Literaturnobelpreisträger wider Willen
Wofür hat der Singer-Songwriter Bob Dylan den Literaturnobelpreis bekommen? Die offizielle Begründung: für "neue poetische Ausdrucksformen in der amerikanischen Song-Tradition". In den Sechzigern wäre diese Wahl brisant gewesen, findet Sieglinde Geisel - heute nicht.
Der wirkmächtigste Preis für Literatur geht morgen an einen Singer-Songwriter. Seit der Bekanntgabe im Oktober wird darüber diskutiert, ob Bob Dylan ein Schriftsteller sei, und wenn ja, ein herausragender. Denn mit dem Literaturnobelpreis soll ein Autor ausgezeichnet werden, der "in der Literatur das Herausragendste in idealistischer Richtung produziert hat", so hat es der Stifter Alfred Nobel in seinem Testament formuliert.
Seit es den Literaturnobelpreis gibt, rätselt die Welt jedes Jahr aufs Neue über die Kriterien der Stockholmer Jury. Die diesjährige Wahl gab allerdings nicht wegen der Ideale zu Diskussionen Anlass, sondern wegen der Kunst, beziehungsweise der Sparte. Die Jury hat entschieden, dass Liedtexte Gedichte seien, und sie beruft sich in ihrer Begründung auf keinen Geringeren als Homer, der war schließlich auch ein fahrender Sänger. Die Latte liegt hoch: Ob die Songtexte von Bob Dylan ohne ihre Musik so gut bestehen können wie die Odyssee oder die Ilias?
Ökonomische Folgen für den Buchhandel
Der Nobelpreis hat enorme Folgen, nicht nur ideelle für die Literatur, sondern auch ökonomische für den Buchhandel. Dieser allerdings hat das Nachsehen, wenn der Nobelpreis an einen Lyriker geht, dessen Gedichte man nicht liest, sondern sich anhört. Daran ändern auch die paar Bücher über Bob Dylan nichts: Wer sich sein Werk zu Gemüte führen will, wird sich kaum ein Buch mit den Texten kaufen – Bob Dylan schreibt nun einmal keine Gedichte, sondern Songs.
Was genau hat die Jury also ausgezeichnet? "Neue poetische Ausdrucksformen in der amerikanischen Song-Tradition", so die offizielle Begründung. Die Entscheidung lässt sich auch anders interpretieren. Zum einen war es eine anti-elitäre Wahl, denn Bob Dylan kennt nun wirklich jeder. Zum anderen kann man darin auch einen Appell sehen, einen Appell an ein Amerika, das wir lieben. Nicht so sehr Bob Dylans Dichtung stünde dann im Zentrum, sondern das Lebensgefühl, das seine Songs bis heute transportieren. Und nicht zu vergessen: die weltliterarischen Anleihen in Dylans Spätwerk! Im Zug des Nobelpreises ist es schick geworden, diese herunterzubeten. Doch machen wir uns nichts vor: Die ikonisch gewordenen Songs stammen aus seinen jungen Jahren.
Entscheidung der Jury ist nostalgisch
Mit der Wahl von Donald Trump gewinnt Bob Dylans Nobelpreis nun auch eine politische Dimension – doch zugleich wird der Anachronismus offenbar. Auch wenn die Entscheidung der Nobelpreisjury viele schockiert haben mag: Sie ist nicht kühn, sondern nostalgisch. Im Jahr 2016 gehört kein Mut dazu, einen Bob Dylan auszuzeichnen. Der Revoluzzer mit der kratzigen Stimme ist einer der kommerziell erfolgreichsten Musiker unserer Zeit.
Er selbst entzieht sich der Rolle des Literaturnobelpreisträgers: Erst das lange Schweigen, dann die kurze Meldung, er fühle sich geehrt – gefolgt von der Mitteilung, dass er zur Verleihung in Stockholm nicht erscheinen werde. Eine Rede habe er für morgen Abend immerhin vorbereitet, so die letzte Meldung, und Patti Smith wird vertretungshalber einen Song von ihm singen. Auf der offiziellen Website www.bobdylan.com allerdings wird der Literaturnobelpreis nach wie vor mit keinem Wort erwähnt, man kann nur CDs kaufen und, ja, auch Bücher.
Ein Nobelpreisträger wider Willen also. Das ist nichts Neues. 2004 hat Elfriede Jelinek den Preis nicht persönlich entgegengenommen, 1969 war Samuel Beckett der Verleihung fern geblieben, und fünf Jahre zuvor hatte Jean-Paul Sartre den Preis gar abgelehnt. In den Sechzigerjahren wäre ein Literaturnobelpreis für Bob Dylan tatsächlich brisant gewesen, und zwar aus besseren Gründen: Damals hätte nicht nur die verfehlte Sparte für Aufregung gesorgt, man hätte auch über die Ideale diskutiert.
Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. 1988 zog sie als Journalistin nach Berlin-Kreuzberg, von 1994-98 war sie Kulturkorrespondentin der NZZ in New York, seit 1999 ist sie es in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin. An der FU hat sie einen Lehrauftrag für Literaturkritik.
Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).