Erotik zum Tasten, Fühlen und Schmecken
05:00 Minuten
Lebensechte Sex-Puppen, Aphrodisiakum zum Probieren, erotische Hypnose: Eine Gruppe von blinden und sehbehinderten Menschen erkundet jedes Jahr die Erotikmesse Venus in Berlin. Eine sehr besondere Tour.
Vorsichtig betastet Evelin den fremden, reglosen Mann. Ihre rechte Hand fährt ihm behutsam über das Gesicht, streicht über seinen nackten Oberkörper und packt ihm schließlich zwischen die Beine. Evelin ist sehbehindert – und der Mann bewegt sich nicht, weil er eine so genannte RS Doll ist. Eine Puppe, gefertigt aus medizinischem Silikon. Ein lebensgroßes – und vermeintlich lebensechtes – Sexspielzeug.
"Mich interessiert diese Neuheit mit den Puppen. Es gibt jetzt schon künstliche Puppen, die sprechen können", sagt Evelin. Sie ist 74 Jahre alt, klein und zierlich gebaut, kurze blond gefärbte Haare, und sie ist Teilnehmerin einer Führung für blinde und sehbehinderte Menschen auf der Erotikmesse Venus in Berlin. Wie eine kleine Reisegruppe zuckeln die 13 Blinden – hauptsächlich 50 Plus, auch einige Paare sind dabei – über die Ausstellung. Vorbei an einem Stand für erotische Hypnose, einem Webcam-Girl und diversen Sexspielzeug-Herstellern.
2,20 Meter groß auf Stöckelschuhen
"Hier können Sie Dinge anfassen und fühlen. Als blinder Mensch geht man auch nicht unbedingt in einen Sex-Shop, weil man sich unangenehm vorkommt. Man könnte gesehen oder doof angeguckt werden." Die Reiseleiterin der Blindenführung ist die Travestiekünstlerin Ella Mortadella. Mit einem Mikro in der Hand – jeder Blinde bekommt ein Headset – und etwa 2,20 Meter groß auf ellenlangen Stöckelschuhen und im rosa Kostüm fällt die Hamburgerin selbst auf solch einer Messe auf.
Aufgrund der haptischen Möglichkeiten vor Ort lohnt sich ihrer Meinung nach die Venus gerade für Blinde. In ihren vier Jahren als Gruppenführerin erkennt sie bei ihren Teilnehmern jedes Jahr einen speziellen Sinneseindruck der Messe – und von Sexualität allgemein: "Das Thema Sex ist ja ein sehr intensives und Blinde nehmen das ganz anders wahr als wir Normalsehenden. Nicht umsonst lassen sich einige die Augen beim Sex verbinden."
Gegründet hat die Tour Hans-Peter mit seinem Blindenverein. Der 57-Jährige – Blindenstock in der einen Hand, eine Freundin, die ihn führt, an der anderen – kam 2016 nach einer ähnlichen Führung auf der Grünen Woche darauf, mal bei der Venus anzufragen. Als er vor Jahren erblindet war, verschwand sein Interesse an der Erotik – bis es zu den Blindenführungen kam.
"Man muss versuchen, über die Stimme zu gehen"
"Das ist schlecht. Eine hübsche Frau anzusehen, das fehlt. Man muss versuchen, über die Stimme zu gehen. Die macht bei mir viel aus. Das ist die halbe Miete. Die Venus ist für mich das Highlight des Jahres. Das ist außergewöhnlich und hat einen ganz besonderen Stellenwert", erklärt er.
Die Blinden erstasten Vibratoren in verschiedensten Formen, testen Aphrodisiakum aus kleinen Plastikbechern – aber am längsten ist der Stopp bei den Sex-Puppen. Jeder Teilnehmer darf mal die nackten Frauen- und Männerkörper aus Silikon erfühlen, die sogar auf kleinen Sofas drapiert bereit liegen. Manche gehen zärtlich vor, andere greifen härter zu. Evelin findet es erstaunlich, was heutzutage alles in dem Bereich entwickelt wird: "Ich fand die ganz prima. Die Anschaffung lohnt dann vielleicht, wenn es jemand wirklich braucht. Mein Ding wäre es nicht so."
Auch Hans-Peter findet das lebensgroße Sexspielzeug spannend, ist vom hohen Preis dann aber doch etwas abgeschreckt: "Diese RS-Dolls, diese lebensechte Puppen, das fühlt sich fast an wie richtige Haut. Ich finde es zwar reizvoll, aber kaufen würde ich mir das nicht. 1400 Euro ist schon ein Haufen Geld."
"Wozu, du bist doch schon alt"
Evelin, die nun zum zweiten Mal an der Blindenführung teilnimmt, war Erotik schon immer aufgeschlossen gegenüber, ging in Orion-Läden oder stöberte in Magazinen. Ihr fehlte dabei aber der richtige Zugang: "Da sieht man die Sachen meistens im Katalog und so richtig probieren kann man sie nicht. Hier hat man die Freiheit, das mal richtig auszuprobieren."
Mit ihren 74 Jahren ist sie die Älteste in der Gruppe und wohl auch eine der Älteren auf der Venus. Aber für sie steht das hohe Alter nicht im Widerspruch zu Erotik. Das, obwohl sie durchaus Gegenwind ob ihres Besuches auf der Messe spürt: "Wenn man sich bei Familie und Freunden umhört, dann heißt es: Wozu brauchst du das denn, du bist doch schon alt. Ich denke aber, da gibt es keine Barriere. Das ist auch was für ältere Semester. Manche denken das eben, oder für sie ist das anstößig. Aber ich habe da keine Barriere."