Blinder Fleck der Franzosen
Die jüngere Geschichte taucht in französischen Gegenwartsromanen besonders häufig als die der anderen auf. Erst 50 Jahre nach dem Ende des überaus blutigen Algerienkrieges sind nun verstärkt literarische Befragungen der eigenen Vergangenheit zu beobachten.
Die französischen Kämpfe um eine vorab bereits verlorene Sache - ob in Algerien, weiter zurück in Indochina oder die der nationalen Reinheitsfanatiker in den Vorstädten heute - stehen im Zentrum von Alexis Jennis Roman "Die französische Kunst des Krieges". Der Biologielehrer (geb. 1963) aus Lyon hat mit diesem Debüt nicht nur den renommierten Verlag Gallimard überzeugt, sondern im vergangenen Jahr auch die Jury des Goncourt-Preises.
Erzähler ist ein Aussteiger, ein Beobachter unserer Zeit, ihren Kriegen - 1991 ist das der Golfkrieg. Er verbringt unendlich viel Zeit vor dem Fernseher, befragt Sprachregelungen, denkt Entferntes zusammen, assoziiert. Seine Rolle besteht einerseits darin, in ungeheuer prägnanten "Kommentaren" den ganz alltäglichen Krieg wahrzunehmen, in den Banlieues etwa, bei überzogen gewalttätigen und rassistischen Razzien auf den Metrobahnsteigen.
Er begegnet einem alten Mann, von dem er zeichnen lernen will und erzählt, gewissermaßen als Gegengabe, dessen Leben und damit die unterschiedlichen Lebensromane eines ewigen Kämpfers. Victorien Salagnon, ein Indochina-Veteran, war anschließend in Algerien eingesetzt und gehört - wie der Erzähler mit Abwehr und Verwunderung feststellt - wie er selbst zu einem unhinterfragten "Wir". Dieses "Wir" wird ihm keine Ruhe lassen, die Art, wie es sich konstruiert, wie es in Stellung gegen andere gebracht wird, wie es für Zusammenhalt sorgt und für tödliche Ausgrenzung "unseres Blutes" gegen das der anderen.
Erste Gewalterfahrungen macht Salagnon als Jugendlicher, gerät unter deutscher Besatzung in die Résistance und wird erst 20 Jahre später die Waffen abgeben, sich häuslich niederlassen, innerlich unberührt von den Grausamkeiten, die er in Indochina und mehr noch in Algerien begangen hat. Er beschönigt auch nichts, wenn er feststellt, dass sie alle sich "wie Schlachter aufgeführt haben". Gleichzeitig hält er zu seinem ehemaligen Kampfgenossen Mariani, der den Dschungel nur äußerlich verlassen hat und sich sowohl verbal als auch mit einer aufgerüsteten Truppe im paranoiden Kriegszustand gegen die anderen, also gegen "Ausländer" befindet. Selbst Salagnons Frau Eurydice, eine jüdische Algerienfranzösin, kommt nicht an gegen diese Treue.
Jenni lässt keinen Zweifel daran, dass das Konzept der Rasse unhaltbar ist und eine Hilfskonstruktion darstellt, eine Art blinder Fleck der französischen Gesellschaft, die bis heute auf eben die Mittel zurückgreift, mit denen sie erfolglos gegen den Verlust ihrer Kolonien gekämpft hat. An die chinesische "Kunst des Krieges", eine Lehre der Kampfvermeidung und des Minimalen reicht die "französische" auch darum nicht heran, weil sie blindlings agiert, immer wieder zu dick aufträgt, Misserfolge nicht analysiert.
Als Abenteuerroman wurde dieses Debüt bezeichnet; mir scheint das zu kurz gegriffen. Jenni liefert nämlich - sprachlich präzise - Einblicke in die Erfahrungen der Fremde und des eigenen Fremdseins in den Kolonien, in Angst und blinde Wut, daneben zeichnet er aber auch all die Lügen nach, die mit der Dekolonisierung einhergingen. Sein Zeitroman liefert Diskussionsstoff - nicht nur über die Verdrängung der Geschichte, über Schuld und Traumata. Er führt extrem nah heran an die Abgründe zivilisierter Menschen - ohne moralische Verurteilung, auch ohne Lösungen anzubieten. Doch selbst Salagnon, dessen aktives Leben uns erzählt wird, weil ein passiver Zeitgenosse ihm zuhört, weiß: "Man lehrt die Menschen nicht ungestraft Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wenn man sie ihnen anschließend verweigert."
Besprochen von Barbara Wahlster
Alexis Jenni: "Die französische Kunst des Krieges"
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Luchterhand Verlag, München 2012
768 Seiten, 24,99 Euro
Erzähler ist ein Aussteiger, ein Beobachter unserer Zeit, ihren Kriegen - 1991 ist das der Golfkrieg. Er verbringt unendlich viel Zeit vor dem Fernseher, befragt Sprachregelungen, denkt Entferntes zusammen, assoziiert. Seine Rolle besteht einerseits darin, in ungeheuer prägnanten "Kommentaren" den ganz alltäglichen Krieg wahrzunehmen, in den Banlieues etwa, bei überzogen gewalttätigen und rassistischen Razzien auf den Metrobahnsteigen.
Er begegnet einem alten Mann, von dem er zeichnen lernen will und erzählt, gewissermaßen als Gegengabe, dessen Leben und damit die unterschiedlichen Lebensromane eines ewigen Kämpfers. Victorien Salagnon, ein Indochina-Veteran, war anschließend in Algerien eingesetzt und gehört - wie der Erzähler mit Abwehr und Verwunderung feststellt - wie er selbst zu einem unhinterfragten "Wir". Dieses "Wir" wird ihm keine Ruhe lassen, die Art, wie es sich konstruiert, wie es in Stellung gegen andere gebracht wird, wie es für Zusammenhalt sorgt und für tödliche Ausgrenzung "unseres Blutes" gegen das der anderen.
Erste Gewalterfahrungen macht Salagnon als Jugendlicher, gerät unter deutscher Besatzung in die Résistance und wird erst 20 Jahre später die Waffen abgeben, sich häuslich niederlassen, innerlich unberührt von den Grausamkeiten, die er in Indochina und mehr noch in Algerien begangen hat. Er beschönigt auch nichts, wenn er feststellt, dass sie alle sich "wie Schlachter aufgeführt haben". Gleichzeitig hält er zu seinem ehemaligen Kampfgenossen Mariani, der den Dschungel nur äußerlich verlassen hat und sich sowohl verbal als auch mit einer aufgerüsteten Truppe im paranoiden Kriegszustand gegen die anderen, also gegen "Ausländer" befindet. Selbst Salagnons Frau Eurydice, eine jüdische Algerienfranzösin, kommt nicht an gegen diese Treue.
Jenni lässt keinen Zweifel daran, dass das Konzept der Rasse unhaltbar ist und eine Hilfskonstruktion darstellt, eine Art blinder Fleck der französischen Gesellschaft, die bis heute auf eben die Mittel zurückgreift, mit denen sie erfolglos gegen den Verlust ihrer Kolonien gekämpft hat. An die chinesische "Kunst des Krieges", eine Lehre der Kampfvermeidung und des Minimalen reicht die "französische" auch darum nicht heran, weil sie blindlings agiert, immer wieder zu dick aufträgt, Misserfolge nicht analysiert.
Als Abenteuerroman wurde dieses Debüt bezeichnet; mir scheint das zu kurz gegriffen. Jenni liefert nämlich - sprachlich präzise - Einblicke in die Erfahrungen der Fremde und des eigenen Fremdseins in den Kolonien, in Angst und blinde Wut, daneben zeichnet er aber auch all die Lügen nach, die mit der Dekolonisierung einhergingen. Sein Zeitroman liefert Diskussionsstoff - nicht nur über die Verdrängung der Geschichte, über Schuld und Traumata. Er führt extrem nah heran an die Abgründe zivilisierter Menschen - ohne moralische Verurteilung, auch ohne Lösungen anzubieten. Doch selbst Salagnon, dessen aktives Leben uns erzählt wird, weil ein passiver Zeitgenosse ihm zuhört, weiß: "Man lehrt die Menschen nicht ungestraft Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wenn man sie ihnen anschließend verweigert."
Besprochen von Barbara Wahlster
Alexis Jenni: "Die französische Kunst des Krieges"
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Luchterhand Verlag, München 2012
768 Seiten, 24,99 Euro