wunde zu heilen. Denn sie wollen die Nation versöhnen. Trump dagegen würde nur weiter Salz in die Wunde streuen. Sie müssen gewinnen, damit das Heilen beginnen kann."
"Unser Kampf um Gerechtigkeit dauert ein Leben lang"
Viele Amerikaner fürchten weitere Auseinandersetzungen zwischen Trump-Anhängern und Black-Lives-Matter-Demonstranten. Egal wer im November die Wahl gewinnt – die Spaltung des Landes wird so schnell nicht überwunden werden. Terri, eine der jungen Aktivistinnen aus Charleston, glaubt, das Land sei an einem Wendepunkt angekommen.
"Ich fühle weniger Angst. Ich finde, diese Zeit ist eine große Herausforderung. Ich fühle mich energetisiert, weil ich weiß, dass viele Gleichgesinnte mit uns für die gleiche Sache kämpfen. Dies ist unsere Zeit."
Der im Juli verstorbenen Bürgerrechtler John Lewis hat es so ausgedrückt: Sei optimistisch. Unser Kampf dauert nicht nur einen Tag, eine Woche, einen Monat lang. Unser Kampf um Gerechtigkeit wird ein Leben lang dauern.