Blaue Grotte neben hohlem Zahn

Von Adolf Stock |
Im Zweiten Weltkrieg wurde der Vorgängerbau zerstört. Der Neubau mit der historischen Turmruine wurde zum Wahrzeichen von West-Berlin. Er spielte emotional eine wichtige Rolle, vor allem für die Menschen im Westteil der Stadt, auch weil zu Mauerzeiten die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Bischofssitz war.
1961, sagt Martin Kruse, Berliner Bischof im Ruhestand, war für Berlin ein schicksalhaftes Jahr. Nach dem Gottesdienst steht er auf dem kleinen Platz zwischen dem alten Turm und der Gedächtniskirche.

"Damals war ja, als die Kirche geplant wurde, die Mauer noch nicht gebaut. Und dann wurde die Mauer gebaut, da war die Kirche schon aus der Erde herausgewachsen, und ist dann 1961 im Dezember eingeweiht worden durch Bischof Dibelius, der ja nicht mehr in der Marienkirche in Ost-Berlin predigen durfte. Und dann ist hier die Gedächtniskirche zur Bischofskirche geworden."

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde zu einem Mahnmal für die geteilte Stadt. Tempi passati. Nach dem Fall der Mauer ist die Marienkirche in Berlin-Mitte wieder Bischofsitz. 1943 wurde die alte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche durch einen alliierten Luftangriff zerstört. Ziel der Bomben war eigentlich der benachbarte Bahnhof Zoo, doch damals bebte die Erde so gewaltig, dass die Spitze des Hauptturms abbrach und auf das Kirchenschiff fiel.

Aus jenen Tagen gibt es noch eine kuriose Mosaik-Vase an der Kreuzung Kurfürstendamm, Ecke Uhlandstraße. Sie besteht aus Mosaiksteinen der zerstörten Gedächtniskirche und wurde Mitte der 50er-Jahre dort aufgestellt. "Na Olle", schrieb der Berliner Tagesspiegel 1984, "bist zwar unnütz aber standhaft".

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren von 235 Häusern am Kurfürstendamm nur noch 43 bewohnbar. Die einst noble Adresse lag in Schutt und Asche. Gabriele Schmelz ist am Kudamm großgeworden, sie erinnert sich an jene Zeit.

"Janus Kadel, ein Maler, Jahrgang 36, bei Kriegsende gehörte der zu einer Truppe, die nannte sich Berliner Ruinenindianer, das heißt die sind immer in die ruinösen Häuser gestiegen und im vierten Stock auf Stahlträgern balanciert. Die haben Handgranaten entschärft, und dann gibt es in seinen Erzählungen, dass die Ruinenindianer in den Turm der Gedächtniskirche geklettert sind, bis weit nach oben und haben es auf irgendeine Weise geschafft, die Glocke anzustoßen. Am nächsten Tag stand in der Zeitung: Die Glocken unserer Gedächtniskirche läuten wieder."

Damals begannen die Berliner zwischen Schwarzhändlern und Ruinen wieder auf dem Kudamm zu flanieren. 1957 bekam der Architekt Egon Eiermann den Auftrag für ein neues Gotteshaus. Seine ersten Pläne hatten mit dem später gebauten Entwurf nur wenig zu tun. Er wollte moderne Gebäude für eine bessere Zukunft bauen. Doch seine Pläne scheiterten am Protest der Berliner Bevölkerung. Im September 1955 fasste Gemeindepfarrer Schmidt die Diskussion um die Gedächtniskirche in einer Sendung für den RIAS zusammen.

"Es muss gelingen, den Turm - das Antlitz des Westens unserer Stadt - zu erhalten. Dazu ermuntern uns auch die zahlreichen Zuschriften aus dem In- und Ausland und die Tatsache, dass es keine deutschsprachige Zeitung außerhalb unserer Grenzen gibt, die uns nicht Mut machte zum Wiederaufbau unserer Kirche, des Wahrzeichens des Westens, des Symbols der Freiheit."

"Da gab es Protest der Berlinerinnen und Berliner, die ihren alten Turm bewahren wollten. Und Schritt für Schritt ist dadurch ein ganz wichtiges Symbol geworden, Altes nicht wegzunehmen, sondern Altes zu bewahren, weil es zu unserer Geschichte dazugehört, aber eben mit all diesen Brüchen, die dieser alte Turm hat."

Pfarrerin Cornelia Kulawik erinnert an die damalige Situation. Architekt Egon Eiermann fügte sich eher widerwillig. Bei der Grundsteinlegung leugnete er jede symbolische Bedeutung der Turmruine. Sein revidierter Entwurf ist ein Ensemble, das den alten Turm geschickt umspielt: Ein Oktogon als Ersatz für das Kirchenschiff, ein Gemeindesaal und ein neuer Turm für die Glocken der neuen Gedächtniskirche.

"Die Kirche hat nachts blau geleuchtet und der Turm war im Dunkeln, als Kriegsruine sozusagen, und ich persönlich denke, dass das eine sehr gute Idee wäre, wenn der alte Turm was für den Tag wäre, aber nicht für die Nacht."

Stefan Klaschnik ist Mitglied im Förderverein der Gedächtniskirche. Er möchte, dass die leuchtend blauen Fenster des Neubaus im Mittelpunkt stehen. Eiermanns damaliger Vorschlag, die Turmruine komplett zu begrünen, steht dagegen heute nicht mehr zur Diskussion.

Der Orgelbauer Eberhard Kunz gehört zu den Handwerkern der ersten Stunde. Zum Erntedankfest 2011 wurden er und viele Kollegen in die von ihnen neu erbaute Gedächtniskirche eingeladen.

"Für mich war wichtig, dass wir hier eine Orgel drin bauen. Na, so eine Pfeifenorgel von der Firma Schuke. Die weltberühmte Firma Schuke. Die haben Orgeln in der ganzen Welt gebaut, zum Beispiel in der Philharmonie in Berlin hier und überall, Japan, Korea."

"Sie befinden sich hier auf einer Baustelle. Sie alle kriegen jetzt einen Helm auf ... dann gehen wir los, kommen Sie mit!"

Zurzeit wird der alte Turm saniert. Der Theologiestudent Eike Thies besteigt mit einer Handvoll Besuchern das Baugerüst. Schon in den 60er-Jahren hat der Turm einen Metallgürtel bekommen, um die Statik zu sichern, 20 Jahre später wurde erstmals das Mauerwerk saniert. Doch jetzt sind die Fugen schon wieder rissig, und es dringt Feuchtigkeit ins Mauerwerk.

"Hinzu kommt, dass 1983 man sehr viel auf Chemie gesetzt hat, das heißt, man hat die vollständige Fassade mit einer Hydrophobierung bestrichen, das ist ein wasserabweisende, feuchtigkeitsabweisende Schicht, die wird man nie wieder los. Und die sorgt nun für eine sogenannte Schalenbildung, die eigentlich das Schlimmste ist. Feuchtigkeit dringt hinter diese hydrophobierte Schicht, das heißt, dass Fassadenteile, trockene Fassadenteile, wie spröde Schalen ganz einfach herabfallen."

Offiziell sollen die Sanierungsarbeiten 2012 beendet sein, aber es könnte auch länger dauern, denn der letzte Winter war streng, und die Schäden am Mauerwerk sind weitaus größer als angenommen. Jetzt wird zwar 50-jähriges Jubiläum gefeiert, doch erst in ein, zwei Jahren wird die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wieder im vollen Glanz erstrahlen, auch wenn sie nun - anders als in den 60er-Jahren - zwischen lauter neu gebauten Hochhäusern steht.

Literatur:
Kai Kappel (Hg.) Egon Eiermann - Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche 1961/ 2011, Lindenberg (Kunstverlag Josef Fink) 2011. 80 Seiten, ca. 50 Bilder, 9,80 Euro.

Homepage der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
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