Bob Dylan: „Die Philosophie des modernen Songs“

Popmusik als griechische Tragödie

06:22 Minuten
Buchcover zu Bob Dylans "Die Philosophie des modernen Songs"
© C.H. Beck

Bob Dylan

Aus dem Englischen von Conny Lösch

Die Philosophie des modernen SongsC.H. Beck, München 2022

352 Seiten

35,00 Euro

Von Fabian Wolff |
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Bob Dylan hat eine Essaysammlung vorgelegt. Mit ihr lässt sich intensiv in die Lieblingssongs des Musikers eintauchen. Zudem liefert das Buch eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, aber beides nicht ohne chauvinistische Anklänge.
Den Literaturnobelpreis hat er für seine Songtexte bekommen – was ihm, wie Fans gerne anmerken, als Musiker gar nicht gerecht wird –, aber ein paar Bücher hat Bob Dylan in seiner kurvenreichen Karriere auch geschrieben. Den Memoiren “Chronicles” war 2004, aus Optimismus oder im Scherz, noch der Untertitel “Vol. 1” beigestellt. Dylans neues Buch “Die Philosophie des modernen Songs” ist nicht Volume 2, aber erzählt auch viel über seine musikalische Biografie, seine Gedankenwelt und sein emotionales Innenleben – vielleicht sogar etwas zu viel.
Eine kohärente Gesamttheorie modernen Liedguts findet sich hier nicht, aber anders als in der teils aus Lektürehilfen abgeschriebenen Dankesrede zum Nobelpreis meint es Dylan hier wirklich ernst. Er hat ein idiosynkratisches Buch geschrieben: über Amerika, Gewalt, Geld, Obsession und die Frage, ob Musik eigentlich etwas verändern kann. Ein Buch, wie nur er es schreiben könnte – und nicht nur, weil kaum jemandem sonst das Geschenk eines assoziativ und üppig illustrierten Luxusbandes über seine Lieblingssongs gemacht wird.

Fiebriges Eintauchen in Dylans Lieblingssongs

Dylan hat nach eigenem Geschmack 66 Songs zusammengetragen – viel Country und Rock, etwas Soul, viele Männer, aber nicht nur –, die er in kurzen Essays erläutert. Diese Musik ist für Dylan ein Medium, um Gefühle und Geschichten direkt erfahrbar zu machen. Diese Erfahrungen beschwört er in der ersten Hälfte der Essays: „Du bist der Gauner, der Teufelsanbeter, der böse Mann mit der ganz besonderen Begierde“ (über „Viva Las Vegas“ von Elvis Presley), „dieser Song ist gehirngewaschen und kommt mit gemeinem dreckigem Blick zu dir, er übertreibt und bläht sich auf“ (über „Pump it Up“ von Elvis Costello). Diese fiebrigen Monologe reißen mit und verstören – auch in der Übersetzung, die dankenswerter Weise darauf verzichtet, allzu viel Slang ins Deutsche zu übertragen.
Gerade in vermeintlichem Wegwerf-Pop der Fünfziger und Sechziger findet er emotionale und intellektuelle Tiefen wie in griechischen Tragödien oder Renaissance-Satiren. Gleichzeitig schreibt er die Songs durch sein absolutes Eintauchen in ihnen neu. Das hat schon in den ersten Vorabkritiken für Irritationen gesorgt. Wenn Dylan in vielen Songs das Grundmotiv der Frau als Teufel entdeckt, und es mit derber Sprache weiterspinnt, zeigt er dann Misogynie als Motor der Popmusik auf – oder ist er einfach ein verbitterter alter Mann, der sich von Frauen verraten fühlt?

Flirt mit dem Chauvinismus?

Die zweite Hälfte der Essays, in denen Dylan Entstehungsgeschichte, Kontext und kulturelle Querverbindungen aufzeigt, sind in einem weniger glühenden Tonfall geschrieben. Dylan hat ein müheloses Talent als Verknüpfer und Puzzler. Westernfilme, modernistische Literatur, amerikanische Außenpolitik: ohne Beliebigkeit erzählt Dylan die westliche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht unbedingt neu, aber anders. Doch auch hier spielt Dylan manchmal den knarzigen Chauvi.

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Oder spielt er ihn gar nicht? In seinen Songs tritt er gerne mal als Arschloch auf, zu den großen Provokateuren oder Kuschlern mit regressiven Gedanken gehörte er aber nie. Und trotz des historischen Fokus ist seine „Philosophie“ keine Abrechnung mit der Gegenwart, sondern eine profunde Auseinandersetzung mit einer Ära, in der aus sozialem Trauma, Aufstiegshoffnung, kommerziellem Hunger und künstlerischem Mut ein Kanon großer Musik geschaffen wurde.

Auch hier ein Verunsicherungskünstler

Wen, wie Dylan, diese kulturellen Kreuzungen auch heute noch elektrisieren, wird mit Freude etliche Stunden in Onkel Zimmys Plattenecke verbringen. Alle anderen können wenigstens staunen, dass Dylan es als großer Verunsicherungskünstler auch im fast achten Jahrzehnt seiner Karriere noch schafft, die Grenzen zwischen Wahrheit und Erfindung, Realität und Projektion zu verwischen.
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