Das Wissen der Vorfahren nutzen
Wie Ecuador hat auch Bolivien das "Buen Vivir" in die Verfassung aufgenommen - ein Konzept, das von der Lebensphilosophie der indigenen Völker inspiriert ist. Aber einklagbar ist das Recht auf ein gutes Leben in keinem der beiden Länder.
Etwa 70 Kilometer von Boliviens Hauptstadt La Paz entfernt und 4000 Meter über dem Meeresspiegel in der kargen Hochebene des Altiplano befinden sich die Ruinen von Tiwanaku. Es ist trocken, staubig und still. Die Erde schimmert rötlich, so wie die Steine, aus denen die Ruinen erbaut sind. Gesichter von Gottheiten schauen von den Steinwänden herab.
Tiwanaku war das spirituelle Zentrum der Prä-Inka-Kulturen rund um den Titicaca-See. Die andine Hochkultur Tiwanaku gilt auch als Ursprung der Aymara, einem der größten indigenen Völker Lateinamerikas. Heute leben die Aymara im Andenraum auf dem Altiplano in Bolivien, im Süden Perus und im Norden Chiles.
Die tiefe Sehnsucht nach dem Leben
Fernando Huanacuni Mamani gehört zum Volk der Aymara. Er ist 52 Jahre alt und erforscht die "cosmovisión ancestral", die Weltanschauung der indigenen Völker.
"Wir kehren zu Tiwanaku zurück, zur Erinnerung der Vorfahren. Wir glauben, dass das Leben zyklisch ist. Was Tiwanaku vor tausenden Jahren geschaffen hat, ist zurückgekehrt. Die Cosmovisión Ancestral ist die tiefe Sehnsucht nach dem Leben. Die Moderne ist nicht natürlich, sie ist unnatürlich. Der Mensch ist kein Einzelgänger, Individualist, Konkurrent, Raubtier. Die Essenz des Menschen ist die Harmonie und das Gleichgewicht. Individualismus und Moderne haben die natürliche Harmonie des Menschen zerstört. Deshalb ist die Cosmovisión Ancestral eine Antwort auf die Lebenskrise, in der wir uns befinden."
Fernando Huanacuni arbeitete lange als Botschafter der Aymara in der bolivianischen Regierung, bis September 2018 war er bolivianischer Außenminister. Er hat schon mehrere Bücher über das "Gute Leben" geschrieben. Auf Aymara heißt das Konzept "Suma Qamaña".
"Das Vivir Bien oder Buen Vivir ist kein inneres Glücksgefühl. Es heißt auch nicht, mehr Geld zu haben, konsumieren und mehr zu haben. Das führt dazu, dass der Mensch zu einer Konsummaschine wird. Es ist eine Wegwerfkultur entstanden, die auch die sozialen Beziehungen durchdrungen hat. Auch Freundschaften und Ehen sind heute zum Wegwerfen. Für uns bedeutet das "Gute Leben" in Harmonie und Gleichgewicht zu leben. Das ist nicht gleichzusetzen mit Glücklichsein. Glücklichsein ist ein westliches Konzept, ein inneres, individuelles Glück. Für uns heißt gut zu leben, die Mutter Erde zu beschützen. Wir wollen gut leben, die Mutter Erde und das Leben beschützen, einen Sinn in unserem Leben haben."
In Bolivien stellen die indigenen Völker die Mehrheit der Bevölkerung. Etwa 60 Prozent der Bevölkerung sind Indigene, vorwiegend Quechua und Aymara, insgesamt existieren 36 indigene Völker im Land. Der Anteil der weißen Bevölkerung liegt lediglich bei circa 15 Prozent. Mit Evo Morales wurde 2005 zum ersten Mal in der Geschichte Boliviens ein Vertreter der indigenen Völker zum Präsidenten gewählt.
Ein Gesetz zum Schutz der Erde
Das westliche Entwicklungsparadigma, das auf Wirtschaftswachstum, Fortschritt und der Ausbeutung der Natur basiert, habe zu einer ökologischen Krise geführt, die überall auf der Welt zu spüren sei.
"Erstens ist da der Klimawandel, der sowohl in Berlin, als auch in Santiago und in La Paz präsent ist. Zweitens die Wasserknappheit. Es sollte eine Straftat sein, Wasser zu kommerzialisieren. Drittens: die ausgelaugt Erde. Die Monokulturen haben der Mutter Erde geschadet. Mit Grundnahrungsmitteln darf nicht spekuliert werden. Wir müssen wieder gesundes Saatgut herstellen."
Eine wichtige Rolle spielt in Bolivien die "Pachamama", die Mutter Erde. 2009 wurde eine neue Verfassung in Bolivien verabschiedet, im Dezember 2010 wurde das "Gesetz zum Schutz der Erde" erlassen. Das Gesetz beruft sich auf die universelle Erklärung der Rechte der Mutter Erde, die während des alternativen Klimagipfels in Cochabamba verabschiedet worden ist.
Der Verfassungsrang garantiert jedoch nicht die Umsetzung des "Vivir Bien" und des Schutzes der Natur. Die bolivianische Wirtschaft basiert weiterhin auf dem Abbau und Export von natürlichen Ressourcen, wie zum Beispiel Erdöl, Erdgas und Lithium. Die Erlöse aus dem Rohstoffexport werden zwar anders als vorher stärker vom Staat vereinnahmt und zur Finanzierung einer aktiven Sozialpolitik eingesetzt. Aber die Abhängigkeit von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen bleibt bestehen.
Ein wichtiges Ziel des "Guten Lebens", "Suma Qamaña" auf der Sprache der Aymara, ist deshalb auf lange Sicht der Umbau der kapitalistischen Wirtschaft, die Natur und Menschen ausbeutet, zu einer solidarischen Wirtschaft, die auf dem respektvollen Umgang mit der Natur basiert und Reichtum gleich verteilt.
"Wir sprechen von einer gemeinschaftlichen Wirtschaft. Unsere Vorfahren haben das vorgelebt. Die Wirtschaft war von und für alle, nicht für eine bestimmte Gruppe. Das ist die Philosophie des Suma Qamaña."
Rückkehr zu den Ursprüngen
Willka Machaca ist Mitglied des "Consejo de Amautas Indigenas del Tawantinsuyu", ein Rat der Weisen der indigenen Völker in Tawantinsuyu, der alte Name des Inkareiches. Er hat weiße lange Haare und trägt ein "Chakana" um den Hals, das Andenkreuz, das seinen Ursprung in Tiwanaku hat. Es symbolisiert das Gleichgewicht. Der Rat der Weisen besteht seit etwa 30 Jahren und war am Verfassungsprozess in Bolivien beteiligt. Die Wahl von Evo Morales zum Präsidenten habe den indigenen Völkern Boliviens ihre Würde zurückgegeben, sagt er.
Jedes Jahr im Juni wird in La Paz das religiöse Fest "La Fiesta del Gran Poder" gefeiert. Tausende Menschen laufen tagelang trommelnd und tanzend in bunten Gewändern durch die Straßen der Hauptstadt. Offiziell richtet sich die Feier an Jesus, aber sie steht auch für die Vermischung der Riten und Traditionen der Aymara mit dem katholischen Glauben.
"Wir haben die Bedeutung der Pachamama, der Mutter Erde, zurückgewonnen, die Bedeutung der Zeremonien und Opfergaben. Am Anfang waren wir zehn Personen, die angefangen haben das neue Jahr der Aymara zu feiern, jetzt wird in ganz Bolivien das andin-amazonische Neujahrsfest gefeiert und Evo Morales hat es als nationalen Feiertag erklärt. Bald wird die ganze Welt über das Suma Qamaña nachdenken."
Mariela Machicado ist Mitglied der "Comunidad Sariri" in La Paz in Bolivien. Auch sie gehört zum Volk der Aymara. In der urbanen indigenen Gemeinschaft versucht sie die das Prinzip des "Guten Lebens" in der Stadt in die Praxis umzusetzen.
"Die Comunidad Sariri ist eine urbane Gemeinschaft. Ihr Horizont ist die Wiederherstellung der Prinzipien, des Wissens und der Werte unserer Vorfahren. Ich glaube, es ist für alle offensichtlich, dass die Gesellschaft an einem Endpunkt des vorherrschenden Paradigmas angelangt ist. Es führt zu Ungleichgewicht. Wir glauben, dass die Weisheit unserer Vorfahren uns in dieser Zeit von Nutzen sein kann. Deswegen will die Gemeinschaft die Weisheit an die neuen Generationen weitergeben."
"Der Wandel ist da"
Die Weltansicht der indigenen Völker und die Zeit des Wandels seien nicht nur auf Lateinamerika beschränkt. Überall auf der Welt habe es indigene Völker gegeben, die im Einklang mit der Natur gelebt haben, sagt Mariela Machicado.
"Wir leben in Zeiten des Wandels. Der Wandel ist da, nicht nur in unseren Ländern, sondern auf der ganzen Welt. Ich glaube, dass es die Verantwortung aller Generationen ist, von dem Ort, an dem wir sind und mit den Mitteln, die wir haben, an diesem Wandel teilzunehmen, den die Menschheit braucht."
Das "Vivir Bien" ist ein Versuch, die koloniale Vergangenheit und die Ausbeutung der Natur zu überwinden, die die bolivianische und lateinamerikanische Geschichte geprägt haben. Aber die Umsetzung des Konzepts auf politischer und wirtschaftlicher Ebene ist ein langer Prozess, der gerade erst begonnen hat.