Die unbequemen Themen
Politiker greifen im Wahlkampf Themen auf, mit denen sie punkten können. Wahlkampftaugliche Themen sind etwa Bildung, Rente oder Vollbeschäftigung. Für drei Themen scheinen die Parteien blind zu sein: Netzpolitik, Bürokratie-Abbau und rechte Gewalt.
1. Blinder Fleck im Wahlkampf: Bürokratieabbau
"Ihr braucht Euch nur einen Passierschein zu besorgen."
"Das ist ja eine verwaltungstechnische Formalität."
"Sehr richtig, eine Formalität. Ihr müsst nur den Passierschein A38 verlangen."
Den Kampf mit der Bürokratie kennen neben Asterix und Obelix auch kleine und mittelständische Unternehmen in Deutschland. Erleichterung wollte die aktuelle Bundesregierung schaffen.
Sehr zur Freude von Martin Wansleben. Er ist der Geschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) und froh, dass alle bis auf die Linkspartei den Bürokratieabbau in ihre aktuellen Wahlprogramme aufgenommen haben.
"Die Union ist erstaunlich offensiv. Das liegt sicherlich daran, dass in der bisherigen Legislaturperiode das Thema erfolgreich, das muss man sagen, von der Union und der SPD, von der Großen Koalition behandelt worden ist. Aber auch bei der SPD findet man erstaunliche Formulierungen."
Die SPD schreibt in ihrem Programm, dass sie, "unnötige Bürokratie" abschaffen werde. Das klingt erstmal wenig konkret, aber der DIHK sieht es als gutes Signal, dass die SPD Bürokratie überhaupt als potenzielle Belastung begreift. Das ist nicht selbstverständlich, denn Bürokratie bedeutet erst einmal nur, dass Regeln geschaffen werden, und dazu zählen Verbraucher- und Umweltschutzbestimmungen ebenso wie die für die SPD besonders wichtigen Arbeitnehmerrechte.
"Die SPD hat bei dem Thema sicherlich zwei Seelen in der Brust. Sie sieht auf der einen Seite aus ihrer Sicht Regelungsbedarf und sieht auf der anderen Seite den ganz konkreten Bedarf, Bürokratie abzubauen."
Fortschritt: Die "One in, one out"-Regel
Das stärkste Bekenntnis zum Bürokratieabbau beobachtet Mittelstandsvertreter Wansleben bei der FDP - vor allem im Bezug auf die Digitalisierung. Ähnliches sieht er auch im Wahlprogramm der Grünen. Die AfD hat der DIHK nicht in die Betrachtung einbezogen.
Besonders konkret ist Wansleben zufolge die Union. Sie hat die Forderung formuliert, zehn Prozent weniger neue Gesetze zu schaffen – auch wenn Gesetze mit Prozentangaben schwer zu beziffern seien.
Damit würde die Union ihren Weg weiter gehen, den sie mit der SPD in dieser Legislatur begonnen hat. Beide haben die Entbürokratisierungsvorgabe verabschiedet. Die gilt seit Ende 2014 und beinhaltet die sogenannte "One in, one out"-Regel. Das bedeutet, jede bürokratische Belastung, die durch neue Gesetze der Bundesregierung geschaffen wird, muss anderswo in gleichem Maße abgebaut werden.
Der DIHK fordert, dass diese Regel auch für neue EU-Gesetze gilt - bislang sind die noch von der Regel ausgenommen.
Zudem schaffe "One in, one out" bestenfalls ein Gleichgewicht. Deswegen begrüßt Martin Wansleben das Vorhaben der FDP, für jede neue Belastung in doppeltem Maße Entlastung zu schaffen. Und künftig auch noch viel mehr.
"Eigentlich bedeutet Digitalisierung "One in, hundert out", denn Digitalisierung verändert ja komplett die Abläufe und damit auch die Schnittstelle zwischen Unternehmen und Staat, zwischen Bürger und Staat."
Wunsch: "One-stop-shop"
Wie Bürger und Staat ohne Bürokratie besser miteinander kommunizieren können, zeigen schon heute einzelne Verwaltungswege, die sich online erledigen lassen. Hier wollen neben Union und SPD auch Grüne und FDP weiter voran schreiten. Vor allem für Unternehmensgründer aber auch für den normalen Bürger.
"One-stop-shop" heißt das Stichwort, ein einziger Anlaufpunkt für alles. Gründer und Bürger sollen nicht mehr zu verschiedenen Ämtern laufen müssen, sondern alle nötigen Behördengänge an einer Adresse erledigen können, am besten online.
Das Prinzip "One-stop-shop" würde bedeuten, dass wir alle Daten nur einmal abgeben. Pass anmelden, Auto zulassen, Versicherungen, Steuererklärung, Wohnadresse - einmal abgeben und alle Ämter können zugreifen. Wie das mit dem Datenschutz vereinbar wäre, ist noch unklar. Man sei davon sowieso weit entfernt, meint Martin Wansleben und nennt ein Beispiel aus der Mittelstandswelt.
"Also die Unternehmen machen seit Jahren sogenannte E-Bilanzen, also elektronische Bilanzen, die weitgehend in den Finanzämtern ausgedruckt werden."
Und auf die versprochene Entlastung, dass Unterlagen nicht mehr zehn Jahre lang aufbewahrt werden müssen, würden die Unternehmen bislang vergebens warten, so der Geschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags.
2. Blinder Fleck im Wahlkampf: Netzpolitik
Der Breitbandausbau in den ländlichen Regionen wäre am ehesten ein Thema, um viele Wähler im Wahlkampf zu mobilisieren, sagt unser Netzpolitik-Korrespondent Falk Steiner. Die scheidende Regierung aus CDU, CSU und SPD will bis 2018 überall in Deutschland 50 Mbit/s verfügbar machen. Das werde nichts, so die Einschätzung von Falk Steiner.
Wichtige Themen wären außerdem die Netzneutralität oder die Algorithmen-Regulierung. Dabei geht es um die Frage, wie der Staat stellvertretend für die Gesellschaft in die Logik von Software hineinregieren kann und sie auf Gesetzeskonformität prüft.
Z. B. beim autonomen Fahren: Überfährt ein computergesteuertes Auto im Notfall eher eine ältere Frau oder einen Kinderwagen? Solche Entscheidungen müssten beantwortet werden, sind aber für kurze Wahlkampf-Slogan oft zu komplex. Ähnlich ist es mit den Erkenntnissen des NSA-Untersuchungs-Ausschusses oder dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, so Falk Steiner aus dem Deutschlandradio Hauptstadtstudio.
3. Blinder Fleck im Wahlkampf: rechte Gewalt
Bei einer Kundgebung Anfang des Jahres in Berlin Neukölln.
"Wie kann es sein, dass es in den letzten vier Wochen zu insgesamt acht Angriffen in Neukölln aus der rechten Szene kam? Für mich sind das kriminelle rechte Täter, und das ist Terror. Das muss man so benennen, ganz klar!"
Christiane Schott ist heute da, um Flagge zu zeigen und sich mit den Opfern zu solidarisieren, die von den Brandanschlägen betroffen waren. Hier im Berliner Bezirk Neukölln - mit seinen rund 300.000 Einwohnern - gelten die Menschen als kulturell besonders offen. Seit Mai vergangenen Jahres wird diese Offenheit bedroht: 37 schwere Straftaten registrierte die Polizei, hinter denen sie eine rechtsextreme Motivation vermutet.
Aufklärung soll die neue Ermittlungsgruppe "Rechte Straftaten in Neukölln" bringen. Innensenator Andreas Geisel hat sie im Januar beim Landeskriminalamt einberufen. Ein Schritt, den der Pressesprecher der Polizei Berlin, Winfrid Wenzel, so begründet:
"Autos wurden angezündet, es geht um Sachbeschädigung, Scheiben wurden eingeschlagen. Es ging auch diesmal wieder um Graffitis, die eindeutig rechtsextrem motiviert waren. Und das, was an Qualität neu ist tatsächlich nach unserer Einschätzung im Verlauf der letzten Monate ist die Tatsache, dass diese Taten eine andere schwerere Qualität haben als das, was vor drei, vier Jahren üblich war. Weil ganz klar die Opfer, die Betroffenen dieser Anschläge, dieser Angriffe, dieser Beleidigungen, Menschen waren, die sich aktiv gegen Rechtsextremismus äußern und auch politisch betätigen, und die nach unserer Auffassung ganz eindeutig eingeschüchtert werden sollen, dahingehend sich nicht mehr gegen Rechtsextremismus aktiv zur Wehr zu setzen."
Auf Attacken folgen Taten
Eine der betroffenen Personen ist Claudia von Gélieu. Sie engagiert sich bei einem antifaschistischen Kollektiv in Neukölln. Anfang Februar erlebten sie und ihr Ehemann, wie nachts ihr Auto vor ihrem Wohnhaus brannte. Nur durch Zufall konnten sie verhindern, dass die Hauswand entflammte und die Bewohner des Reihenhauses in Gefahr gerieten.
Der Brandanschlag wurde bisher nicht aufklärt, wie bei vielen dieser mutmaßlich rechtsextrem motivierten Taten im gesamten Bundesgebiet. Die Häufung dieser Gewalt erklärt sich Claudia von Gélieu auch mit der Rhetorik der AfD.
"Das sind keine politischen Meinungen, das ist menschenverachtend, das ist Hetze, das ist Hass, und das führt auch zu konkreten Angriffen und Taten. Sowohl auf Flüchtlingsheime, auf Migranten. Ich hab eine Freundin hier in Nord-Neukölln, die ein Kopftuch trägt, und die wird regelmäßig bespuckt und auf der Straße deshalb angemacht. Das ist vielleicht noch keine Gewalt, aber das ist unerträglich. Und das hat nichts mit Meinung zu tun."
Dass auf verbale Attacken auch Taten folgen, bestätigt das Bundeskriminalamt. In einem Bericht Anfang des Jahres über die "Straftaten gegen Asylunterkünfte" heißt es: "Ausländerfeindliche oder Ängste schürende Parolen" würden sich auf die Sicherheitslage auswirken. Demnach sind die Fälle von Körperverletzungen gegen Geflüchtete im vergangenen Jahr gestiegen - bundesweit auf 450.
Insgesamt registrierte das BKA rund 1000 Straftaten gegen Asylunterkünfte und die darin lebenden Menschen. Damit bleibt die Zahl ähnlich hoch wie im Vorjahr und fünfmal höher als noch 2014.
Auch Politiker geraten immer häufiger ins Visier. Wie der Bayrische Rundfunk mit Bezug auf das Innenministerium berichtet, habe es im vergangenen Jahr bundesweit 755 Delikte von Rechts gegen Amts- und Mandatsträger gegeben.
Hilfe für die Opfer bietet in Berlin u. a. der Verein "Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus". Matthias Müller und seine Kollegen wollen neben der individuellen Hilfe auch Denkanstöße für die Politik liefern.
"Wir hatten erst kürzlich eine Veranstaltung, da haben wir drüber nachgedacht: Wie kann es eigentlich noch so was geben, wie so einen Opferfonds? Es gibt Opferfonds für Personen, denen wirklich schlimme Gewalt angetan wurde. Es gibt aber zum Beispiel keine Fonds für Personen, denen das Auto angezündet wurde, im Kontext von rechtsextremer Tatmotivation beispielsweise, oder denen die Fensterscheiben eingeworfen wurde."
Mut gewinnen, die Stimme zu erheben
Für die Betroffenen von rechtsextremen Anschlägen ist vor allem wichtig, dass die Fälle aufgeklärt und die Täter gefasst werden. Daran mangelt es aber. Das zeigt exemplarisch der Berliner Fall einer rechtsextremen Clique. Der werden seit 2016 mehr als 170 Straftaten zugerechnet, darunter Brandstiftungen. Sonderfahnder sind im Einsatz, aber Festnahmen blieben bisher aus. Das ergab eine Anfrage der Linken-Fraktion des Abgeordnetenhauses.
Unverständnis löst das aus - bei Bürgerinnen wie Christiane Schott. Sie engagiert sich seit Jahren in ihrem Bezirk Britz gegen die NPD und rechtsextreme Gruppen wie der "Nationale Widerstand Berlin" oder die "Freien Kräfte Berlin Neukölln". Die Mutter zweiter Töchter wurde selbst lange bedroht und angegriffen – anderen will sie Mut machen, ihre Stimme zu erheben.
"Dass mehr Menschen sagen: ‚Ich muss mich nicht in einer Partei engagieren, ich muss auch nicht in einer Bürgerinitiative sein, und ich muss auch nicht in den Medien erscheinen, aber ich kann vor meiner Haustür, ich kann in meiner Nachbarschaft, in meinem Job, wo auch immer – in meiner Familie – kann ich lernen, mich zu äußern und ich kann auch bestimmte Dinge dann umsetzen.‘ Wenn das jeder schafft, zu machen, dann, glaube ich, entwickelt sich auch was. Dass man darüber Mut gewinnt, und dass man auch Mitstreiterinnen kriegt, auch wenn es nur der Partner ist oder die Partnerin. Und dass daraus was entstehen kann. Dass man sich das traut.