Bollwerk des Bürgertums

Rezensiert von Christoph Keese |
Bürgerlich ist spießig - diesem Image versucht Hans-Olaf Henkel in seinem neu erschienen Buch "Der Kampf um die Mitte" entgegenzutreten. Er plädiert für Tugenden wie Fleiß, Erfindungsgeist und Solidarität.
Hans-Olaf Henkel ist ein Ritter der Freiheit. Seit Jahrzehnten kämpft er für die richtige Sache: als IBM-Manager, als BDI-Verbandschef, als Buchautor, als Redner, als Gast in Talkshows. Deutschland ist wohlhabend geworden durch Fleiß, Erfindungsgeist, Tatkraft, Wagemut, Risikobereitschaft, Solidarität und Freiheit. Freiheit für Arbeit, für Kapital, Ideen und Forschung. Diesen Tugenden verdanken wir unsere 40 Millionen Arbeitsplätze, den Erfolg auf internationalen Märkten und den größten Massenwohlstand in der Geschichte. Mit dem Erfolg aber kommt die Bequemlichkeit.
"Die Deutschen kranken an ihrem Selbstwiderspruch, und zugleich sind sie süchtig gemacht worden. Denn im selben Maß, wie der Staat die individuelle Freiheit und Selbstverantwortung abgebaut hat, bot er sich den Menschen als Freiheitsersatz an. Mit der Abhängigkeit des Einzelnen von staatlichen Leistungen wuchs die Sucht nach mehr. Dabei ist noch keinem der Gedanke gekommen, dass dies ein krankhafter Zustand ist."

Henkel ist ein unbequemer Mahner, der daran erinnert, dass wir alles verlieren, wenn wir uns vergessen. Recht hat er. Unser Wohlstand beruht auf unserer Kultur. Wenn wir sie nicht pflegen, fallen wir im internationalen Wettbewerb zurück. Die Antwort darauf kann nicht sein, dass wir uns dem Wettbewerb entziehen. Von offenen Grenzen profitieren wir selbst am meisten. Wir müssen die Kultur pflegen, die uns reich gemacht hat.

Henkel hat ein neues Buch geschrieben, ein leidenschaftliches Plädoyer für das Bürgertum und bürgerliche Tugenden. "Der Kampf um die Mitte" heißt es. Er versteht es als Fortsetzung seiner früheren Bücher wie "Die Macht der Freiheit" und "Die Ethik des Erfolgs". Auf fast 400 Seiten betreibt er gründlich und ausführlich die Ehrenrettung des Bürgers, der seit den sechziger Jahren gern als Spießer verschrien wird. Genau das ist er aber nicht. Er ist kein Spießer, kein Untertan, kein willenloser Befehlsempfänger, kein Rädchen im Getriebe, kein verklemmter Duckmäuser, nein, ganz im Gegenteil: Bürger sind Kulturträger. Sie sind die Garanten jener Kultur und Tugenden, die Deutschland erfolgreich und liebenswert machen.

In alten Republiken wie Rom, Hamburg oder Lübeck war Bürger ein Ehrentitel, der Neid auf sich zog. Für Einwanderer, Sklaven und Außenseiter gab es keinen größeren Traum, als eines Tages Bürger zu werden. Wie konnte dieser Ehrentitel zum Schimpfwort werden?
"Wer sich heute an einem 'Lob des Bürgertums' versuchte, würde bei uns Politikern vermutlich Ratlosigkeit, bei unserer Intelligenzschicht mitleidiges Lächeln auslösen. Ratlosigkeit, weil allein schon der Begriff 'Bürgertum' etwas Antiquiertes hat, mit dem man Wähler abschreckt; mitleidiges Lächeln, weil es sich dabei um einen überwundenen Standpunkt handelt, den die Moderne auf den Schrotthaufen der Geschichte geworfen hat."

Henkel zeichnet die Kulturgeschichte einer Entwürdigung nach. Von der Französischen Revolution über Karl Marx bis zu den Studentenrevolten legte die Linke es darauf an, das Bürgertum zu zerstören. Eine mächtige Tiefenströmung der europäischen Geschichte mündet in der Gegenwart. Noch immer spült sie Sedimente an, die sich wie Schlick im gemeinschaftlichen Bewusstsein ablagern. Darin gräbt Henkel.

In jüngerer Vergangenheit gab es mehrere Bücher, die ähnliches vorhatten. Henkel ist nicht der erste, der das Bürgertum verteidigt. Wahrscheinlich braucht es noch ein Dutzend weiterer Bücher, bis die vernünftige Idee eine breite Masse wirklich erreicht hat - zumal Henkel einen sehr persönlichen Zugang zum Thema wählt.
"Schluss mit weltfremden Ideologien, suchterzeugenden Verteilungsstrategien, der chronischen deutschen Zwietracht. Stattdessen: Rückkehr zur Vernunft, die unser gesellschaftliches Handeln in die Perspektive des Globalzusammenhangs stellt. Ludwig Erhard, so meine ich, hat uns dazu den goldenen Mittelweg gewiesen."

Den düsteren, manchmal bitteren, zuweilen rechthaberischen Ton muss man mögen. Lässt man sich auf ihn ein, wird man in Henkels Buch mit einer intelligenten, faktenreichen und vielschichtigen Analyse des Bürgertums und seiner Feinde belohnt.

Was Henkel lesenswert macht, ist sein gewandter Umgang mit Sprache. Für einen ehemaligen Manager und Verbandschef schreibt er erstaunlich gut und flüssig. Er verdunkelt vielleicht die Stimmung des Lesers, niemals aber langweilt er ihn. Die hohe Erlebnis- und Faktendichte verschafft genug Lesefrüchte pro Buchseite, dass sich die Lektüre lohnt. Übrigens bringt Henkels Hang zur Farbe Schwarz zuweilen auch schwarzen Humor mit sich. Das Buch unterhält an vielen Stellen ganz vorzüglich, besonders dann, wenn Henkel sich selbst ironisiert.

Am besten wird das in einer Passage gleich am Anfang klar. Zum Abschied seiner Amtszeit als Präsident der Leibniz-Gemeinschaft machten die Wissenschaftler ihm ein besonderes Geschenk. Sie benannten eine indonesische Schmetterlingsart nach ihm, die deutsche Forscher entdeckt hatten. Der exotische Nachtfalter heißt jetzt offiziell "Bracca olafhenkeli". Seine Flügel sind wie ein Leopardenfell gezeichnet - und er ist giftig. Ein eleganter, exotischer, giftiger Schmetterling im Leopardenlook namens Olaf Henkel - wenn man sich diese Charakterisierung ausgedacht hätte, wäre Henkel einem bis ans Ende seiner Tage gram. Aber man muss es sich nicht ausdenken, Henkel schreibt es ja selber in seinem glänzenden Buch.

Henkel, Hans-Olaf: Der Kampf um die Mitte.
Mein Bekenntnis zum Bürgertum

Droemer Verlag, München 2007
Hans-Olaf Henkel: Der Kampf um die Mitte
Hans-Olaf Henkel: Der Kampf um die Mitte© Droemer