Unsere Serie "Blinde Flecken des Journalismus weltweit" im Rahmen der Denkfabrik "Dekolonisiert euch!": Vom 7. bis zum 12. September senden wir jeden Tag um 8.40 Uhr in "Studio 9" einen Beitrag, der Journalismus und dessen Versäumnisse und "blinde Flecken" in jeweils einem anderen Land thematisiert.
Schließt den Menschenzoo!
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Wenn über Filipinos berichtet wird, dann fast immer über rechtlose Wanderarbeiter und misshandelte Kindermädchen. Die Journalistin Purple Romero kämpft für einen Journalismus, der alle Menschen als handelnde Subjekte zeigt.
Die philippinische Journalistin Purple Romero ist vor Kurzem von Manila nach Hongkong umgezogen. Als freischaffende Journalistin braucht sie Aufträge, und die gibt es in der Sonderverwaltungszone Chinas.
Konflikte verkaufen sich. Im Gegensatz zu Geschichten aus dem Alltag, zum Beispiel von Filipinos, der größten ethnischen Minderheit in Hongkong. Unter ihnen sind Architektinnen und Geschäftsfrauen, Lehrer und Bankangestellte. Doch in die Nachrichten schafft es vor allem eine Gruppe: schlecht bezahlte Arbeitsmigrantinnen.
Redaktionen wollen das menschliche Drama
"Es gibt eine Tendenz, immer über dieselben Themen zu berichten, zum Beispiel über Migration. Wenn ich also über philippinische Wanderarbeiter schreibe, ist es sehr einfach, sie – in Anführungszeichen – als Opfer einer ungerechten Arbeitspolitik darzustellen", berichtet Purple Romero. "Das wäre der typische Aufhänger, das menschliche Drama, das wollen die Redaktionen. Aber es ist auch eine Perspektive, die ganz bestimmte Vorstellungen vermittelt, die nicht ganz richtig sind. Sie sprechen Menschen die Fähigkeit ab, zu handeln."
Filipinos als passive Opfer ohne Entscheidungsspielraum, dieses Bild vermitteln laut Purple Romero die typischen Stereotype über philippinische Wanderarbeiter, misshandelte Kindermädchen oder Ehefrauen aus dem Onlinekatalog. Daneben gibt es ein weiteres Extrem: Filipinos als gewalttätige Terroristen. Ganz normale Menschen, die für sich einstehen und selbstbestimmt handeln, bleiben unsichtbar. Tatsächlich hat diese selektive Darstellung eine hundertjährige Tradition.
Auf der Weltausstellung im amerikanischen St. Louis im Jahr 1904 wurden Filipinos erstmals einer Weltöffentlichkeit präsentiert. Zehntausende Besucherinnen und Besucher bestaunten Mitglieder des Igorot-Stamms aus dem philippinischen Hochland als lebende Objekte in einem "Menschenzoo".
Das Narrativ der "Wilden"
"Diese 'Menschenzoos' zeigten nur einen ganz bestimmten Aspekt der Mitglieder des Igorot-Stamms", erläutert Romero. "Ein Aspekt, der in das Narrativ der Kolonialherren passte: Dass sie unfähig sind, aus eigener Kraft zu überleben, dass sie sich noch nicht einmal Kleider anziehen können. All diese Dinge wurden herausgestellt, um koloniale Vorstellungen zu bestätigen."
Auf YouTube kursieren historische Videos, Bilder von der Weltausstellung von 1904, aber auch anthropologische Aufnahmen von den Philippinen selbst, mit denen Anfang des 20. Jahrhunderts die US-amerikanische Kolonisierung gerechtfertigt wurde. Heute entdeckt Purple Romero in den schwarz-weiß Aufnahmen mit Alltagsszenen der Igorot noch viel mehr.
"Wenn du sie mit frischem Blick betrachtest, siehst du, dass die Igorot ihre eigenen landwirtschaftlichen Praktiken haben", sagt sie. "Sie haben ihre eigenen spirituellen Überzeugungen und ihre eigene Kultur. Doch das alles wurde unter den Teppich gekehrt. Verstärkt wurde lediglich die Praxis der Kopfjagd, um zu zeigen, dass es 'Wilde' sind, eher Tiere, die erst zu Menschen ausgebildet werden müssen."
Koloniale Vorstellungswelt
Heute gebe es keine "Menschenzoos" mehr. Doch die selektive Vorstellungswelt der Kolonialzeit sei bis heute lebendig, betont Purple Romero. Sie kämpft für einen Journalismus, der Menschen als handelnde Subjekte zeigt.
"In Hongkong werden gerade Hausangestellte beschuldigt, das Coronavirus zu übertragen. Wenn ich über sie schreibe, frage ich nach den Richtlinien der Regierung:Sind diese gerecht? Welche Möglichkeiten haben Haushaltshilfen, für ihre Rechte zu kämpfen? Ich kläre immer mit der Redaktion, dass ich über Menschen schreiben werde. Nicht, weil sie Fallbeispiele sind, sondern weil Menschen die Macht haben, zu handeln. Das ist mir sehr wichtig."