Blutsauger als moderner Mythos

Der Sammelband zeigt das Auftauchen von Vampiren in der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte und findet eine Vielzahl an Deutungen für die untote Nachtgestalt. Manchmal schießen die Autoren jedoch übers Ziel hinaus und neigen zu unbestimmter, verquaster Begriffsbildung.
Der Vampir ist nicht nur, was den Tagesablauf angeht, sondern auch kulturgeschichtlich eine späte Erscheinung. Ziemlich genau auf den Winter 1731 lässt sich der Ausbruch der ersten Hysterie datieren, die auf dem Balkan - im nordserbischen Medwegya - anlässlich einer Seuche ausbrach, für deren Ursache man "lebende Toten" hielt. Sie erfasste rasch ganz Europa und brachte neben vielen Gerüchten zahlreiche medizinische und theologische Gutachten hervor.

In der Gestalt des Vampirs kam dabei viel Natur- und Geistermythologie zusammen: Die Vorstellung vom Blut als wichtigstem Lebenselement, die Angst davor, lebendig begraben zu werden, die Spekulation über parapsychologische Phänomene und über die Wiederbelebbarkeit von Toten.

Sowohl die Aufklärung wie die Romantik verbissen sich gern in diese Stoffe. Doch erst mehr als 160 Jahre später erfuhr das Vampirmärchen seine prägende literarische Gestaltung, als der irische Theatermanager Bram Stoker 1897 seinen Roman "Dracula" als Manifest gegen eine materialistische, das Übernatürliche verspottende Weltanschauung veröffentlichte.

Der Sammelband "Dracula Unbound" der Literaturwissenschaftler Begemann, Hermann und Neumeyer (von den Universitäten München und Bayreuth) bietet ein ganzes Spektrum von Zugängen zur Geschichte des höheren Blutsaugertums: medizingeschichtliche zur allgemeinen Säftelehre der Neuzeit; wissenschaftsgeschichtliche zu Mesmerismus, Magnetismus und Hypnose als seltsame Kausaltechniken fürs Unbewusste; sozialgeschichtliche über Zigeuner und andere Minderheiten, denen vampiristische Eigenschaften zugeschrieben wurden.

"Der Vampir als Außenseiter" ist einer der besten Aufsatztitel des Bandes. Daneben stehen Berichte über die poetischen Verarbeitungen des Vampir-Motivs in der romantischen Schauerliteratur, auf der Opernbühne, im Film. Und Christian Begemann zeigt sehr klar, wie der Vampir mal zur Kritik eines Christentums diente, dem die Verdrängung des Erotischen zugeschrieben wurde, das dann in unheimlicher Form wiederauferstehe, mal aber auch literarisch zur Verteidigung des Übersinnlichen und als Erlösungsgeschichte eingesetzt wurde.

Manche der Beiträge wirken allerdings selber ein bisschen wie Schauerliteratur, wenn etwa aus einer Bemerkung Gustave Flauberts, er fühle sich "wie aufgesaugt von den Worten", der Schluss gezogen wird, Texte seien selber Vampire. Aha, alles, was saugt, ist also ein Vampir! Ein paar Aufsätze später ist dann folgerichtig auch der Film als solcher ein "vampirisches Medium", weil er die Literatur aussauge. Anders als das Blut dem Opfer, fehlen allerdings der Literatur die Motive, die ihr der Film abzapft, danach nicht.

Natürlich muss auch Michel Foucaults Begriff der "Bio-Macht" fallen, wenn erklärt werden soll, dass Bram Stoker den Vampirismus als sexuell übertragbare Seuche dargestellt hat. Doch wie viel Biomacht hatte der erfolglose Schriftsteller überhaupt? Oder man soll Sätze wie diesen verstehen:

"An die Stelle einer Theoretisierung des Vampirs als Figur des Imaginären tritt eine Theoretisierung des Imaginären, deren Einsatz eine Politik der Zeichen ist".

Das ist jene Art beliebiger, und man möchte hier sagen: zahnloser Begriffsbildung, die man seit Jahren von einer Literaturwissenschaft gewöhnt ist, der es an klaren Fragestellungen fehlt.

Dennoch ist der Band im Ganzen und sind sogar die Aufsätze, die mit solchen Sprüchen aufwarten, ungemein lehr- und vor allem materialreich. Wer mit den Thesen der Autoren nicht zufrieden ist, findet genug Stoff, um zu eigenen Schlüssen zu kommen. Der Vampir zeigt sich jedenfalls als eine der wenigen genuin mythischen, weil unablässig neue Deutungen anziehenden Figuren, die von der Moderne hervorgebracht worden sind.

Christian Begemann / Britta Hermann / Harald Neumeyer (Hrsg.). Dracula Unbound. Kulturwissenschaftliche Lektüren des Vampirs
Rombach Verlag, Freiburg 2008
433 Seiten, 68 EUR