Dieter Richter: Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft
Wagenbach, Berlin, 2014
240 Seiten, 24,90 EUR
Mutter alles Lebendigen
Das Meer ist die größte Region der Erde: Fast drei Viertel der Oberfläche unseres Planeten sind von ihm bedeckt. Dieter Richter macht mit seiner Kulturgeschichte des Meeres viel Lust aufs blaue Nass.
Ginge es nach einem barocken Sprichwort, dann würde es durchaus genügen, das Meer als Sehnsuchtstraum vom festen Grund aus zu huldigen – befahren müsste man es nicht unbedingt: "Preise das Meer und bleib auf dem Lande", lautet die zur Vorsicht mahnende Empfehlung. Nicht um Distanz, sondern um Nähe zum Meer geht es dem in Bremen und Süditalien lebenden Literaturwissenschaftler Dieter Richter in seiner vorzüglich zu lesenden Studie "Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft".
Nach der Welt der Berge, ein Vulkan stand im Zentrum von Richters Buch "Der Vesuv", wendet er sich nun dem maritimen Bereich zu, wobei das Mittelmeer als Kulturraum im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht. Da Richter seine Überlegungen keinem fluiden Material anvertraut hat, lässt sich das mit zahlreichen Bildern ausgestattete Kompendium leicht in jedem Koffer unterbringen, der zu packen ist, wenn es ans Meer gehen soll. Am Strand, der Grenze zum Meer, kann es von Frauen und Männern gelesen werden, die sich heutzutage nach kühlem Bade an einem gemeinsamen Strand vergnügen dürfen, was bis zum Ersten Weltkrieg – so ist es bei Richter nachzulesen – noch anders war: Da gab es noch an Nord- und Ostsee getrennte Damen- und Herrenstrände.
Am Beginn von Richters Reise steht der Hinweis, dass Gott es war, der in der Genesis das Feste vom Flüssigen trennte, und dem es gefiel, drei Viertel der Erdoberfläche mit Wasser, der "Mutter alles Lebendigen", zu bedecken. Deshalb spricht man vom wasserblauen Planeten und erfährt von Richter, dass selbst die Farbe des Meeres in seiner Geschichte Veränderungen unterlag. Das Leuchten des Meeres, das um 1800 Wissenschaftler wie Georg Forster und Alexander von Humboldt in Staunen versetzte, gibt es heute nicht mehr. Wer es nicht selbst gesehen hatte, glaubte Zeuge eines Märchens zu sein, aber es waren kleinste Mikroorganismen, die das Meer zum Leuchten brachten.
Von wütenden Göttern und Meeres-Musik
Besonders die Literatur, die bildende Kunst und auch die Musik zieht Richter zu Rate, um in die Geschichte und in die Geheimisse des Meeres vorzudringen, das immer noch eine große Unbekannte ist. In seiner unendlichen Weite hat es nicht nur Faszination, sondern auch Angst ausgelöst. Poseidon, der Herrscher des Meeres, ein stets missgelaunter Gott, lässt seine schlechte Laune mit Vorliebe am Meer aus, das er mit seinem Dreizack aufwühlt. Blinde Wut beherrscht den Gott des Meeres, der seinen größten Auftritt in Homers "Odyssee" hat, in der ein Mann gegen die Schrecken des Meeres kämpft. Bis zu Hemingways "Der alte Mann und das Meer" lebt dieser Archetypus Mann gegen Meer in der Literatur fort.
In der Renaissance bekam Poseidon mit Galatea eine weibliche Konkurrentin. Umgeben von Delphinen tritt die nackte Schöne auf Raffaels Fresko in der Villa Farnesina ihren Triumphzug an - , wobei sie für die heiteren Seiten der Welt des Meeres steht.
Angefangen von den mit dem Meer verbundenen Urängsten über die Mythisierung bis hin zum Handel, der Piraterie und der Badekultur weiß Richter in seinem Buch so überaus gelehrt und dennoch unterhaltsam zu erzählen, dass bereits die Lektüre ein geheimnisvolles, ans Meer ziehendes Wellenrauschen auslöst, als hielte man eine Muschel ans Ohr.