Polnische Holocaust-Literatur
© Wallstein
Ist die Zukunft Leben oder Tod?
06:05 Minuten
Bogdan Wojdowski
Karin Wolff und Lothar Quinkenstein
Ein kleines Menschlein, ein stummes Vögelchen, ein Käfig und die WeltWallstein, Göttingen 2022192 Seiten
15,99 Euro
Den Erinnerungen an das Warschauer Ghetto konnte Bogdan Wojdowski nicht entrinnen. Seine Erzählungen schreiben den großer Roman vom todgeweihten Leben fort. Die erlittene Qual sprengt die Geschichten von innen auf.
"Brot für die Toten" heißt der große Roman über das Warschauer Ghetto, den der Überlebende Bogdan Wojdowski in einer Prosa verfasst hat, die die Frage nach Fiktion oder Dokument sofort vergessen lässt. Die sieben Erzählungen, die nach dem Roman nun als zweiter Band der „Bibliothek polnischer Holocaustliteratur“ erschienen sind, zeigen dieselbe Einheit von künstlerischer Originalität und erlebter Qual.
Sechs von ihnen, 1975 erschienen unter dem nun auch für die Neuausgabe benutzten Titel „Ein kleines Menschlein, ein stummes Vögelchen, ein Käfig und die Welt“, erzählen von Ereignissen im Warschauer Ghetto. Sie erinnern bis in Figuren, Atmosphäre und Details hinein an Wojdowskis überwältigenden Roman.
Gegenwart des Vergangenen
Die siebte Erzählung „Der Weg“, 1975 in einer Zeitung in Fortsetzungen gedruckt, schildert das Herumirren der 17-jährigen Alka nach der Flucht aus dem Ghetto. Sie setzt gewissermaßen den Roman fort, in dem David auf das Entkommen eingestimmt wird.
„Ich zögerte“, zitiert Lothar Quinkenstein in seinem informativen Nachwort aus Wojdowskis Tagebuch, „ob ich meine Zukunft noch als Leben oder bereits als Tod bezeichnen sollte.“ Das Ghetto hatte Wojdowski überlebt, war ihm aber nie entkommen. In den Erzählungen zeigt sich die Gegenwart des Vergangenen, wenn der Erzähler unvermittelt in die Geschichten drängt, dem Leser Fragen stellt und eine Poetik der Erinnerung formuliert, die für die vielen namenlosen Opfer ebenso gelten soll wie für alles andere, auch einen Vogel im Käfig.
Theaterreifer Dialog
Die Geschichten folgen einer Chronologie: Belcias Familie flieht in die noch nicht von Hitler angegriffene Sowjetunion. Kleiderhändler Motele erweist sich als Seher, der beim Feilschen durch die Fetzen der angebotenen Lumpen bis nach Krakau und Lemberg blicken kann. Großhändler Lewin, ein alter, ehrenwerter Kaufmann, widersteht in einem theaterreifen Dialog erfolgreich dem Drängen des Schmugglers Modarski zur Zusammenarbeit.
Der Deutsche namens „Bluthändchen“ gerät durch seine Mordlust in die Flammen, in denen die Juden verbrennen sollen. Ein Junge wird zum Schmuggeln von Lebensmitteln vorbei an den mal schießenden, mal grinsenden Wachen geschickt, und vor einer Landkarte sammeln die Eingesperrten Informationen über das Kriegsgeschehen.
Das unwahrscheinliche Überleben
Während die Geschichten aus dem Ghetto von einer fiebrigen Dringlichkeit sind, beginnt die Fluchterzählung „Der Weg“ ruhig und beinahe konventionell. Eindrücklich schildert sie Alkas Einsamkeit in der winterlichen Kälte. Sie schlüpft in Scheunen oder Unterständen unter, läuft abgemagert, verlaust, verdreckt auf abgelegenen Wegen ziellos herum. Eine Frau lässt sie aus dem Schweinetrog essen, andere nehmen sie eine Zeitlang als Arbeitskraft auf, trotz der drohenden Todesstrafe.
Als Alka verraten wird, werfen die Deutschen sie in einen Erdkeller, aus dem sie mit einem jungen Mann entkommt. Er will zu Juden, die sich im Sumpf verstecken, sie fürchtet das Versteck, weil jeder Bauer es kennt, und so trennen sich ihre Wege. „Der Weg“ ist eine gänzlich unwahrscheinliche Erzählung vom Überleben, und je länger sie währt, desto mehr bedrängt das Erlebte den Erzähler, desto mehr sprengen die Traumata die konventionelle Form. Alka wird keinen Frieden mehr finden, so wie Wojdowski, der sich 1994 mit 63 Jahren das Leben nahm.