Blick zurück in die Zukunft

Von Siegfried Forster |
Anlass der Schau ist das 100-jährige Jubiläum des "Futurismus-Manifestes", das Filippo Tommaso Marinetti 1909 veröffentlichte. Die Ausstellung im Pariser Centre Pompidou zeigt sowohl Werke der heutigen Nachfahren des Futurismus als auch die der Begründer sowie ihre inzwischen sehr viel berühmteren Gegenspieler - Kubisten wie Braque, Picasso und Co.
Der Futurismus beginnt in der Ausstellung in der Gegenwart. Mit einer Bild- und Ton-Installation des amerikanischen Künstlers Jeff Mills. Drei riesige Leinwände erzeugen sich drehende Zauberwürfel, werfen uns Bilder aus der futuristischen Vergangenheit in die Augen: nackte Glühbirnen, tanzende Drahtseilakrobaten, ein buntes Feuerwerk, das sich in einen brutalen Bombenhagel verwandelt.

Mills kommt aus der Autostadt Detroit in Michigan. In dieser "Motortown" wurde das legendäre Musik-Label "Motown" gegründet, hier hat Mills als DJ und Produzent die Techno-Musik mitgegründet, komponierte Soundtracks für Fritz Langs "Metropolis" und für Kubricks "2001". Er sieht sich als Nachfahre des Futurismus. Trotz aktueller Automobilkrise, Finanzkrise und Wirtschaftskrise hat er nicht den Eindruck, dass Zukunft und Futurismus hinter uns liegen.

"Bestimmte Aspekte des Futurismus kamen in dem Willen zum Wandel zum Ausdruck. Das ist eine Methode, die Ideen des Futurismus heute anzuwenden. Ich denke nicht, dass der Futurismus vorbei ist oder jemals gestorben ist. Er starb auch nicht mit dem Tod von Marinetti 1944. Der wichtigste Teil des Futurismus besteht weiter und die Leute praktizieren ihn jeden Tag - einfach nur unter anderen Vorzeichen."

Angefangen hat alles am 20. Februar 1909. Damals veröffentlichte der italienische Poet Filippo Tommaso Marinetti auf der Titelseite der französischen Tageszeitung "Le Figaro" das Manifest des Futurismus. Für Kurator Didier Ottinger der Beginn der modernen Avantgarde:

"Es ging um einen bedingungslosen Elan in Richtung Zukunft, der den Futurismus zur ersten Avantgarde des 20. Jahrhunderts macht. Das war das erste Mal, dass man auf solch energische und endgültige Weise der Vergangenheit abschwörte, Tabula rasa betrieb. Das war natürlich eine Idee, die Marinetti im Denken der damaligen Epoche gefunden hatte, vor allem im Anarchismus."

Das Manifest glich einer totalen Kriegserklärung an den Kulturbetrieb der damaligen Zeit: die Futuristen forderten rebellisch die Zerstörung der Bibliotheken und Museen, das Absetzen traditioneller Schönheits- und Kunstideale und stellten insbesondere die Konzeption des Kubismus in Frage. Der Ausstellungsparcours kann als regelrechter Showdown zwischen Futurismus und Kubismus interpretiert werden: auf der einen Seite die heute weitgehend unbekannten Galla, Carra oder Russolo, auf der anderen Seite die Berühmtheiten Braque, Picasso und Co.

"Der Kubismus galt damals als die ultimative Form der Avantgarde. Plötzlich kommen also die Futuristen nach Paris und sagen: dieser Kubismus ist ein Neo-Akademismus. Ein maskierter Akademismus. Sie verurteilen den Kubismus als eine Kunst, die von der Realität, von der modernen Welt abgeschnitten sei. Eine Kunst aus dem Versuchslabor, eine Welt, die sich an der Tradition orientiert, akademische Motive übernimmt wie die Aktstudie, das Stillleben. Oder Landschaftsmalereien auf pittoreske und traditionelle Art und Weise mit Brücken und Kirchen abhandelt. Im Kubismus gab es überhaupt nichts, was die Futuristen in ihrer Kunst darstellen wollen: die moderne Welt, die moderne Stadt, die Maschinen, die künstliche Beleuchtung, das Leben in den Cafés."

Giono Severini schafft aus leuchtenden Farbflecken eine vor Energie brodelnde Tanzfläche. Umberto Boccioni entwirft mit einem drunter und drüber von Straßen und Schienenwegen eine Trilogie seelischer Gemütszustände. Die Schlagwörter von Dynamik, Dauerhaftigkeit und Gleichzeitigkeit lauern in jedem Pinselstrich, Jahrmarktfresken feiern die künstliche Beleuchtung als Sieg gegen die Gefühlsduselei des Mondenscheins. Szenen von Bahnhöfen und Fabriken bilden eine Art Triumphzug des Maschinenzeitalters.

"Was in Marinettis Reden explosiv ist, das sind seine Ideen. Er sagte einmal: Ich möchte, dass meine Ideen so explosiv sind wie die Bomben der Anarchisten. Ich weiß nicht, ob die heutigen Ideen noch diese explosive Kraft besitzen."
Wer das Duell gewonnen hat, ist hinreichend bekannt, auch wenn sich bei James Joyce, bei Döblins "Alexanderplatz" oder bei der Popart bestimmte futuristische Elemente aufspüren lassen. Die Futuristen-Schau beweist, wie viele der futuristischen Ideen schließlich im Kubismus Einzug halten: Picasso und Braque malen plötzlich farbenfroher, bewegter, halten Ausschau nach moderneren Visionen - und viele Mischformen bilden sich heraus: in Russland schafft Malewitsch einen "Kubofuturismus", England erlebt die avantgardistische Vorticiste-Bewegung und in Paris bezeichnet Appolinaire die Wiederversöhnung zwischen Futurismus und Kubismus als "Orphismus" - mit Duchamps "Die Treppen hinuntergehenden Nackten" als Galionsfigur.

"Die Überlieferung bestimmter Ideen der Futuristen können sie in allen Bereichen nachweisen. Der Dadaismus schuldet einen Großteil seiner Erfindungen - wie die Performance oder der Einsatz der Poesie - dem Futurismus eines Marinetti. Es gibt ein Erbe, das praktisch allen Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts gemein ist. Was heute fehlt und was eine Aktualisierung des Futurismus als wenig wahrscheinlich erscheinen lässt, das ist das Fehlen einer mit Hoffnung verbundenen Zukunft."

Die Schau hört mit dem Beginn des 1. Weltkriegs 1914 auf. Einerseits um die Aufbruchsphase des Futurismus in Reinkultur darstellen zu können, aber wahrscheinlich auch, um den späteren Verwicklungen vieler Futuristen-Führer mit dem Faschismus aus dem Weg zu gehen. Ein zimperlicher Umgang mit einer Bewegung, die immerhin den Krieg als Lebenshygiene verherrlichte und Montmartre im Kampf gegen Klerikalismus und Kubismus am liebsten gesprengt hätte.

Service:
Die Ausstellung "Der Futurismus in Paris" ist im Centre Pompidou vom 15.10.2008 bis 26.1.2009 zu sehen.