Blutige Fronten in der Türkei
Die Partei von Premierminister Erdogan versprach bei ihrem Regierungsantritt eine neue Kurdenpolitik mit mehr kulturellen Freiheiten und wirtschaftlichem Aufbau. Tatsächlich hat Erdogan versucht, den Konflikt im Südosten der Türkei zu lösen – bislang vergeblich.
Nach alter Tradition trägt der Dengbesh genannte Sänger im Dengbesh Evi im alten Zentrum Diyarbakirs Epen aus der kurdischen Vergangenheit vor. Es geht um den Kampf Gut gegen Böse, es geht um verklärte Helden, besiegte Feinde, unterworfene Gegner.
Dengbesh – die Kunst der Verklärung, die Kunst des Erinnerns, die Kunst der kulturellen Wiedergeburt. Jahrzehntelang war der öffentliche Vortrag verboten. Weil Kurdisch jahrzehntelang verboten war. Die Generation meines Vaters hat sich nicht kurdisch genannt, sagt die 27-jährige Dilan Bazgan:
"Sie haben sich Ostler genannt. Erst nach dem Auftreten der PKK – ich sage nicht: dank der PKK – aber erst danach haben die Leute damit angefangen zu sagen, wir sind kurdisch."
Dilan Bazgan lebt und arbeitet in Diyarbakir, dem Zentrum der Kurdengebiete in der Republik Türkei. Sie ist in Bingöl geboren und dort eingeschult worden. Als sie zehn war, zog sie mit ihren Eltern in die westtürkische Stadt Izmir. Dort begriff sie zum ersten Mal, dass sie Kurdin und deshalb in den Augen ihrer Klassenkameraden wohl irgendwie anders ist:
"Ich habe einen kurdischen und einen türkischen Vornamen. Ich benutze nur meinen kurdischen Namen, aber ich hab eben auch einen türkischen – nämlich Özgen. Aber meine Lehrer, die Nationalisten waren, die haben mich niemals bei meinem kurdischen Namen gerufen, immer nur beim türkischen, obwohl ich den nie benutze. Meine Klassenkameraden haben Namen erfunden. Sie haben mich nach meiner Heimatstadt benannt – Bingöl. Das war auch schräg. Sie mochten es, mir zu zeigen, dass ich anders bin. Sie haben auch diese Schauergeschichte erzählt, dass Kurden Schwänze haben. Sie haben mich tatsächlich gefragt, ob ich einen Schwanz habe oder nicht."
Dengbesh und die Suche nach der kurdischen Identität in der Republik Türkei. Nirgends ist das so deutlich zu spüren wie in Diyarbakir. Und hier vor allem im historischen Stadtteil Sur. Dessen Bürgermeister ist der 46-jährige Abdullah Demirbaş:
"Als Bürgermeister spreche ich am Tag mit 300 bis 400 Leuten. Es geht dabei nicht nur um Kommunales. Es geht um Blutfehden, um entführte Mädchen, um Eheprobleme. Manchmal bin ich als Psychologe, Soziologe, Pädagoge oder Anthropologe tätig. Ich helfe Leuten, einen Job zu finden, oder Kids mit Problemen in der Schule. Oder auch Leuten, die Probleme aufgrund ihrer politischen Einstellungen haben. Manchmal muss ich auch außerhalb der Provinz beim Schlichten helfen. Das ist nicht nur das klassische Bürgermeisteramt hier, es ist viel mehr."
Für Abdullah Demirbaş ist sein Beruf Berufung, eine Mission, ein politischer Auftrag. Er gehört der kurdischen BDP an, der Partei des Friedens und der Demokratie. In Diyarbakir werden viele Probleme der 15 bis 20 Millionen Kurden der Republik Türkei wie durch ein Brennglas gebündelt.
Abdullah Demirbaş: "Die Bevölkerung von Diyarbakir ist in 20 Jahren von 300.000 auf eine Million gewachsen. Das hat zu Problemen mit der Infrastruktur, dem Gesundheitssystem und den Dienstleistungen der Stadtverwaltung geführt. Die Infrastruktur war überfordert. Es kam zu Wasserknappheit für die einzelnen Haushalten, auch das Kanalisationsnetz reichte nicht aus. Beides zusammen führte dann natürlich auch zu Gesundheitsproblemen."
Hämmern und Schweißen im Bazar von Sur. Geschäftigkeit prägt das Bild auf den ersten Blick. Doch Sur und Diyar-e-Bekir, wie die Kurden sagen, blieben weit unter ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten, klagt Bürgermeister Demirbaş. Die Arbeitslosigkeit liege deutlich über dem türkischen Durchschnitt. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze hat mit der aufgezwungenen Bevölkerungsentwicklung nicht Schritt halten können. In den 80er- und vor allem in den 90er-Jahren sind Hunderte von Dörfern und Weilern in den vorwiegend von Kurden bewohnten Provinzen von türkischen Sicherheitskräften zerstört oder von ihren Bewohnern gezwungenermaßen verlassen worden. Hunderttausende mussten ihr Landleben aufgeben und in Städte ziehen.
Abdullah Demirbaş: "Die Diskrepanz hat zu Chaos geführt. Die Menschen sind weder Städter noch Dörfler. Die zweite Generation will dann nicht mehr zurück aufs Land. Es entsteht ein Identitätsproblem, und es führt schließlich auch zu psychologischen Problemen. Selbstmorde haben zugenommen, das geht oft zurück auf dieses Identitätsproblem. Es sind auch Probleme, die vom Übergang eines Feudalsystems zur kapitalistischen Ordnung herrühren."
Es sei ein von Menschen gemachtes Desaster, urteilt der in den USA ausgebildete kurdische Geografie-Professor Ilhan Kaya:
"Sie glaubten, sie finden eine zeitliche Lösung. Aber es war eine Lösung dergestalt, dass die Dörfer zwar entleert wurden, um der PKK die Logistik zu entziehen. Sie wollten deren Logistik austrocknen. Aber sie haben das Problem nur in die Stadt verlagert, anstatt es auf dem Land zu lassen."
Die massenhafte Landflucht der Kurden wirkt sich heute wie ein Katalysator auf die kurdische Bewegung aus, unterstreicht Bürgermeister Demirbaş. Viele junge arbeits- und chancenlose Kurden sympathisieren mit der Untergrundorganisation PKK, die von der EU, den USA, der Nato und natürlich von Ankara als Terrororganisation bezeichnet wird. Doch nicht nur die vermeintlichen Loser "gehen in die Berge" – ein gebräuchlicher Euphemismus dafür, dass sich jemand der Guerilla anschließt.
Abdullah Demirbaş: "Mein Sohn ist Guerillakämpfer. Früher konnten die Kinder nirgends hingehen, ohne den Eltern Bescheid zu sagen. Heute ist mein Sohn eben nicht nur in eine andere Stadt, sondern er ist in die Berge gegangen. Meine Frau und ich sind stolz auf ihn."
Abdullah Demirbaş ist wegen einer langen Reihe von Verstößen im Zusammenhang mit seinem Bürgermeisteramt zu insgesamt 499 Jahren Haft verurteilt worden. Er ist in Berufung gegangen. Verurteilt wurde er unter anderem, weil er Schilder in Türkisch und Kurdisch in der Stadtverwaltung hatte anbringen und vor der Stadt ein Begrüßungsschild auf Kurdisch hatte aufstellen lassen. Offizielle Broschüren waren ebenfalls mehrsprachig, zudem hatte er die Herausgabe kurdischsprachiger Kinderbücher unterstützt.
Abdullah Demirbaş: "Ich habe keine Waffen. Ich bin Politiker. Ich habe niemanden umgebracht. Ich habe auch niemanden dazu überredet. Trotzdem warten auf mich 499 Jahre Haft. Wenn jemandem, der mit politischen Mitteln versucht, etwas zu verändern, so viele Hindernisse in den Weg gelegt werden, dann suchen die Jugendlichen einen anderen Weg für die Freiheit. Wenn der Staat sich so gegen Leute verhält, die gegen Gewalt sind, dann geht die Jugend in die Berge und sucht nach anderen Wegen. Mein Sohn hat genau das getan. Ich bin vom Gericht verurteilt worden. Am nächsten Tag kam mein Sohn und sagte: 'So ist das, wenn du's mit legalen Mitteln versuchst. Der Staat versteht nur die Sprache der Waffen.' Wer hat den Sohn in die Berge geschickt? Die Politik des Staates! Wer ist der Terrorist? Mein Sohn oder diejenigen, die meinen Sohn durch ihre Politik in die Berge gebracht haben? Die gewalttätige Politik des Staates ist terroristischer als die Jugendlichen, die aufgrund dieser Politik in die Berge gehen."
Der Staat wehrt sich gegen solcherlei Behauptungen und schießt zurück – mit Waffen und mit Worten. Seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe im Sommer 2011 sind knapp 900 Menschen umgekommen – Zivilisten, Soldaten, Polizisten, Guerillas. Es ist nicht ganz klar, wie stark sich der Bürgerkrieg in Syrien auf die Bestrebungen der Kurden in der Türkei auswirkt. Es bleibt offen, ob der Iran mit Waffenlieferungen und Logistik wirklich – wie von Ankara vermutet – an der Gewaltschraube mit dreht. Fest steht: der ungelöste Kurdenkonflikt ist seit Jahrzehnten die am schlimmsten schwärende Wunde der Republik Türkei. In den vergangenen 30 Jahren hat er weit mehr als 40.000 Menschenleben gekostet. Vor zehn Jahren hat mit Recep Tayyip Erdoğan ein Politiker die Regierung übernommen, dessen Ziel das Ende dieses Konfliktes war.
Recep Tayyip Erdoğan: "Uns war klar, dass es in der Region sozio-ökonomische Probleme gibt. In unserer Regierungszeit wurden in den Osten und Südosten Anatoliens ca. 36 Milliarden Lira investiert. Was immer es im Westen gibt, soll es auch im Osten geben! Und wir arbeiten weiter daran. Überall im Land, im Westen, in Zentralanatolien, im Norden und am Mittelmeer gibt es jetzt viele Universitäten. Wir haben sie auch in den Provinzhauptstädten des Südostens gegründet. Jetzt möchte ich meinen kurdischen Mitbürger fragen: Was willst du außerdem noch? Hör nicht auf die Propaganda der Terrororganisation oder der Pseudo-Vertreter der Kurden. Was fehlt dir noch? Woran mangelt es? Was hat der Westen, was du nicht hast? Wenn du die Arbeitslosigkeit und die Beschäftigung ansprichst, muss ich dir sagen: Der Schlüssel dazu liegt auch in deiner Hand. Warum? Weil du mithelfen musst, die Investoren und Unternehmer dazu zu bringen, in der Region zu investieren, und zwar indem du dich entschieden gegen die Terrororganisation stellst."
Das Kurdenproblem, so kritisieren kurdische Politiker, werde von Ankara vorrangig als Terrorproblem gesehen. Das Recht auf die eigene kurdische Identität, auf Kurdisch als Unterrichts- und Amtssprache, auf politische Selbstverwaltung werde weitgehend ignoriert. Über die Gründe und Ursachen des bewaffneten und des unbewaffneten Aufbegehrens werde von türkischen Politikern zu wenig nachgedacht, stellt Bürgermeister Demirbaş fest. Und er wartet mit einem freimütigen Bekenntnis auf:
"Das Kurdenproblem und das PKK-Problem sind heute eins. Die PKK ist zu einer Massenbewegung geworden. Eine solche Massenbewegung kann nicht terroristisch sein. Die PKK ist eine Organisation mit eigenen Regeln. Wir sind die BDP und arbeiten nach den Regeln des Staates. Ich bin BDPler, mein Sohn ist PKKler. PKK und BDP sind ineinander verwoben. Wenn mir Politik verboten und das Legale eingegrenzt wird, dann wächst die PKK."
Und es wächst der Einfluss von PKK-Chef Abdullah Öcalan. Seit 1999 sitzt der 63-Jährige in türkischer Haft. Als einziger Häftling hockt er auf der Insel Imralı in einem großen Gefängnis. Im Herbst beteiligten sich landesweit Hunderte kurdische Gefangene und zahlreiche kurdische Parlamentsabgeordnete an einem Hungerstreik. Eine ihrer Forderung lautete, Ende der Isolation des Apo genannten PKK-Chefs. Bevor es zu Toten und möglicherweise tragischen Folgen kam, beendete ein "Machtwort" Öcalans den Streik.
Der kurdische Professor Ilhan Kaya zur Bedeutung Öcalans, der von seinen Anhängern Serok – Führer – genannt wird:
"In der Vorstellung vieler ist er der Gründer dieser Bewegung. In gewisser Weise nimmt er für viele Kurden einen vergleichbaren Rang ein, den Atatürk für Türken einnimmt. Er ist der Held, er ist derjenige, der angefangen hat. Er bringt Kurden dem Rest der Welt zu Bewusstsein. Ich würde sagen, unter den Kurden hat er ein gutes Image."
Noch schwört die PKK dem Terror nicht offen ab. Noch setzt das türkische Militär schwere Waffen ein, von denen nicht nur Guerillas, sondern immer wieder auch Zivilisten getötet werden. Die Orte der Aussöhnung, meint der Geografie-Professor Ilhan Kaya, müssen die Schulen und Universitäten sowie die türkischen Massenmedien sein. Dort werde eine einseitige, eine türkisch-nationalistische Sicht auf den Konflikt gelehrt und dargestellt. Ort der Aussöhnung müssten auch die Gerichtssäle sein. Denn in den 90er-Jahren seien Tausende Kurden durch staatliche und halbstaatliche Killerkommandos umgebracht worden. Die bisherigen Versuche der türkischen Regierung, den Konflikt zu lösen, greifen nach Meinung von Ilhan Kaya zu kurz:
"Malcolm X hat mal was Gutes gesagt. Wenn du das Messer drei Zoll aus meinem Rücken ziehst, dann heilt mich das nicht. Wenn du es fünf raus ziehst, heilt mich das auch nicht. Du musst es schon ganz rausziehen, damit du die Wunde behandeln kannst. Er sagt, Amerika hat das Messer noch nicht rausgezogen. So gesehen hat auch die Türkei noch nicht einmal damit angefangen, das Problem zu behandeln. Alles ist noch da. Die Leute haben doch ein Gedächtnis. Du kannst deren Erinnerungen nicht löschen und sagen: Schauen wir mal, wir haben doch jetzt einen neuen Staat, eine neue Regierung und alles ist bestens. Das wird nicht passieren."
Dengbesh – die Kunst der Verklärung, die Kunst des Erinnerns, die Kunst der kulturellen Wiedergeburt. Jahrzehntelang war der öffentliche Vortrag verboten. Weil Kurdisch jahrzehntelang verboten war. Die Generation meines Vaters hat sich nicht kurdisch genannt, sagt die 27-jährige Dilan Bazgan:
"Sie haben sich Ostler genannt. Erst nach dem Auftreten der PKK – ich sage nicht: dank der PKK – aber erst danach haben die Leute damit angefangen zu sagen, wir sind kurdisch."
Dilan Bazgan lebt und arbeitet in Diyarbakir, dem Zentrum der Kurdengebiete in der Republik Türkei. Sie ist in Bingöl geboren und dort eingeschult worden. Als sie zehn war, zog sie mit ihren Eltern in die westtürkische Stadt Izmir. Dort begriff sie zum ersten Mal, dass sie Kurdin und deshalb in den Augen ihrer Klassenkameraden wohl irgendwie anders ist:
"Ich habe einen kurdischen und einen türkischen Vornamen. Ich benutze nur meinen kurdischen Namen, aber ich hab eben auch einen türkischen – nämlich Özgen. Aber meine Lehrer, die Nationalisten waren, die haben mich niemals bei meinem kurdischen Namen gerufen, immer nur beim türkischen, obwohl ich den nie benutze. Meine Klassenkameraden haben Namen erfunden. Sie haben mich nach meiner Heimatstadt benannt – Bingöl. Das war auch schräg. Sie mochten es, mir zu zeigen, dass ich anders bin. Sie haben auch diese Schauergeschichte erzählt, dass Kurden Schwänze haben. Sie haben mich tatsächlich gefragt, ob ich einen Schwanz habe oder nicht."
Dengbesh und die Suche nach der kurdischen Identität in der Republik Türkei. Nirgends ist das so deutlich zu spüren wie in Diyarbakir. Und hier vor allem im historischen Stadtteil Sur. Dessen Bürgermeister ist der 46-jährige Abdullah Demirbaş:
"Als Bürgermeister spreche ich am Tag mit 300 bis 400 Leuten. Es geht dabei nicht nur um Kommunales. Es geht um Blutfehden, um entführte Mädchen, um Eheprobleme. Manchmal bin ich als Psychologe, Soziologe, Pädagoge oder Anthropologe tätig. Ich helfe Leuten, einen Job zu finden, oder Kids mit Problemen in der Schule. Oder auch Leuten, die Probleme aufgrund ihrer politischen Einstellungen haben. Manchmal muss ich auch außerhalb der Provinz beim Schlichten helfen. Das ist nicht nur das klassische Bürgermeisteramt hier, es ist viel mehr."
Für Abdullah Demirbaş ist sein Beruf Berufung, eine Mission, ein politischer Auftrag. Er gehört der kurdischen BDP an, der Partei des Friedens und der Demokratie. In Diyarbakir werden viele Probleme der 15 bis 20 Millionen Kurden der Republik Türkei wie durch ein Brennglas gebündelt.
Abdullah Demirbaş: "Die Bevölkerung von Diyarbakir ist in 20 Jahren von 300.000 auf eine Million gewachsen. Das hat zu Problemen mit der Infrastruktur, dem Gesundheitssystem und den Dienstleistungen der Stadtverwaltung geführt. Die Infrastruktur war überfordert. Es kam zu Wasserknappheit für die einzelnen Haushalten, auch das Kanalisationsnetz reichte nicht aus. Beides zusammen führte dann natürlich auch zu Gesundheitsproblemen."
Hämmern und Schweißen im Bazar von Sur. Geschäftigkeit prägt das Bild auf den ersten Blick. Doch Sur und Diyar-e-Bekir, wie die Kurden sagen, blieben weit unter ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten, klagt Bürgermeister Demirbaş. Die Arbeitslosigkeit liege deutlich über dem türkischen Durchschnitt. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze hat mit der aufgezwungenen Bevölkerungsentwicklung nicht Schritt halten können. In den 80er- und vor allem in den 90er-Jahren sind Hunderte von Dörfern und Weilern in den vorwiegend von Kurden bewohnten Provinzen von türkischen Sicherheitskräften zerstört oder von ihren Bewohnern gezwungenermaßen verlassen worden. Hunderttausende mussten ihr Landleben aufgeben und in Städte ziehen.
Abdullah Demirbaş: "Die Diskrepanz hat zu Chaos geführt. Die Menschen sind weder Städter noch Dörfler. Die zweite Generation will dann nicht mehr zurück aufs Land. Es entsteht ein Identitätsproblem, und es führt schließlich auch zu psychologischen Problemen. Selbstmorde haben zugenommen, das geht oft zurück auf dieses Identitätsproblem. Es sind auch Probleme, die vom Übergang eines Feudalsystems zur kapitalistischen Ordnung herrühren."
Es sei ein von Menschen gemachtes Desaster, urteilt der in den USA ausgebildete kurdische Geografie-Professor Ilhan Kaya:
"Sie glaubten, sie finden eine zeitliche Lösung. Aber es war eine Lösung dergestalt, dass die Dörfer zwar entleert wurden, um der PKK die Logistik zu entziehen. Sie wollten deren Logistik austrocknen. Aber sie haben das Problem nur in die Stadt verlagert, anstatt es auf dem Land zu lassen."
Die massenhafte Landflucht der Kurden wirkt sich heute wie ein Katalysator auf die kurdische Bewegung aus, unterstreicht Bürgermeister Demirbaş. Viele junge arbeits- und chancenlose Kurden sympathisieren mit der Untergrundorganisation PKK, die von der EU, den USA, der Nato und natürlich von Ankara als Terrororganisation bezeichnet wird. Doch nicht nur die vermeintlichen Loser "gehen in die Berge" – ein gebräuchlicher Euphemismus dafür, dass sich jemand der Guerilla anschließt.
Abdullah Demirbaş: "Mein Sohn ist Guerillakämpfer. Früher konnten die Kinder nirgends hingehen, ohne den Eltern Bescheid zu sagen. Heute ist mein Sohn eben nicht nur in eine andere Stadt, sondern er ist in die Berge gegangen. Meine Frau und ich sind stolz auf ihn."
Abdullah Demirbaş ist wegen einer langen Reihe von Verstößen im Zusammenhang mit seinem Bürgermeisteramt zu insgesamt 499 Jahren Haft verurteilt worden. Er ist in Berufung gegangen. Verurteilt wurde er unter anderem, weil er Schilder in Türkisch und Kurdisch in der Stadtverwaltung hatte anbringen und vor der Stadt ein Begrüßungsschild auf Kurdisch hatte aufstellen lassen. Offizielle Broschüren waren ebenfalls mehrsprachig, zudem hatte er die Herausgabe kurdischsprachiger Kinderbücher unterstützt.
Abdullah Demirbaş: "Ich habe keine Waffen. Ich bin Politiker. Ich habe niemanden umgebracht. Ich habe auch niemanden dazu überredet. Trotzdem warten auf mich 499 Jahre Haft. Wenn jemandem, der mit politischen Mitteln versucht, etwas zu verändern, so viele Hindernisse in den Weg gelegt werden, dann suchen die Jugendlichen einen anderen Weg für die Freiheit. Wenn der Staat sich so gegen Leute verhält, die gegen Gewalt sind, dann geht die Jugend in die Berge und sucht nach anderen Wegen. Mein Sohn hat genau das getan. Ich bin vom Gericht verurteilt worden. Am nächsten Tag kam mein Sohn und sagte: 'So ist das, wenn du's mit legalen Mitteln versuchst. Der Staat versteht nur die Sprache der Waffen.' Wer hat den Sohn in die Berge geschickt? Die Politik des Staates! Wer ist der Terrorist? Mein Sohn oder diejenigen, die meinen Sohn durch ihre Politik in die Berge gebracht haben? Die gewalttätige Politik des Staates ist terroristischer als die Jugendlichen, die aufgrund dieser Politik in die Berge gehen."
Der Staat wehrt sich gegen solcherlei Behauptungen und schießt zurück – mit Waffen und mit Worten. Seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe im Sommer 2011 sind knapp 900 Menschen umgekommen – Zivilisten, Soldaten, Polizisten, Guerillas. Es ist nicht ganz klar, wie stark sich der Bürgerkrieg in Syrien auf die Bestrebungen der Kurden in der Türkei auswirkt. Es bleibt offen, ob der Iran mit Waffenlieferungen und Logistik wirklich – wie von Ankara vermutet – an der Gewaltschraube mit dreht. Fest steht: der ungelöste Kurdenkonflikt ist seit Jahrzehnten die am schlimmsten schwärende Wunde der Republik Türkei. In den vergangenen 30 Jahren hat er weit mehr als 40.000 Menschenleben gekostet. Vor zehn Jahren hat mit Recep Tayyip Erdoğan ein Politiker die Regierung übernommen, dessen Ziel das Ende dieses Konfliktes war.
Recep Tayyip Erdoğan: "Uns war klar, dass es in der Region sozio-ökonomische Probleme gibt. In unserer Regierungszeit wurden in den Osten und Südosten Anatoliens ca. 36 Milliarden Lira investiert. Was immer es im Westen gibt, soll es auch im Osten geben! Und wir arbeiten weiter daran. Überall im Land, im Westen, in Zentralanatolien, im Norden und am Mittelmeer gibt es jetzt viele Universitäten. Wir haben sie auch in den Provinzhauptstädten des Südostens gegründet. Jetzt möchte ich meinen kurdischen Mitbürger fragen: Was willst du außerdem noch? Hör nicht auf die Propaganda der Terrororganisation oder der Pseudo-Vertreter der Kurden. Was fehlt dir noch? Woran mangelt es? Was hat der Westen, was du nicht hast? Wenn du die Arbeitslosigkeit und die Beschäftigung ansprichst, muss ich dir sagen: Der Schlüssel dazu liegt auch in deiner Hand. Warum? Weil du mithelfen musst, die Investoren und Unternehmer dazu zu bringen, in der Region zu investieren, und zwar indem du dich entschieden gegen die Terrororganisation stellst."
Das Kurdenproblem, so kritisieren kurdische Politiker, werde von Ankara vorrangig als Terrorproblem gesehen. Das Recht auf die eigene kurdische Identität, auf Kurdisch als Unterrichts- und Amtssprache, auf politische Selbstverwaltung werde weitgehend ignoriert. Über die Gründe und Ursachen des bewaffneten und des unbewaffneten Aufbegehrens werde von türkischen Politikern zu wenig nachgedacht, stellt Bürgermeister Demirbaş fest. Und er wartet mit einem freimütigen Bekenntnis auf:
"Das Kurdenproblem und das PKK-Problem sind heute eins. Die PKK ist zu einer Massenbewegung geworden. Eine solche Massenbewegung kann nicht terroristisch sein. Die PKK ist eine Organisation mit eigenen Regeln. Wir sind die BDP und arbeiten nach den Regeln des Staates. Ich bin BDPler, mein Sohn ist PKKler. PKK und BDP sind ineinander verwoben. Wenn mir Politik verboten und das Legale eingegrenzt wird, dann wächst die PKK."
Und es wächst der Einfluss von PKK-Chef Abdullah Öcalan. Seit 1999 sitzt der 63-Jährige in türkischer Haft. Als einziger Häftling hockt er auf der Insel Imralı in einem großen Gefängnis. Im Herbst beteiligten sich landesweit Hunderte kurdische Gefangene und zahlreiche kurdische Parlamentsabgeordnete an einem Hungerstreik. Eine ihrer Forderung lautete, Ende der Isolation des Apo genannten PKK-Chefs. Bevor es zu Toten und möglicherweise tragischen Folgen kam, beendete ein "Machtwort" Öcalans den Streik.
Der kurdische Professor Ilhan Kaya zur Bedeutung Öcalans, der von seinen Anhängern Serok – Führer – genannt wird:
"In der Vorstellung vieler ist er der Gründer dieser Bewegung. In gewisser Weise nimmt er für viele Kurden einen vergleichbaren Rang ein, den Atatürk für Türken einnimmt. Er ist der Held, er ist derjenige, der angefangen hat. Er bringt Kurden dem Rest der Welt zu Bewusstsein. Ich würde sagen, unter den Kurden hat er ein gutes Image."
Noch schwört die PKK dem Terror nicht offen ab. Noch setzt das türkische Militär schwere Waffen ein, von denen nicht nur Guerillas, sondern immer wieder auch Zivilisten getötet werden. Die Orte der Aussöhnung, meint der Geografie-Professor Ilhan Kaya, müssen die Schulen und Universitäten sowie die türkischen Massenmedien sein. Dort werde eine einseitige, eine türkisch-nationalistische Sicht auf den Konflikt gelehrt und dargestellt. Ort der Aussöhnung müssten auch die Gerichtssäle sein. Denn in den 90er-Jahren seien Tausende Kurden durch staatliche und halbstaatliche Killerkommandos umgebracht worden. Die bisherigen Versuche der türkischen Regierung, den Konflikt zu lösen, greifen nach Meinung von Ilhan Kaya zu kurz:
"Malcolm X hat mal was Gutes gesagt. Wenn du das Messer drei Zoll aus meinem Rücken ziehst, dann heilt mich das nicht. Wenn du es fünf raus ziehst, heilt mich das auch nicht. Du musst es schon ganz rausziehen, damit du die Wunde behandeln kannst. Er sagt, Amerika hat das Messer noch nicht rausgezogen. So gesehen hat auch die Türkei noch nicht einmal damit angefangen, das Problem zu behandeln. Alles ist noch da. Die Leute haben doch ein Gedächtnis. Du kannst deren Erinnerungen nicht löschen und sagen: Schauen wir mal, wir haben doch jetzt einen neuen Staat, eine neue Regierung und alles ist bestens. Das wird nicht passieren."