Bogotá in Kolumbien

Ein Paradies für Fahrradfahrer

24:39 Minuten
Fahrradfahrer und Fahrerinnen auf einer Fahrradstraße in Bogotá.
In Lateinamerika ist Bogotá eine Vorzeigestadt für grüne Stadtentwicklung. Durch die Stadt zieht sich eine mehrspurige Fahrradschnellstraße. © Paul Hildebrandt
Von Paul Hildebrandt |
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Viele Geschichten aus Kolumbien handeln von Gewalt und Drogen. In Bogotá ist seit Jahren aber eine wachsende Fahrradbewegung aktiv und verändert die Stadt. Warum bekommt die Megacity etwas hin, woran Buenos Aires oder Bangkok scheitern?
Es ist Sonntagmorgen in Bogotá. Alejandro Russi steht im Parque Nacional und kommandiert 15 jungen Menschen wie ein Militärkommando. Sie alle tragen gelbe Fahrradtrikots, rote Helme und Funkgeräte. Auf den Trikots prangt ein blau umrandeter Adler: Das Wappen der Stadt. Die Gruppe soll dafür sorgen, Bogotás Innenstadt in den nächsten Stunden autofrei zu halten. In Kolumbiens Hauptstadt hat das Tradition: Seit mehr als 40 Jahren findet jeden Sonntag die sogenannte Ciclovia statt, eine Art autofreier Sonntag.
Schon früh morgens sperren Russi und sein Team die Straßen mit schweren Metallgittern. 400 feste Mitarbeiter organisieren die Ciclovia, 60 mobile Einsatzkräfte schlichten Konflikte mit Autofahrern. Russi ist ein 22-Jähriger mit kurzen Haaren und geradem Rücken, der sich dem Fahrrad verschrieben hat. Er hat sein Team straff organisiert.

Ciclovias – nicht nur ein Volksfest auf Rädern

"In Bogotá haben wir ein Problem mit der Fortbewegung. Es gibt zu viele Autos, zu viele Motorräder, die Luft ist dadurch verschmutzt. Und das öffentliche Transportsystem ist auch nicht besonders gut. Das Fahrrad ist die bessere Alternative für den Verkehr in der Stadt."
Junger Mann in Fahrradkleidung mit Helm und Fahrrad
Es gibt zu viele Autos, die die Luft verschmutzen, sagt Aktivist Alejandro Russi.© Paul Hildebrandt
Wenige Stunden später rollen tausende Radfahrer über die leeren Straßen, es ist ein Volksfest auf Rädern: Kleine Stände verkaufen süßes Obst und frittierte Maisfladen, von einer Bühne schallt laute Musik. Doch die Ciclovia ist mehr als nur ein Sonntagsausflug, sie ist eine gut organisierte Lobbyveranstaltung – und sie hat Erfolg. Mittlerweile haben Großstädte weltweit eigene Ciclovias durchgeführt, darunter Los Angeles, Sao Paolo und Guadalajara.
In Lateinamerika ist Bogotá eine Vorzeigestadt für grüne Stadtentwicklung: Eine mehrspurige Fahrradschnellstraße durchzieht die Stadt von Süden nach Norden. Viele der Radwege sind räumlich von den Straßen getrennt. Fast 700 Kilometer Radweg soll es bis zum Ende des Jahres geben.
Dabei hat die Stadt genug Probleme: Bogotá ist geprägt von Armut und Gewalt. Rund ein Drittel der Bewohner lebt unterhalb der Armutsgrenze, im vergangenen Jahr wurden mehr als 50.000 bewaffnete Überfälle verzeichnet. Seit einem halben Jahrhundert tobt in Kolumbien ein Bürgerkrieg. Warum gelingt ausgerechnet in dieser Stadt, was in anderen Megacities wie Buenos Aires oder Bangkok scheitert?

Volksheld: Radrennfahrer Quintana

Um das zu verstehen, fahre ich hoch in die Anden. Auf 3000 Metern, etwa vier Autostunden von Bogotá entfernt, lasse ich mich an einer Landstraße absetzen. Es riecht nach gegrilltem Mais. Vor einem kleinen Haus stehen Touristen und machen Selfies.
Das Haus gehört Luis Quintana, sein Sohn Nairo ist einer der besten Radfahrer der Welt. Neben dem Haus fährt ein riesiger Plastik-Nairo auf einem Plastikfahrrad, die Hauswände sind bemalt mit Bildern von ihm. In Kolumbien ist der Radrennfahrer ein Volksheld. Wenn hier Kinder aufs Fahrrad steigen, dann wollen sie werden wie Nairo Quintana.
Bemalte Wände mit Fahrrad-Symbolen und mit Nairo Quintana
Das Zuhause des Radrennstars und Nationalheldes Naior Quintana ist eine Kultstätte.© Paul Hildebrandt
Luis Quintana ist ein einfacher Bauer. Er lebt vom Mais und seinen sechs Kühen. Quintana sagt, sein Sohn Nairo habe sich immer durchkämpfen müssen. Aber er habe gezeigt: Es gibt einen Weg aus der Armut. Wie alle armen Kolumbianer, sagt er, ist Nairo Quintana ein Kämpfer. Deshalb verehren ihn die Leute so sehr.
In Kolumbien ist das Fahrrad lange ein Transportmittel der Armen gewesen. Erst Radrenn-Stars wie Quintana haben es zum Nationalsymbol gemacht. Und es ist dieses Symbol, das der Fahrrad-Lobby hilft, die Städte zu verändern.
Zurück in Bogotá verabrede ich mich mit dem Mann, der das Fahrrad zum politischen Instrument gemacht hat. Im wohlhabenden Norden der Stadt empfängt Jaime Ortiz mich in seiner Wohnung.

Perspektivwechsel durchs Fahrradfahren

"Wir hatten Glück in unserer Kultur ein Symbol zu finden, das wir nutzen konnten: Und das war das Fahrrad."
Ortiz hat einen weißen Bart und einen drahtigen Körper. Der Architekt gilt als Erfinder der Ciclovia. 1974 hatte er mit ein paar Freunden zum ersten Mal zwei Straßen für den Autoverkehr gesperrt.
"Wir haben die Bedeutung des Fahrrads in der Gesellschaft umgedeutet, indem wir es vorübergehend an einen Ort brachten, der eigentlich für Autos geschaffen war. Diesen Platz haben wir den Autos in einem schwachen Moment gestohlen. Nämlich Sonntagmorgens. Unser Plan war: Wir wollten den Leuten eine andere Perspektive auf die Stadt geben. Vor allem Menschen, die später selbst Politik machen würden. Mit der Ciclovía haben wir es geschafft, diesen Leuten zu zeigen, wie die Stadt vom Sitz eines Fahrrads aus betrachtet aussieht."


Als 20-Jähriger hatte Jaime Ortiz Anfang der 70er in den USA studiert und war dort mit der amerikanischen Protestkultur in Kontakt gekommen. Als er 1974 nach Bogotá zurückkehrte, war er infiziert von dem Gedanken, etwas zu verändern.
Fahrradfahrer und Fahrerinnen auf einer  Fahrradstraße in Bogotá.
"Wir müssen die Stadt neu erfinden", sagt Jaime Ortiz, Erfinder der Ciclovia.© Paul Hildebrandt
"Meine Generation wollte alles verändern: Umweltschutz, Menschenrechte, Frauenrechte und dann gab es natürlich den Vietnam-Krieg. Als ich zurückkam, haben wir begonnen, das System herauszufordern. Wir haben die Gesellschaft mit einem neuen Stadtbild konfrontiert, einem, in dem das Fahrrad eine große Rolle spielt. Heute wirkt das ziemlich offensichtlich, aber damals war es eine echte Herausforderung. Wir mussten die Leute überzeugen und ihnen zeigen, dass es Alternativen gibt."
Am 15. Dezember 1974 organisierte Ortiz die erste Ciclovia der Welt, zwei Jahre später übernahm die Stadtregierung die Organisation des Events. Für die Einwohner von Bogotá ist ein Sonntag ohne gesperrte Straßen heute kaum mehr vorstellbar. Das Fahrrad wurde Teil der Stadt-DNA.

Der Kampf der Radfahrer ist noch nicht gewonnen

"Die Ciclovia hat eine Gruppe von Leuten erzogen, die heute den öffentlichen Raum für das Fahrrad verteidigen. Die Ciclovia ist wie ein permanenter Bass, der die Debatte seit fast 45 Jahren offen hält und ich hoffe, sie wird es auch weiterhin tun."
Nahe Portraitaufnahme eines weißhaarigen Mannes
Inspiriert von der amerikanischen Protestkultur - der Fahrradaktivist und Erfinder der Ciclovia: Jaime Ortiz.© Paul Hildebrandt
Doch den Kampf um die Stadt hat die Fahrrad-Lobby in Bogotá noch lange nicht gewonnen. Mit wachsendem Wohlstand steigt auch die Anzahl der Autofahrer. Breite SUVs und Pick-Ups verstopfen die Straßen, zum Feierabend bilden sich kilometerlange Staus. Über der Stadt liegt permanent eine Smog-Wolke, die Kopfschmerzen verursacht.
Dagegen wehren sich junge Fahrradaktivisten. Sie organisieren sich in kleinen Gruppen, die sie Colectivos nennen, Kollektive. Von ihnen gibt es Hunderte in der ganzen Stadt.
Paola Moreno ist eine von ihnen. Seit Jahren engagiert sich die 30-jährige Lehrerin für Umweltschutz und eine fahrradfreundliche Stadt. Ich treffe sie nach der Arbeit im Parque Nacional. Sie fährt ein schwarzes Mountainbike und trägt rote Fahrrad-Handschuhe. Ihr Colectivo nennt sich Rueda como niña, fahr wie ein Mädchen.

Auf dem Fahrrad fühlen sich Frauen sicher

Moreno ist über die Ciclovia zum Radfahren gekommen. Sie stammt aus einem der ärmsten Viertel Bogotás. Dort ist es für sie besonders gefährlich, alleine unterwegs zu sein. Denn vor allem Frauen werden in Bogotá Opfer von Gewalttaten. Moreno sagt, erst auf dem Fahrrad bei der Ciclovia habe sie sich sicher gefühlt.
"Wir machen unheimlich viele Aktionen mit Frauen auf dem Fahrrad. Die Straße ist ein öffentlicher Raum und diesen Raum müssen wir besetzen, indem wir demonstrieren und den Verkehr anhalten. Das macht die Politiker auf uns aufmerksam, und ich glaube, dass unsere Bewegung so jedes Mal etwas stärker wird. Wir glauben, das ist die einzige Möglichkeit, um die Gesellschaft zu verändern."
Am Abend des 8. März, dem internationalen Frauentag, radelt Moreno gemeinsam mit hunderten jungen Frauen durch das bereits dunkle Bogotá. Sie pfeifen und rufen triumphierend. Das Video stellen sie ins Internet. Sie haben sich den Raum zurückerobert. Der Ciclovia-Erfinder Jaime Ortiz glaubt, nur mit Hilfe der Aktivisten lasse sich eine moderne Stadt entwerfen.
"Heute geht die Zeit der fossilen Brennstoffe zu Ende und wir müssen die Stadt neu erfinden. Und dazu tragen die Radfahrer, die Ciclovia, die Colectivas und die Politiker bei. Gemeinsam entwerfen wir eine Vision davon, wie die Stadt der Zukunft aussehen sollte."
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