Blick in politische Zeitschriften

Von Arnulf Baring |
Die Zeitschrift "Internationale Politik" nimmt ihren 60. Geburtstag für einen Neuanfang in Form und Stil zum Anlass. Sie wird von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik herausgegeben. Die erste Ausgabe dieses Jahres sei fulminant, lobt der Rezensent Arnulf Baring.
2005 wird die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik fünfzig Jahre alt. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift "Internationale Politik", das ursprüngliche "Europa-Archiv", 1945 gegründet, feiert sogar den 60. Geburtstag. Diese Daten sind, wie Chefredakteurin Sabine Rosenbladt schreibt,

" Anlass genug für einen Neuanfang in Form und Stil. Denn im vergangenen halben Jahrhundert hat sich nicht nur das politische Terrain, es haben sich auch die Lesegewohnheiten und die Ansprüche an ein wissenschaftliches Periodikum verändert; das Hindurchquälen durch öde 'Bleiwüsten' muss heute nicht mehr zwingend vom intellektuellen Leser verlangt werden. "

Entsprechend aufgeräumt und fast durchweg fulminant formuliert kommt die "Internationale Politik" jetzt daher. In der ersten Nummer – inzwischen liegt schon die zweite auf dem Tisch – findet sich kein einziger Beitrag, den man, nur angelesen, beiseite legen könnte. Da behauptet der Tübinger Ethnologe Thomas Hauschild, wenn der Westen überleben wolle, müsse er wissen, wer seine Feinde seien. Stattdessen gewinne man den Eindruck, zumal in Deutschland, dass die Zerstörung der New Yorker Twin Towers den Geistesarbeitern und Kulturmenschen nachhaltig die Sprache verschlagen habe.

" Man kann nicht behaupten, dass die Deutschen noch mehrheitlich in aggressiver Weise fremdenfeindlich und empfindlich gegenüber der Fremde wären oder gar chauvinistisch. Es ist mehr so, dass sie die ihnen aus der Fremde gelegentlich drohenden Gefahren nicht wahrnehmen wollen – ein Mittelding aus zivilgesellschaftlichem Mut und dem Gleichmut des Satten, der das Fremde toleriert, aber nicht kennen will."

In Deutschland kenne man nicht mehr fremde Abgründe. Bei uns gebe es lediglich den alten Scholl-Latour, der uns die islamische Welt mit seinem Anekdotenschatz erkläre. Für eine G-8-Nation und den größten Staat der EU sei das sehr bescheiden. Hingegen habe Frankreich hoch renommierte Institutionen, an denen Hunderte von Wissenschaftlern über den Nahen und mittleren Osten sowie Nordafrika arbeiteten.

Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter fragt sich, was die Konservativen heutzutage für das Schutz- und Sicherheitsbedürfnis der Wählerschaft täten, als deren Schutzpatrone sich Kanzler wie Bismarck, Schmidt oder Kohl zu ihren Zeiten empfohlen und bewährt hätten. Ihnen, nicht linken Vorbildern, eifere der heutige Regierungschef ersichtlich nach.

" Der sozialdemokratische Bundeskanzler gewann seine Wahlen als etatistischer Kümmerer und Patron der Nation – und er wird mit großer Sicherheit eben dies im späten Sommer 2006 wieder versuchen. Insofern dürfte Schröder die Patriotismus-Offensive der Union bestens gelaunt verfolgt haben. Denn sie liefert der Regierung und vor allem dem Kanzler selbst eine wunderschöne Vorlage. Oppositionsführer jedenfalls sind für die patriotische Geste viel zu eng an ihre machtlosen Parteien gekoppelt, wirken dadurch verkniffen, kleinlich und interessenfixiert, stets ein wenig nörgelnd, oft enervierend schwarz malend, kurzum: geradezu unpatriotisch. Währenddessen vermag sich der Kanzler gleichsam präsidial über die bornierte Räson der Parteienwelt zu erheben, kann gouvernementale Verantwortungsschwere demonstrieren und mit zerfurchtem Gesicht die tägliche Last des staatstragenden Kümmerers sinnfällig zur Schau stellen."

Allerdings empfindet Hans-Peter Schwarz Deutschland, gerade auch unter Rotgrün, als "Republik ohne Kompass". Indem sich die Bundesrepublik seit den achtziger Jahren und, noch rasanter, in den neunziger Jahren vorwiegend europäisch definiert habe, sei zusehends deutlicher geworden, dass große Teile der deutschen Öffentlichkeit, die ökonomischen Eliten voran, den Kompass der eigenen Staatsräson verloren hätten. Dieses Konzept setze die Entschlossenheit der Eliten voraus, den eigenen Staat unbeschadet aller Kooperation und Integration, mit Friedrich Meinecke zu sprechen, "in Gesundheit und Kraft zu erhalten". Das gelte für Deutschland offenbar nicht mehr. Man sei bereit, Deutschland zugunsten Europas zu opfern.

" Guten Willens zwar, aber ohne genau nach rechts und links zu schauen, geriet das wiedervereinigte Deutschland auf einen neuen deutschen Sonderweg in die EU, deren Partner größtenteils nicht bereit sind, ihre jeweilige Staatsräson an der Garderobe zum Europäischen Rat und zur EU-Kommission abzugeben… Die meisten unserer Partner in der EU… betrachten immer noch die Interessen ihres eigenen Staates als erstrangig, die der EU mitsamt den Problemen ihres Ausbaus als zweitrangig. Für sie ist der eigene Staat, pointiert formuliert, gleichzeitig eine Herzenssache und eine Verstandessache, die EU nur eine Verstandessache. "

Anders die Bundesrepublik. Vor allem in den neunziger Jahren habe sich das wiedervereinigte Deutschland leidenschaftlich der Vision eines Quasi-Bundesstaats Europa verschrieben, die rotgrüne Bundesregierung dem Projekt Europa schließlich ganz ungeniert das Fernziel unterlegt, Weltmacht zu werden. Zeitweilig sei die Bundesrepublik auf bestem Wege gewesen, den Souveränitätstransfer vom Staat des Grundgesetzes nach Europa unumkehrbar zu machen. Inzwischen habe sich allerdings die internationale Szenerie fundamental verändert. Seither wirke die heutige deutsche Außenpolitik orientierungslos, was für die Zukunft wenig Gutes verheißt. Unter diesen Bedingungen beginne manchen zu dämmern, dass man die deutsche Staatsräson, also Deutschland als zentralen Bezugspunkt allen politischen Handelns, wieder entdecken müsse.

Ulrike Guerot will wissen, wie es im transatlantischen Verhältnis weitergehen soll.

" Bei allem gegenseitigen Bemühen bleibt die Frage, wie viel von den rhetorischen Nettigkeiten nur dünner Lack ist, der auf hässliche Wunden gepinselt wird, und wie viel nachhaltige Klima- Veränderung man von der alt-neuen Bush-Administration erwarten kann. Dahinter wiederum steht die Frage, ob man nun neuen Wein in alte Schläuche gießen will und eine Art forcierte Wiederbelebungsaktion für die eingerosteten transatlantischen Institutionen betreiben möchte, allen voran, die NATO, oder ob man bereit ist, kreativ über eine (…) Neugestaltung der transatlantischen Beziehungen zu diskutieren, indem man (…) der Europäischen Union einen größeren Stellenwert einräumt."

Ezra Suleiman von der Princeton University macht deutlich, was einer solchen Umgestaltung im europäisch-atlantischen Verhältnis entgegensteht. Unter der Überschrift "Der irrelevante Kontinent" schreibt er:

" Es ist unbestreitbar: Was auch immer Amerika macht, hat Einfluss auf Europa, während das Gegenteil nicht der Fall ist (…) Die EU ist ein Nichtthema, sie ist in den Augen der Amerikaner 'irrelevant'(…) Für die Amerikaner ist die Situation ziemlich klar: Die Europäer sind 'unnütz'. Sie zögern immer wieder zu handeln. Und sie stellen sich in immer schärferer Weise den Vereinigten Staaten entgegen. Es handelt sich nicht mehr um verschiedene Meinungen unter Verbündeten, sondern zunehmend um offenen Widerstand."

Ist Europa ein Kontinent im unaufhaltsamen Niedergang? Vor über 80 Jahren veröffentlichte Oswald Spengler den "Untergang des Abendlandes", der eine gewaltige Debatte auslöste. Lorenz Jäger findet (wir sind immer noch im Januarheft der neuen "Internationalen Politik"), dass dieser Denker dringend neu entdeckt werden müsste. Die Wirklichkeit selbst habe seine Fragen wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Man denke nur an die tiefste Frage, die Frage am vitalen Grund aller Politik: die in Deutschland lange verdrängte demographische Krise.