Liebesschnulzen unter der Brücke
Dicht gedrängt sitzen Obdachlose in Neu Delhi hinter einem Bildschirm und schauen Bollywood-Klassiker. Für wenige Rupien können sie unter einer Brücke ihrem Alltag entfliehen.
"Raja Hindustani" - Ein Klassiker unter den Bollywood-Filmen und natürlich eine Liebesgeschichte. Eine junge Frau aus gutem Hause und ein armer Fahrer verlieben sich ineinander. Die Familie des reichen Mädchens will den Mann umbringen, er soll nichts von dem Geld der wohlhabenden Familie abbekommen.
Nach vielen Kämpfen und Gesangseinlagen setzt sich das Paar durch: Die Liebe siegt! Ein Bollywood-Traum, der wie gemacht zu sein scheint für die rund 50 Männer, die wie gebannt auf den Bildschirm schauen. Dicht an dicht hocken sie auf schmuddeligen Teppichen.
"Meine Mutter hat mir mein Herz rausgerissen"
Mohammed Ismail zittert, seine Augen sind gerötet und verschleimt, vielleicht ist er auf Entzug. Die Liebesgeschichte des 22-Jährigen hatte kein Happy-End. "Meine Mutter hat mir mein Herz rausgerissen. Ich hatte ihr von dem Mädchen erzählt, das ich geliebt habe", sagt Ismail. "Sie wollte das nicht zulassen. Und die Familie des Mädchens auch nicht. Also haben sie meine Liebe dazu gezwungen, jemand anderen zu heiraten."
Dann ist Mohammed abgehauen aus seinem kleinen Dorf im Nordosten Indiens. Vor zwei Jahren war das. Gestrandet ist er im Moloch Neu Delhi. Ohne Papiere, ohne Ausbildung. Mohammed macht jeden Job, den er kriegen kann, als Laufbursche, auf Baustellen oder er hilft bei Hochzeiten aus.
Flucht aus dem Obdachlosen-Alltag
"Wenn ich müde bin, weil ich die Nacht durch gearbeitet habe, schlafe ich hier tagsüber", erzählt der 22-Jährige. Zehn Rupien braucht er mindestens, das sind umgerechnet 13 Cent, um hier Filme schauen zu können, die Tag und Nacht über einen kleinen Fernseher flimmern. "Hier fühlt es sich wie mein eigenes zu Hause an. Ich kann kommen und gehen, wann ich will. Ich habe nur eine kleine Tasche mit Klamotten, das ist alles, was ich besitze, die schleppe ich immer mit mir rum."
Die Umgebung, in der Mohammed hier mit bis zu 300 anderen Männern lebt, hat ganz und gar nichts mit der Kulisse aus den Bollywoodfilmen zu tun. Mohammeds Zuhause in Neu Delhi liegt zwar direkt am heiligen Fluss Yamuna. Aber der stinkt wie eine Kloake. Toiletten haben die Männer hier nicht, der Fluss ist ihr Abort.
Kino zwischen Hühnern, Plastikplanen und Stahlträgern
Das improvisierte Kino liegt unterhalb einer Eisenbahnbrücke, die doppelgeschossig ist. Oben fahren Züge, darunter Autos und Tuk-Tuks. Und ganz unten kauern die Männer. Bei Regen haben sie ein Dach über dem Kopf, es sind die Stahlträger der Brücke. An den Seiten hängen muffige Decken und Plastikplanen, die kaum Tageslicht hereinlassen.
Hühner laufen durch den Müll, der hier überall rumliegt. Ein idealer Ort für Wohnungslose, findet Ranjit Srivastava. Vor zehn Jahren hat er diesen Ort hier aufgebaut, es fing an mit einem Fernseher und einem DVD-Player. "Hier leben Leute aus den verschiedensten Ecke Indiens, die nach Neu Delhi kommen, um hier zu arbeiten", erzählt er. "Normalerweise haben sie nichts miteinander zu tun, aber unsere Filme verbinden sie miteinander."
Low-Budget-Geschäftsidee mit DVD-Player
Ranjit Srivastava kam selbst vor 20 Jahren als Jugendlicher in die indische Hauptstadt und hat lange auf der Straße gelebt. "Viele Leute hier kommen vom richtigen Weg gab. Sie nehmen Drogen. Ich habe damals viele Menschen gesehen, die sich Spritzen gesetzt haben", erzählt er. "Wenn du das ganze Elend siehst, weißt du, dass du so ein Zeug nie anrühren willst."
Stattdessen hatte Ranjit Srivastava eine Geschäftsidee, die ein voller Erfolg wurde. Der Platz unterhalb der Eisenbahnbrücke direkt am Fluss ist ein öffentlicher Raum, Miete zahlt Ranjit Srivastava dafür nicht. Das Geld, das er von den Wohnungslosen bekommt, bevor sie die Höhlen unterhalb der Brücke betreten dürfen, würde gerade so seine Kosten decken, sagt er. Er zahlt den Strom, die Fernseher, DVD-Player und die Filme. Die Menschen unter der Brücke fühlen sich sicher und wohl hier.
Mehr als 100.000 Menschen leben auf Delhis Straßen
"Ich finde den Ort sehr angenehm", erzählt Kishen Lal. Nachdem seine Frau vor fünf Jahren gestorben ist, ist er als Wanderarbeiter nach Neu Delhi gekommen. "Für wenige Cents bekomme ich hier tolle Unterhaltung geliefert und kann all die Filme anschauen, die ich mag."
Die Bevölkerung von Neu Delhi hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt, 20 Millionen Menschen leben heute in Indiens Hauptstadt. Die Stadtverwaltung kommt überhaupt nicht hinterher, sich um all die neuen Bewohner zu kümmern. Laut Schätzungen leben hier mehr als 100.000 Leute auf der Straße. Und jeder hat seine eigene traurige Geschichte. Mit den Schmonzetten aus dem Bollywood-Kino können sie sich ablenken. Ein Happy End, wie im Bollywood-Film "Raja Hindustani", scheint es hier für keinen zu geben.