"Bogotá war eine Stadt der Gefühllosigkeit"
Antanas Mockus erinnert sich an seine Zeit als Bürgermeister der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá: Die Stadt sei voller krimineller Energie gewesen. Dagegen habe er gekämpft. Er äußerte sich auch zum schwelenden Konflikt zwischen linksgerichteten Guerillatruppen, rechtsgerichteten Paramilitärs und der regulären Armee in Kolumbien.
Mathematiker, Philosoph – Politiker: Als Sohn litauischer Emigranten erblickte Antanas Mockus vor 60 Jahren in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá das Licht der Welt. Mockus bekleidete das Amt des Rektors der Universidad Nacional, der staatlichen Universität in Bogotá, wurde zwei Mal zum Bürgermeister Bogotá’s gewählt. Während seiner Amtszeiten veränderte er die als chaotisch geltende Hauptstadt Kolumbiens und die Einstellung ihrer Bürger radikal.
2006 und 2010 trat Mockus als Kandidat für die Präsidentschaft an: 2010 unterlag der Kandidat der Grünen gegen den amtierenden Präsidenten Juan Manuel Santos.
Antanas Mockus ist heute unser Gesprächsgast in Tacheles. Am Mikrofon ist Burkhard Birke.
Deutschlandradio Kultur: Welche Rolle kann Kultur bei der sozialen Integration spielen, dort, wo die Not besonders groß ist: Etwa in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, wo Sie Bürgermeister waren?
Antanas Mockus: Der Mensch hört weitgehend auf sein Gewissen und jeder Mensch erfährt das, was Kant Mündigkeit nannte, die Fähigkeit sich selbst zu beherrschen. Natürlich wird unser Verhalten auch von der Gesetzgebung geprägt. Justiz und Polizei wachen über die Einhaltung der Gesetze; die Angst vor Strafe: All das beeinflusst unser Verhalten.
Das Entscheidende ist vielleicht aber das Verhalten der anderen: Das Beispiel, das die anderen geben oder der Druck den Sie ausüben, damit man selbst so handelt wie sie.
Deutschlandradio Kultur: In diesem Sinne haben Sie selbst viele Beispiele gegeben. So haben Sie sich in einem Werbespot unter der Dusche filmen lassen. Dabei haben Sie das Wasser abgedreht, als Sie sich eingeseift haben, um ein Beispiel zu geben, wie Wasser gespart werden kann. Sprechen Sie von dieser Art des beispielhaften Verhaltens?
Antanas Mockus: Ja. Geholfen hat auch, dass das Fernsehen einen Bericht über die Fortschritte beim Wassersparen ausgestrahlt hat. Als die Leute dann im Fernsehen und Radio gehört haben, dass Wasser gespart werden soll, haben Sie Schuldgefühle bekommen und sich die Frage gestellt: Warum spare ich eigentlich nicht beim Wasser, wenn auch andere in guter Absicht sich bemühen, Wasser zu sparen? Wer nicht mitgemacht hat, hat sich schlecht gefühlt und wer mitgemacht hat, hat sich gut gefühlt.
Wir sehen unsere Nächsten nicht als mündig, als Bürger mit Moral an.
Wir glauben, unsere Mitmenschen reagieren nur auf Gewalt und nicht freiwillig.
Ich nehme Mal das Bild vom Zuckerbrot und der Peitsche: Wir beanspruchen für uns das Zuckerbrot, fordern für unsere Mitmenschen aber die Peitsche. Für mich Zuckerbrot – für die anderen die Peitsche!
Deutschlandradio Kultur: Wie kann man denn mit dieser Mentalität brechen, vor allem in einem Land wie Kolumbien, wo es viel Korruption und Bestechung gibt? Wie kann man erreichen, dass – wie Sie es als Bürgermeister von Bogotá geschafft haben - die Leute mehr Steuern oder überhaupt Steuern bezahlen?
Antanas Mockus: Man muss optimistisch bleiben, was die Lernfähigkeit der Menschen anbetrifft, selbst wenn vieles dagegen spricht. Man wird nicht als mündiger Bürger geboren, man wird erst dazu. Und der Prozess ist ähnlich wie beim Erlernen der Sprache.
Wenn ein Elternpaar extrem pragmatisch wäre, dann würden sie doch sagen: Unser Sohn, unsere Tochter spricht noch nicht, weshalb sollten wir also zu unserem Kind sprechen? Wir reden nicht mit dem Kind, denn es kann uns nicht verstehen. Wir schweigen einfach. Wenn eine Mutter und ein Vater sich so verhielten, würde ein Baby nie sprechen lernen.
Deshalb muss man einfach an die Lernfähigkeit der Menschen glauben, und zwar nicht nur in der Theorie, sondern in der Praxis. Im realen Leben müssen wir mit den Jugendlichen, den Mädchen und Jungs wie mit mündigen Personen sprechen und ihre Reaktion als die von mündigen Bürgern ansehen.
Deutschlandradio Kultur: Das klingt sehr philosophisch, man könnte auch von Alltagsphilosophie sprechen. Geben Sie uns doch ein paar konkrete Beispiele, was Sie als Bürgermeister von Bogotá unternommen haben, um das Verhalten der Menschen zu verändern!
Als Erstes haben wir die Vetternwirtschaft abgestellt. Wenn also jemand mit einem Empfehlungsschreiben zu einem Stadtrat kam und ihn um den Gefallen bat, für einen schnelleren Rentenbescheid zu sorgen, dann haben wir das abgelehnt. Dieses Schreiben brauchen Sie nicht mehr: Alle Pensionen werden binnen drei Wochen berechnet und ausgezahlt, keiner wird bevorzugt, alle besitzen das gleiche Recht, die Rente umgehend ausgezahlt zu bekommen.
Zu jedem Sylvestertag verbrannten sich circa 200 Kinder an Feuerwerkskörpern. Durch Vorkehrung und Warnhinweise haben wir die Zahl um 50 verringert.
Im ersten Jahr meiner Amtszeit haben wir Karten an die Autofahrer ausgeteilt: Die eine Seite dieser Karten war rot und der Daumen zeigte nach unten, die andere war weiß und der Daumen zeigte nach oben.
Viele Autofahrer nutzten diese, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen: Wenn sich jemand über die Fahrweise eines anderen geärgert hatte, zeigte er ihm die rote Karte, andere nutzten auch die weiße.
Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, die gezeigt hat: Auf sieben rote kamen drei weiße Karten!
Das Prinzip war klar: Ich verhalte mich korrekt, also zeigt mir die weiße Karte, die anderen muss man jedoch zur Ordnung rufen – denen müssen wir die rote Karte zeigen.
Außerdem haben wir in einem kleinen Bereich von 300 Quadratmetern die Verkehrspolizei durch Schauspieler ersetzt, die als Pantomimen mit Witz dafür sorgten, dass die Fußgänger wirklich bei grün über den Zebrastreifen gehen konnten und die Autos an ihrer roten Ampel tatsächlich stehen blieben.
Deutschlandradio Kultur: Diese Initiativen scheinen gefruchtet zu haben: Die Bürger von Bogotá, die zu Beginn Ihrer ersten Amtszeit mehrheitlich die Stadt nicht mochten, hatten später ein positives Bild von ihrer Stadt. Ist das immer noch so?
Antanas Mockus: Die letzten 18 Monate waren sehr schmerzvoll. Der Bürgermeister Samuel Moreno Rojas wurde der Korruption beschuldigt und musste vom Amt zurücktreten. Bis vor eineinhalb Jahren liefen die Dinge jedoch gut: Die Leute, die akzeptiert hatten, mehr Steuern zu zahlen, hatten weiter gezahlt. Stellen Sie sich einmal vor 63.000 Familien hatten freiwillig 10 Prozent mehr Grundsteuern entrichtet!
Deutschlandradio Kultur: Weshalb ist es denn nicht gelungen, dieses Verantwortungsbewusstsein der Menschen, das Sie offenbar in Bogotá geweckt haben, auf nationale Ebene zu übertragen? Sie haben bei der Stichwahl zur Präsidentschaft als Kandidat der Grünen 2010 nur ein gutes Viertel der Stimmen erhalten. Der amtierende Präsident Santos hatte mit Riesenvorsprung die Wahl gewonnen.
Antanas Mockus: Das sind zwei verschiedene Szenarien: Im städtischen Umfeld von Bogotá verhielten sich die Menschen unsensibel, egoistisch, aggressiv, sie haben den Nachbarn nicht gekannt, die anderen Autofahrer malträtiert, Fußgänger angefahren: Kurzum Bogotá war eine Stadt voller Gefühllosigkeit, mit krimineller Energie, Steuerhinterziehung, aber es handelte sich um eine Gesetzlosigkeit, die nicht aggressiv war.
Der Übeltäter in Bogotá hat nie den Charakter angenommen, den beispielsweise die Guerilleros der FARC angenommen haben.
Meinen Wahlkampf habe ich nicht gezielt gegen die Gewalttätigsten im Land gerichtet, sondern ich habe dafür gekämpft, dass sich alle Bürger von der Gewalt lösen.
Deutschlandradio Kultur: Wie kann sich denn Kolumbien von der Gewalt, von dem seit Jahrzehnten schwelenden bewaffneten Konflikt lösen? Wenn Sie zum Präsidenten gewählt worden wären, hätten Sie mit der FARC Guerilla verhandelt?
Antanas Mockus: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die FARC von sich aus den Weg zum Frieden suchen. Es herrscht allerdings der Mythos, dass die Gewalt eine Art Grundvoraussetzung ist. Das ist absurd. In einem Ehekonflikt zum Beispiel gehen die Partner doch nicht noch wilder aufeinander los, wenn sie sich versöhnen wollen.
Es wird berichtet, dass sowohl die FARC Guerilleros als auch die von ihnen entführten Personen, mich im Wahlkampf favorisiert haben.
Einige meiner Erklärungen und Taten haben den FARC Guerilleros aber offenbar nicht gefallen und ich bin sogar gemeinsam mit einigen hundert Bürgermeistern im Land bedroht worden.
Ich trug eine schusssichere Weste mit einem herzförmigen Loch, um meine Verletzbarkeit und die daraus resultierende Stärke zu demonstrieren. Außerdem wollte ich den FARC signalisieren: Statt mich zu bedrohen, solltet Ihr versuchen, mich zu überzeugen ...
Wenn jemand den Weg der Drohung und des Terrors einschlägt, dann verringert das die eigene Glaubwürdigkeit.
Seit Jahren ziehen die FARC den Terror der Liebe vor!
Ich selbst träume weniger von einem Frieden durch Verhandlungen, sondern durch uneingeschränkten gegenseitigen Respekt, vor allem durch den Respekt vor dem Leben. Lasst uns aufhören zu morden!
Deutschlandradio Kultur: Verzeihung – aber das klingt ein wenig naiv, wenn man auf die Geschichte Kolumbiens blickt, wo immer Gewalt im Spiel war: Zwischen den Liberalen und Konservativen in den 1940/50-iger Jahren. Wie lässt sich diese Spirale der Gewalt stoppen, wenn man an die Menschenrechtsverletzungen durch paramilitärische Gruppen, ja durch das Militär selbst denkt?
Antanas Mockus: Was bisher ein Ende der Gewaltspirale verhindert hat, war das alte Schema der leichten gegenseitigen Vergebung, so als ob man Rechnungen begleicht. Du hast mir Grausamkeiten zugefügt, ich Dir – dann sind wir einfach quitt!
Deutschlandradio Kultur: Was die Regierung unter Präsident Uribe mit den Paramilitärs gemacht hat?
Antanas Mockus: Nein, denn die Anführer haben Gefängnisstrafen von sieben oder acht Jahren bekommen. Das mag wenig erscheinen, und viele Opfer sind empört, aber es gab keine völlige Amnestie. Kolumbien hat damit begonnen, übergangsweise für Gerechtigkeit zu sorgen, obwohl der Bürgerkrieg noch nicht vorbei ist. Das verdient Unterstützung. Denn im Normalfall wird der Krieg beendet und nach drei, vier Jahren werden die Täter zur Rechenschaft gezogen und den Opfern wird vom Staat geholfen, sie werden entschädigt. In dieses Schema passt perfekt, dass jemand Opfer und Täter zugleich ist und einerseits bestraft, andererseits entschädigt wird.
Weltweit gibt es aber mittlerweile keine Amnestie mehr für die großen Anführer. Die Terrorchefs können aber sehr wohl mit viel Milde bedacht werden.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt für Sie sind die FARC Guerilleros Terroristen?
Antanas Mockus: Die FARC haben terroristische Methoden angewandt. Wer Soldaten zehn Jahre lang entführt, der spielt mit den Gefühlen einer ganzen Gesellschaft, wie es Terroristen tun.
In einem Punkt übertreffen die FARC alle anderen an Grausamkeit: Sie spielen mit den Familienbanden, die in Kolumbien sehr wichtig sind.
Was ist denn eine Entführung? Nichts anderes als ein Tod mit verstärkter Wirkung! Selbst wenn nur zwei oder drei Prozent der Entführten tatsächlich umgebracht werden, so haben die Familien sämtlicher Entführter stets den Tod vor Augen.
Natürlich kann man sagen: Es ist viel besser entführt als umgebracht zu werden. Die ständige Bedrohung bei einer Entführung verursacht jedoch großen Schmerz.
Am Schlimmsten ist es bei Personen, die verschwunden sind. Ich kenne Familien, die einfach nur wissen wollen, ob ihre verschollenen Angehörigen tot sind, da sie sie beerdigen wollen.
Das sind grausame Methoden. Natürlich haben die Paramilitärs Massaker verübt und fürchterliche Methoden angewandt. Das berechtigt doch die FARC nicht ihrerseits, Grausamkeiten zu verüben. Wir müssen mit dieser Logik brechen ...
Deutschlandradio Kultur: Aber wie?
Antanas Mockus: Eins habe ich verstanden: Wenn eine Gesellschaft sich eine Verfassung gibt und ein Mitglied dieser Gesellschaft dagegen verstößt, dann berechtigt das doch nicht die übrigen gegen die Abmachungen der Verfassung zu verstoßen. Wir müssen dazu kommen, dass die Verfassung respektiert wird, auch wenn die anderen sie nicht respektieren. Das war mein Versprechen gegenüber der kolumbianischen Gesellschaft, gegenüber den FARC Guerilleros und den paramilitärischen Kräften.
Deutschlandradio Kultur: Als Vorbedingung für Verhandlungen hätten Sie also verlangt, dass die auf diese Grausamkeiten verzichten?
Antanas Mockus: Ja und ich hätte dafür gesorgt, dass der Staat sich auch einseitig an die Verfassung hält.
Deutschlandradio Kultur: Dass der Staat also die Menschenrechte einhält, was bedeutet: Derzeit respektiert er sie nicht?
Antanas Mockus: Ja – leider missachten die Paramilitärs und einige Teile der Ordnungskräfte des Staates die Menschenrechte.
Ein Beispiel ist der Umgang mit Gewerkschaftsführern.
In den letzten 20 Jahren haben viele Gewerkschaftsführer ihr Leben verloren. Da war Gewalt im Spiel, das waren Verbrechen, an denen leider einige Unternehmer, Militärs und Paramilitärs beteiligt waren.
Deutschlandradio Kultur: Welche Zukunft geben Sie Kolumbien?
Antanas Mockus: Wir müssen irgendwie auf radikale Art zur Erkenntnis kommen, dass wir viel besser sein können! Wir haben gelernt mit der Gewalt zu leben und dennoch Wirtschaftswachstum zu erzielen. Deshalb können sich die Menschen gar nicht mehr vorstellen, wie das Land in Frieden leben könnte. Schließlich halten wir einen halben Krieg aus. Es herrscht eine gewisse Selbstgenügsamkeit. Wenn ich Deutscher wäre, würde ich Kolumbien einen Megapreis verleihen, wenn das Land in einem Monat Frieden schafft.
Braucht es drei Monate, würde der Preis kleiner ausfallen und wenn es erst nach einem Jahr zum Frieden käme, gäbe es nur ein Zehntel.
Das wäre eine Art Zuckerbrot. Das könnte Geld für Projekte sein oder etwas Symbolträchtiges, eine besondere Ehre wie der Vorsitz der Vereinten Nationen.
Deutschlandradio Kultur: Inwieweit ist der bewaffnete Konflikt in Kolumbien auch die Folge der sozialen Ungerechtigkeit im Land?
Antanas Mockus: Die soziale Ungerechtigkeit, die Ungleichheit, ist sehr schmerzhaft und muss bekämpft werden - unabhängig davon, ob wir uns im bewaffneten Konflikt befinden. Einen kausalen Zusammenhang herzustellen, halte ich für unverantwortlich. Der Schutz des Lebens besitzt für mich absolute Priorität und ich bin sicher, wenn ein Land wie Kolumbien das Leben seiner Bürger besser schützt, dann erzielt es auch Erfolge beim Kampf für soziale Gerechtigkeit. Die Gewalt verlangsamt die Lösung der sozialen Probleme, weil Geld in Waffen, in den Wiederaufbau fließt. Der Terrorismus ist teuer. Anfangs lautete meine Antwort auf den Terrorismus: Aufbau statt Zerstörung.
Deutschlandradio Kultur: Werden Sie, Antanas Mockus, erneut als Präsidentschaftskandidat antreten oder wird das mit Rücksicht auf Ihre Parkinsonerkrankung nicht möglich sein?
Antanas Mockus: Das ist die wohl meistgestellte Frage von Journalisten dieser Tage. Ich danke für das Mitgefühl. Das Leben gibt mir glücklicherweise Zeit, die Entscheidungen mit der nötigen Abgeklärtheit zu treffen.
Meine zahlreichen Aktivitäten beweisen eigentlich, dass es mir gelingt, mit meiner Krankheit zu leben. Sie vereinnahmt mich nicht, aber sie ist mein Begleiter. Eben hat gerade ein Wecker geklingelt, der mich an meine Tablette erinnert und die werde ich jetzt gerne einnehmen.
Deutschlandradio Kultur: Die Antwort lautet also: Sie werden sich nicht erneut in ein derart großes politisches Abenteuer stürzen!?
Antanas Mockus: Man ist Sklave seiner Worte und Herr seines Schweigens ...
Deutschlandradio Kultur: Antanas Mockus – lassen Sie uns ein wenig über die Person Antanas Mockus sprechen. Sie sind Sohn litauischer Emigranten. Sind Sie äußerlich Litauer und im Herzen Kolumbianer?
Antanas Mockus: Das sind die Wunder der Kultur. Ich gehöre mit Haut und Haaren nach Kolumbien. Bis auf zwei Jahre Studium in Frankreich, einem halben Jahr in Oxford, dreieinhalb Monate in Boston, einem Monat in Mexiko und einigen kürzeren Reisen habe ich immer in Kolumbien gelebt. Als ich siebzehn, achtzehn war und gar nicht daran dachte, dass ich eines Tages Bürgermeister werden könnte, sagte ich zu meinen Freunden: Bogotá ist nicht schön, aber ich liebe die Stadt. Wenn man mir die Augen verbinden, mich Tausende Male im Kreis drehen und dann irgendwo absetzen würde, könnte ich an der Farbe des Himmels und des Grases oder am Zustand der Strasse mit hundertprozentiger Sicherheit erkennen, ob ich in Bogotá bin.
Deutschlandradio Kultur: Es kam also für Sie nie in Frage, nach Litauen, zu den Wurzeln zurückzukehren?
Antanas Mockus: Nein - als ich 1974 während eines Aufenthaltes in Litauen mit einem Priester im Studentenheim sprach, wurde mir klar, dass ich nach Kolumbien gehörte.
Deutschlandradio Kultur: Verkleiden Sie sich noch gelegentlich als Supermann?
Antanas Mockus: Das habe ich ein paar Mal gemacht. Ich fand es aber etwas frech, dass sich neulich einer meiner Anhänger als Supermann verkleidet hat. Auf Bitten der ausländischen Presse habe ich mir neulich wieder das Kostüm übergestreift – nicht am Sonntag, wie früher, sondern an einem Montag. Als mich eine Frau im historischen Zentrum Bogotás so verkleidet sah rief sie mir zu: Bürgermeister – an die Arbeit! Als ob das zum Job gehört, mich zu verkleiden. Momentan gibt es allerdings keinen Job für den ich mich verkleiden müsste.
Deutschlandradio Kultur: Gäbe es auch keine Gelegenheit mehr, die Hose runterzulassen und den nackten Hintern zu zeigen, wie Sie das als Rektor der Universität gemacht haben, um die Aufmerksamkeit von tausend protestierenden Studenten zu bekommen?
Antanas Mockus: Jetzt verrate ich Ihnen ein Geheimnis: Ich lasse jeden Abend die Hose runter - vor meiner Frau.
Deutschlandradio Kultur: Da Sie von Ihrer Frau sprechen: Ihre Hochzeit damals war sehr besonders: Sie haben in einem Zirkus auf einem Elefanten geheiratet. Würden Sie das wieder so machen, wenn sich die Gelegenheit böte?
Antanas Mockus: Ja! Ich glaube, das war ein Akt der Freiheit, der teilweise die Nachteile einer zivilrechtlichen Eheschließung gegenüber einer kirchlichen, einer katholischen oder jüdischen Trauung ausglich. Ein Jesuitenpater und ein Rabbiner waren Trauzeugen. Den schönsten Satz sprach der Jesuitenpater aus, als er sagte, das sei keine religiöse Handlung. Das war genau die Beigabe, die diese Ehe so stark gemacht hat wie sie ist.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie drei Wünsche hätten – welche wären das?
Antanas Mockus: Bedingungslosen Respekt vor dem menschlichen Leben – Schauen wir Mal nach Mexiko. Ich schätze die Mexikaner sehr, sie besitzen viel Selbstbewusstsein und sind sensible Menschen und bringen sich in einer Weise gegenseitig um.Das ist für mich ein Widerspruch. Das ist irgendetwas schief gelaufen und ich fordere die Menschen auf, mit dem Morden aufzuhören.
Mein zweiter Wunsch wäre dasselbe übertragen auf Kolumbien: Hier herrscht eine Mischung aus extremer Gewalt und Pragmatismus. Wir Kolumbianer sind merkwürdig. Wir springen vom Hass zur Liebe und von der Liebe zum Hass mit einer Leichtigkeit.
Um etwas zu erreichen, benutzen wir Waffen oder unvorstellbare Methoden. Ich wünsche mir, dass Kolumbien gradlinig wird, das bedeutet, dass endlich der Wert des Lebens geschätzt wird. Mein dritter Wunsch ist es, die Geschichte Lateinamerikas mitformen zu können.
Deutschlandradio Kultur: Meinen Sie die Einheit Lateinamerikas zu schaffen?
Antanas Mockus: Das würde ich gerne – das ist keine leichte Aufgabe, zum einen weil wir alle Individualisten sind, zum anderen weil es uns schwer fällt einander Vertrauen zu schenken, aber die Entwicklung der Welt scheint danach zu verlangen.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben eine Europäische Union, die sich zurzeit in einer großen Krise befindet. Wie kommentieren Sie denn die Krise in Griechenland?
Antanas Mockus: Gäbe es die Europäische Union nicht, wäre die Krise noch viel schlimmer und die Ansteckungsgefahr automatisch. Griechenland hat entscheidend unsere Überlegungen zur Moral geprägt. Der Tod, das Heldentum von Sokrates sollte sich in eine Mündigkeit des heutigen Griechenlands übersetzen lassen.
2006 und 2010 trat Mockus als Kandidat für die Präsidentschaft an: 2010 unterlag der Kandidat der Grünen gegen den amtierenden Präsidenten Juan Manuel Santos.
Antanas Mockus ist heute unser Gesprächsgast in Tacheles. Am Mikrofon ist Burkhard Birke.
Deutschlandradio Kultur: Welche Rolle kann Kultur bei der sozialen Integration spielen, dort, wo die Not besonders groß ist: Etwa in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, wo Sie Bürgermeister waren?
Antanas Mockus: Der Mensch hört weitgehend auf sein Gewissen und jeder Mensch erfährt das, was Kant Mündigkeit nannte, die Fähigkeit sich selbst zu beherrschen. Natürlich wird unser Verhalten auch von der Gesetzgebung geprägt. Justiz und Polizei wachen über die Einhaltung der Gesetze; die Angst vor Strafe: All das beeinflusst unser Verhalten.
Das Entscheidende ist vielleicht aber das Verhalten der anderen: Das Beispiel, das die anderen geben oder der Druck den Sie ausüben, damit man selbst so handelt wie sie.
Deutschlandradio Kultur: In diesem Sinne haben Sie selbst viele Beispiele gegeben. So haben Sie sich in einem Werbespot unter der Dusche filmen lassen. Dabei haben Sie das Wasser abgedreht, als Sie sich eingeseift haben, um ein Beispiel zu geben, wie Wasser gespart werden kann. Sprechen Sie von dieser Art des beispielhaften Verhaltens?
Antanas Mockus: Ja. Geholfen hat auch, dass das Fernsehen einen Bericht über die Fortschritte beim Wassersparen ausgestrahlt hat. Als die Leute dann im Fernsehen und Radio gehört haben, dass Wasser gespart werden soll, haben Sie Schuldgefühle bekommen und sich die Frage gestellt: Warum spare ich eigentlich nicht beim Wasser, wenn auch andere in guter Absicht sich bemühen, Wasser zu sparen? Wer nicht mitgemacht hat, hat sich schlecht gefühlt und wer mitgemacht hat, hat sich gut gefühlt.
Wir sehen unsere Nächsten nicht als mündig, als Bürger mit Moral an.
Wir glauben, unsere Mitmenschen reagieren nur auf Gewalt und nicht freiwillig.
Ich nehme Mal das Bild vom Zuckerbrot und der Peitsche: Wir beanspruchen für uns das Zuckerbrot, fordern für unsere Mitmenschen aber die Peitsche. Für mich Zuckerbrot – für die anderen die Peitsche!
Deutschlandradio Kultur: Wie kann man denn mit dieser Mentalität brechen, vor allem in einem Land wie Kolumbien, wo es viel Korruption und Bestechung gibt? Wie kann man erreichen, dass – wie Sie es als Bürgermeister von Bogotá geschafft haben - die Leute mehr Steuern oder überhaupt Steuern bezahlen?
Antanas Mockus: Man muss optimistisch bleiben, was die Lernfähigkeit der Menschen anbetrifft, selbst wenn vieles dagegen spricht. Man wird nicht als mündiger Bürger geboren, man wird erst dazu. Und der Prozess ist ähnlich wie beim Erlernen der Sprache.
Wenn ein Elternpaar extrem pragmatisch wäre, dann würden sie doch sagen: Unser Sohn, unsere Tochter spricht noch nicht, weshalb sollten wir also zu unserem Kind sprechen? Wir reden nicht mit dem Kind, denn es kann uns nicht verstehen. Wir schweigen einfach. Wenn eine Mutter und ein Vater sich so verhielten, würde ein Baby nie sprechen lernen.
Deshalb muss man einfach an die Lernfähigkeit der Menschen glauben, und zwar nicht nur in der Theorie, sondern in der Praxis. Im realen Leben müssen wir mit den Jugendlichen, den Mädchen und Jungs wie mit mündigen Personen sprechen und ihre Reaktion als die von mündigen Bürgern ansehen.
Deutschlandradio Kultur: Das klingt sehr philosophisch, man könnte auch von Alltagsphilosophie sprechen. Geben Sie uns doch ein paar konkrete Beispiele, was Sie als Bürgermeister von Bogotá unternommen haben, um das Verhalten der Menschen zu verändern!
Als Erstes haben wir die Vetternwirtschaft abgestellt. Wenn also jemand mit einem Empfehlungsschreiben zu einem Stadtrat kam und ihn um den Gefallen bat, für einen schnelleren Rentenbescheid zu sorgen, dann haben wir das abgelehnt. Dieses Schreiben brauchen Sie nicht mehr: Alle Pensionen werden binnen drei Wochen berechnet und ausgezahlt, keiner wird bevorzugt, alle besitzen das gleiche Recht, die Rente umgehend ausgezahlt zu bekommen.
Zu jedem Sylvestertag verbrannten sich circa 200 Kinder an Feuerwerkskörpern. Durch Vorkehrung und Warnhinweise haben wir die Zahl um 50 verringert.
Im ersten Jahr meiner Amtszeit haben wir Karten an die Autofahrer ausgeteilt: Die eine Seite dieser Karten war rot und der Daumen zeigte nach unten, die andere war weiß und der Daumen zeigte nach oben.
Viele Autofahrer nutzten diese, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen: Wenn sich jemand über die Fahrweise eines anderen geärgert hatte, zeigte er ihm die rote Karte, andere nutzten auch die weiße.
Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, die gezeigt hat: Auf sieben rote kamen drei weiße Karten!
Das Prinzip war klar: Ich verhalte mich korrekt, also zeigt mir die weiße Karte, die anderen muss man jedoch zur Ordnung rufen – denen müssen wir die rote Karte zeigen.
Außerdem haben wir in einem kleinen Bereich von 300 Quadratmetern die Verkehrspolizei durch Schauspieler ersetzt, die als Pantomimen mit Witz dafür sorgten, dass die Fußgänger wirklich bei grün über den Zebrastreifen gehen konnten und die Autos an ihrer roten Ampel tatsächlich stehen blieben.
Deutschlandradio Kultur: Diese Initiativen scheinen gefruchtet zu haben: Die Bürger von Bogotá, die zu Beginn Ihrer ersten Amtszeit mehrheitlich die Stadt nicht mochten, hatten später ein positives Bild von ihrer Stadt. Ist das immer noch so?
Antanas Mockus: Die letzten 18 Monate waren sehr schmerzvoll. Der Bürgermeister Samuel Moreno Rojas wurde der Korruption beschuldigt und musste vom Amt zurücktreten. Bis vor eineinhalb Jahren liefen die Dinge jedoch gut: Die Leute, die akzeptiert hatten, mehr Steuern zu zahlen, hatten weiter gezahlt. Stellen Sie sich einmal vor 63.000 Familien hatten freiwillig 10 Prozent mehr Grundsteuern entrichtet!
Deutschlandradio Kultur: Weshalb ist es denn nicht gelungen, dieses Verantwortungsbewusstsein der Menschen, das Sie offenbar in Bogotá geweckt haben, auf nationale Ebene zu übertragen? Sie haben bei der Stichwahl zur Präsidentschaft als Kandidat der Grünen 2010 nur ein gutes Viertel der Stimmen erhalten. Der amtierende Präsident Santos hatte mit Riesenvorsprung die Wahl gewonnen.
Antanas Mockus: Das sind zwei verschiedene Szenarien: Im städtischen Umfeld von Bogotá verhielten sich die Menschen unsensibel, egoistisch, aggressiv, sie haben den Nachbarn nicht gekannt, die anderen Autofahrer malträtiert, Fußgänger angefahren: Kurzum Bogotá war eine Stadt voller Gefühllosigkeit, mit krimineller Energie, Steuerhinterziehung, aber es handelte sich um eine Gesetzlosigkeit, die nicht aggressiv war.
Der Übeltäter in Bogotá hat nie den Charakter angenommen, den beispielsweise die Guerilleros der FARC angenommen haben.
Meinen Wahlkampf habe ich nicht gezielt gegen die Gewalttätigsten im Land gerichtet, sondern ich habe dafür gekämpft, dass sich alle Bürger von der Gewalt lösen.
Deutschlandradio Kultur: Wie kann sich denn Kolumbien von der Gewalt, von dem seit Jahrzehnten schwelenden bewaffneten Konflikt lösen? Wenn Sie zum Präsidenten gewählt worden wären, hätten Sie mit der FARC Guerilla verhandelt?
Antanas Mockus: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die FARC von sich aus den Weg zum Frieden suchen. Es herrscht allerdings der Mythos, dass die Gewalt eine Art Grundvoraussetzung ist. Das ist absurd. In einem Ehekonflikt zum Beispiel gehen die Partner doch nicht noch wilder aufeinander los, wenn sie sich versöhnen wollen.
Es wird berichtet, dass sowohl die FARC Guerilleros als auch die von ihnen entführten Personen, mich im Wahlkampf favorisiert haben.
Einige meiner Erklärungen und Taten haben den FARC Guerilleros aber offenbar nicht gefallen und ich bin sogar gemeinsam mit einigen hundert Bürgermeistern im Land bedroht worden.
Ich trug eine schusssichere Weste mit einem herzförmigen Loch, um meine Verletzbarkeit und die daraus resultierende Stärke zu demonstrieren. Außerdem wollte ich den FARC signalisieren: Statt mich zu bedrohen, solltet Ihr versuchen, mich zu überzeugen ...
Wenn jemand den Weg der Drohung und des Terrors einschlägt, dann verringert das die eigene Glaubwürdigkeit.
Seit Jahren ziehen die FARC den Terror der Liebe vor!
Ich selbst träume weniger von einem Frieden durch Verhandlungen, sondern durch uneingeschränkten gegenseitigen Respekt, vor allem durch den Respekt vor dem Leben. Lasst uns aufhören zu morden!
Deutschlandradio Kultur: Verzeihung – aber das klingt ein wenig naiv, wenn man auf die Geschichte Kolumbiens blickt, wo immer Gewalt im Spiel war: Zwischen den Liberalen und Konservativen in den 1940/50-iger Jahren. Wie lässt sich diese Spirale der Gewalt stoppen, wenn man an die Menschenrechtsverletzungen durch paramilitärische Gruppen, ja durch das Militär selbst denkt?
Antanas Mockus: Was bisher ein Ende der Gewaltspirale verhindert hat, war das alte Schema der leichten gegenseitigen Vergebung, so als ob man Rechnungen begleicht. Du hast mir Grausamkeiten zugefügt, ich Dir – dann sind wir einfach quitt!
Deutschlandradio Kultur: Was die Regierung unter Präsident Uribe mit den Paramilitärs gemacht hat?
Antanas Mockus: Nein, denn die Anführer haben Gefängnisstrafen von sieben oder acht Jahren bekommen. Das mag wenig erscheinen, und viele Opfer sind empört, aber es gab keine völlige Amnestie. Kolumbien hat damit begonnen, übergangsweise für Gerechtigkeit zu sorgen, obwohl der Bürgerkrieg noch nicht vorbei ist. Das verdient Unterstützung. Denn im Normalfall wird der Krieg beendet und nach drei, vier Jahren werden die Täter zur Rechenschaft gezogen und den Opfern wird vom Staat geholfen, sie werden entschädigt. In dieses Schema passt perfekt, dass jemand Opfer und Täter zugleich ist und einerseits bestraft, andererseits entschädigt wird.
Weltweit gibt es aber mittlerweile keine Amnestie mehr für die großen Anführer. Die Terrorchefs können aber sehr wohl mit viel Milde bedacht werden.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt für Sie sind die FARC Guerilleros Terroristen?
Antanas Mockus: Die FARC haben terroristische Methoden angewandt. Wer Soldaten zehn Jahre lang entführt, der spielt mit den Gefühlen einer ganzen Gesellschaft, wie es Terroristen tun.
In einem Punkt übertreffen die FARC alle anderen an Grausamkeit: Sie spielen mit den Familienbanden, die in Kolumbien sehr wichtig sind.
Was ist denn eine Entführung? Nichts anderes als ein Tod mit verstärkter Wirkung! Selbst wenn nur zwei oder drei Prozent der Entführten tatsächlich umgebracht werden, so haben die Familien sämtlicher Entführter stets den Tod vor Augen.
Natürlich kann man sagen: Es ist viel besser entführt als umgebracht zu werden. Die ständige Bedrohung bei einer Entführung verursacht jedoch großen Schmerz.
Am Schlimmsten ist es bei Personen, die verschwunden sind. Ich kenne Familien, die einfach nur wissen wollen, ob ihre verschollenen Angehörigen tot sind, da sie sie beerdigen wollen.
Das sind grausame Methoden. Natürlich haben die Paramilitärs Massaker verübt und fürchterliche Methoden angewandt. Das berechtigt doch die FARC nicht ihrerseits, Grausamkeiten zu verüben. Wir müssen mit dieser Logik brechen ...
Deutschlandradio Kultur: Aber wie?
Antanas Mockus: Eins habe ich verstanden: Wenn eine Gesellschaft sich eine Verfassung gibt und ein Mitglied dieser Gesellschaft dagegen verstößt, dann berechtigt das doch nicht die übrigen gegen die Abmachungen der Verfassung zu verstoßen. Wir müssen dazu kommen, dass die Verfassung respektiert wird, auch wenn die anderen sie nicht respektieren. Das war mein Versprechen gegenüber der kolumbianischen Gesellschaft, gegenüber den FARC Guerilleros und den paramilitärischen Kräften.
Deutschlandradio Kultur: Als Vorbedingung für Verhandlungen hätten Sie also verlangt, dass die auf diese Grausamkeiten verzichten?
Antanas Mockus: Ja und ich hätte dafür gesorgt, dass der Staat sich auch einseitig an die Verfassung hält.
Deutschlandradio Kultur: Dass der Staat also die Menschenrechte einhält, was bedeutet: Derzeit respektiert er sie nicht?
Antanas Mockus: Ja – leider missachten die Paramilitärs und einige Teile der Ordnungskräfte des Staates die Menschenrechte.
Ein Beispiel ist der Umgang mit Gewerkschaftsführern.
In den letzten 20 Jahren haben viele Gewerkschaftsführer ihr Leben verloren. Da war Gewalt im Spiel, das waren Verbrechen, an denen leider einige Unternehmer, Militärs und Paramilitärs beteiligt waren.
Deutschlandradio Kultur: Welche Zukunft geben Sie Kolumbien?
Antanas Mockus: Wir müssen irgendwie auf radikale Art zur Erkenntnis kommen, dass wir viel besser sein können! Wir haben gelernt mit der Gewalt zu leben und dennoch Wirtschaftswachstum zu erzielen. Deshalb können sich die Menschen gar nicht mehr vorstellen, wie das Land in Frieden leben könnte. Schließlich halten wir einen halben Krieg aus. Es herrscht eine gewisse Selbstgenügsamkeit. Wenn ich Deutscher wäre, würde ich Kolumbien einen Megapreis verleihen, wenn das Land in einem Monat Frieden schafft.
Braucht es drei Monate, würde der Preis kleiner ausfallen und wenn es erst nach einem Jahr zum Frieden käme, gäbe es nur ein Zehntel.
Das wäre eine Art Zuckerbrot. Das könnte Geld für Projekte sein oder etwas Symbolträchtiges, eine besondere Ehre wie der Vorsitz der Vereinten Nationen.
Deutschlandradio Kultur: Inwieweit ist der bewaffnete Konflikt in Kolumbien auch die Folge der sozialen Ungerechtigkeit im Land?
Antanas Mockus: Die soziale Ungerechtigkeit, die Ungleichheit, ist sehr schmerzhaft und muss bekämpft werden - unabhängig davon, ob wir uns im bewaffneten Konflikt befinden. Einen kausalen Zusammenhang herzustellen, halte ich für unverantwortlich. Der Schutz des Lebens besitzt für mich absolute Priorität und ich bin sicher, wenn ein Land wie Kolumbien das Leben seiner Bürger besser schützt, dann erzielt es auch Erfolge beim Kampf für soziale Gerechtigkeit. Die Gewalt verlangsamt die Lösung der sozialen Probleme, weil Geld in Waffen, in den Wiederaufbau fließt. Der Terrorismus ist teuer. Anfangs lautete meine Antwort auf den Terrorismus: Aufbau statt Zerstörung.
Deutschlandradio Kultur: Werden Sie, Antanas Mockus, erneut als Präsidentschaftskandidat antreten oder wird das mit Rücksicht auf Ihre Parkinsonerkrankung nicht möglich sein?
Antanas Mockus: Das ist die wohl meistgestellte Frage von Journalisten dieser Tage. Ich danke für das Mitgefühl. Das Leben gibt mir glücklicherweise Zeit, die Entscheidungen mit der nötigen Abgeklärtheit zu treffen.
Meine zahlreichen Aktivitäten beweisen eigentlich, dass es mir gelingt, mit meiner Krankheit zu leben. Sie vereinnahmt mich nicht, aber sie ist mein Begleiter. Eben hat gerade ein Wecker geklingelt, der mich an meine Tablette erinnert und die werde ich jetzt gerne einnehmen.
Deutschlandradio Kultur: Die Antwort lautet also: Sie werden sich nicht erneut in ein derart großes politisches Abenteuer stürzen!?
Antanas Mockus: Man ist Sklave seiner Worte und Herr seines Schweigens ...
Deutschlandradio Kultur: Antanas Mockus – lassen Sie uns ein wenig über die Person Antanas Mockus sprechen. Sie sind Sohn litauischer Emigranten. Sind Sie äußerlich Litauer und im Herzen Kolumbianer?
Antanas Mockus: Das sind die Wunder der Kultur. Ich gehöre mit Haut und Haaren nach Kolumbien. Bis auf zwei Jahre Studium in Frankreich, einem halben Jahr in Oxford, dreieinhalb Monate in Boston, einem Monat in Mexiko und einigen kürzeren Reisen habe ich immer in Kolumbien gelebt. Als ich siebzehn, achtzehn war und gar nicht daran dachte, dass ich eines Tages Bürgermeister werden könnte, sagte ich zu meinen Freunden: Bogotá ist nicht schön, aber ich liebe die Stadt. Wenn man mir die Augen verbinden, mich Tausende Male im Kreis drehen und dann irgendwo absetzen würde, könnte ich an der Farbe des Himmels und des Grases oder am Zustand der Strasse mit hundertprozentiger Sicherheit erkennen, ob ich in Bogotá bin.
Deutschlandradio Kultur: Es kam also für Sie nie in Frage, nach Litauen, zu den Wurzeln zurückzukehren?
Antanas Mockus: Nein - als ich 1974 während eines Aufenthaltes in Litauen mit einem Priester im Studentenheim sprach, wurde mir klar, dass ich nach Kolumbien gehörte.
Deutschlandradio Kultur: Verkleiden Sie sich noch gelegentlich als Supermann?
Antanas Mockus: Das habe ich ein paar Mal gemacht. Ich fand es aber etwas frech, dass sich neulich einer meiner Anhänger als Supermann verkleidet hat. Auf Bitten der ausländischen Presse habe ich mir neulich wieder das Kostüm übergestreift – nicht am Sonntag, wie früher, sondern an einem Montag. Als mich eine Frau im historischen Zentrum Bogotás so verkleidet sah rief sie mir zu: Bürgermeister – an die Arbeit! Als ob das zum Job gehört, mich zu verkleiden. Momentan gibt es allerdings keinen Job für den ich mich verkleiden müsste.
Deutschlandradio Kultur: Gäbe es auch keine Gelegenheit mehr, die Hose runterzulassen und den nackten Hintern zu zeigen, wie Sie das als Rektor der Universität gemacht haben, um die Aufmerksamkeit von tausend protestierenden Studenten zu bekommen?
Antanas Mockus: Jetzt verrate ich Ihnen ein Geheimnis: Ich lasse jeden Abend die Hose runter - vor meiner Frau.
Deutschlandradio Kultur: Da Sie von Ihrer Frau sprechen: Ihre Hochzeit damals war sehr besonders: Sie haben in einem Zirkus auf einem Elefanten geheiratet. Würden Sie das wieder so machen, wenn sich die Gelegenheit böte?
Antanas Mockus: Ja! Ich glaube, das war ein Akt der Freiheit, der teilweise die Nachteile einer zivilrechtlichen Eheschließung gegenüber einer kirchlichen, einer katholischen oder jüdischen Trauung ausglich. Ein Jesuitenpater und ein Rabbiner waren Trauzeugen. Den schönsten Satz sprach der Jesuitenpater aus, als er sagte, das sei keine religiöse Handlung. Das war genau die Beigabe, die diese Ehe so stark gemacht hat wie sie ist.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie drei Wünsche hätten – welche wären das?
Antanas Mockus: Bedingungslosen Respekt vor dem menschlichen Leben – Schauen wir Mal nach Mexiko. Ich schätze die Mexikaner sehr, sie besitzen viel Selbstbewusstsein und sind sensible Menschen und bringen sich in einer Weise gegenseitig um.Das ist für mich ein Widerspruch. Das ist irgendetwas schief gelaufen und ich fordere die Menschen auf, mit dem Morden aufzuhören.
Mein zweiter Wunsch wäre dasselbe übertragen auf Kolumbien: Hier herrscht eine Mischung aus extremer Gewalt und Pragmatismus. Wir Kolumbianer sind merkwürdig. Wir springen vom Hass zur Liebe und von der Liebe zum Hass mit einer Leichtigkeit.
Um etwas zu erreichen, benutzen wir Waffen oder unvorstellbare Methoden. Ich wünsche mir, dass Kolumbien gradlinig wird, das bedeutet, dass endlich der Wert des Lebens geschätzt wird. Mein dritter Wunsch ist es, die Geschichte Lateinamerikas mitformen zu können.
Deutschlandradio Kultur: Meinen Sie die Einheit Lateinamerikas zu schaffen?
Antanas Mockus: Das würde ich gerne – das ist keine leichte Aufgabe, zum einen weil wir alle Individualisten sind, zum anderen weil es uns schwer fällt einander Vertrauen zu schenken, aber die Entwicklung der Welt scheint danach zu verlangen.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben eine Europäische Union, die sich zurzeit in einer großen Krise befindet. Wie kommentieren Sie denn die Krise in Griechenland?
Antanas Mockus: Gäbe es die Europäische Union nicht, wäre die Krise noch viel schlimmer und die Ansteckungsgefahr automatisch. Griechenland hat entscheidend unsere Überlegungen zur Moral geprägt. Der Tod, das Heldentum von Sokrates sollte sich in eine Mündigkeit des heutigen Griechenlands übersetzen lassen.