Bolzen für die Zukunft

Von Tamara Tischendorf |
Zur Fußball-WM. Nicht zu der, die da alle meinen. Da ist schon mehr als genug zu gesagt worden. Wir meinen die andere WM in Berlin. Die findet nicht in einem gewaltigen Stadion statt, sondern abseits vom grünen Rasen, also auf den Straßen der Hauptstadt.
Die da spielen werden, sind nicht ganz so heftig umworben wie andere bekannte Größen, denn wir haben es mit ganz normalen Helden zu tun, also mit Hazin und Arkadas zum Beispiel. Sie spielen um den Sieg beim Streetfootball und um den Sieg über Gewalt, Drogen und Perspektivlosigkeit.

Ristic: "Zwei Mannschaften, los geht’s, meine Herren. Nein, gemischt bitte!"

Der Straßenfußball, Urform des Fußballs, veranstaltet in Kreuzberg seine eigene WM. Mit ganz anderen Regeln: Das Fußballfeld ist etwa so groß wie ein Tennisplatz, einen Torwart gibt es nur manchmal und Mädchen spielen auch mit.
Am 2. Juli geht es los – 24 Teams von fünf Kontinenten spielen um den Sieg. Straßenfußballer. In Kreuzberg.

Heute nun Training in Friedrichshain. Nur sieben – nicht pro Mannschaft, sondern insgesamt: Achmed hat abgesagt, weil er für eine Klausur lernen muss. Ismail und Marie kommen später.
Drei Mann schlagen sich auf die eine Seite, vier auf die andere. Die Rumpfmannschaft streift sich türkisfarbene Hemden über. Es fehlt nicht nur der Torwart, sondern auch ein Schiedsrichter. Die Regeln werden vor jedem Spiel neu ausgehandelt.

"Bereit? Los geht’s! Zehn Minuten. Tore zählen nur im Strafraum."

Anstoß, der Ball rollt. Ulli treibt das Leder dem gegnerischen Tor entgegen, aber Hussam, ein Türke, steht ihm im Weg. Hussam greift an, der Ball prallt ab und springt in die Höhe bis an die Decke.

"Komm, keine arabischen Regeln da, mein Freund. Das ist ein Netz da oben, Junge!"

Zeljko Ristic, der Trainer, lehnt an der Wand und beobachtet das Spiel in der Sporthalle. Um die Kreuzberger kümmert er sich besonders, er möchte nicht parteiisch wirken. Wie die meisten Spieler aus Friedrichshain hat er Wurzeln auf dem Balkan: Seine Eltern stammen aus Bosnien.

"Bin hier geboren. Zweite Generation. Assimiliert sogar. Ich bin, glaube ich, schon der Prototyp eines gut integrierten Migranten."

Jetzt hilft der Pädagoge und Fußballtrainer anderen dabei, sich einzupassen. Aus zwölf Kiezgrößen – Türken, Bosniern, Arabern, Deutschen – will er bis zur Straßenfußball-Weltmeisterschaft im Juli ein Team formen. Die Schwierigkeiten beginnen schon vor dem Training. Gespielt wird abwechselnd in Friedrichshain und in Kreuzberg. Doch kaum einer verlässt gerne sein vertrautes Terrain:

"Diese unsichtbare Mauer ist so ein bisschen vorhanden. Gerade für die Migranten ist es schwierig, in den Ostteil zu fahren, weil sie Angst haben, dass da was passiert. Und andersrum ist es genauso."

Zeljko Ristic hat die Kreuzberger deshalb kurzerhand mit seinem Auto abgeholt. Shuttelservice verpflichtet:

"Weil die Jungs nicht alle Termine so richtig wahrnehmen, habe ich gesagt: Na ja, dann hole ich sie ab und zu mal ab und dann hoffe ich, dass eine Selbständigkeit entsteht, weil sie dann bei mir im Wort stehen, so ein bisschen und dann können sie auch mal kommen – alleine. Dass sie auch merken, dass ich es ernst meine, dass sie wirklich kommen sollen."

Arkadas: "Lass ihn kommen, lass ihn kommen, lass ihn kommen. Und jetzt: Angreifen!"

So ungewöhnlich die Umstände und die Regeln, so anders auch die Spieler. Arkadas Yildiz – im Ringelshirt, mit Schirmmütze – steht vor dem Tor und gibt Anweisungen. Er kommandiert gern. Einer, der lieber endlos antäuscht statt abzugeben, der gerne selbst die Tore schießt und die anderen laufen lässt. Barcelona hat auch nur einen Ronaldinho. Mit seinen Ballkunststückchen brüstet sich Arkadas vor einem imaginären Publikum: Dribbelt, verkünstelt sich dabei und verliert schließlich den Zweikampf mit dem langen Ulli. Gerade ist er siebzehn geworden, Fußball spielt er schon seit er fünf ist:

"Da habe ich jeden Tag Fußball gespielt, so zehn Stunden am Tag. Nach der Schule kam ich immer nach Hause, habe Fußball gespielt, zu Hause habe ich Fußball gespielt, habe ich Türe kaputt geschossen und so, habe auch viel Ärger bekommen. Bin halt mit Fußball aufgewachsen."

Aufgewachsen im Schatten des Axel Springer Hauses in Berlin Kreuzberg. Sein Vater war immer viel unterwegs, liefert Dönerfleisch nach "Westdeutschland". Seine Mutter ist selbständig in Sachen Hochzeitsdekorationen. Auch Arkadas ist selbständig: Von seinen Freunden lässt er sich Che rufen – nach Che Guevara. Abseits des Spielfelds: Der sanfte Revolutionär, der nebenher als Kellner und Restaurantgehilfe arbeitet. Gerade hat er seine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen:

"Ich bin auch zum zweiten Mal Schulsprecher auf der Schule und ich bin auch wirklich selbstbewusst, vertraue mir selber, meine eigene Person, ich weiß, was ich schaffe, ich weiß, was ich nicht schaffe und ich erreiche immer meine Ziele. Also, bin ich starke Person und setze mich auch gerne durch. Ich helfe gerne Menschen, Schülern, Freunden, auch die Leute, die ich nicht kenne, wenn die zu mir kommen, dann bin ich immer hilfsbereit. Das ist immer so."

Eine Eigenschaft, die der Egoshooter auf dem Spielfeld gut zu verbergen weiß. Sozialpädagoge oder Psychotherapeut möchte er später einmal werden, der Ball-Autist, der sich nach Aufmerksamkeit sehnt.

Ein Tor. Nur das wievielte und für wen? Fünf zu fünf oder sechs zu sechs? Das Palavern ist beim Straßenfußball fast genauso wichtig wie das Toreschießen.

Einer, der unermüdlich Tore vorbereitet, spielt im blaugelben Trikot. Bosnien-Hercegowina steht im Halbrund auf seinen Rücken. Dabei wohnt Hazin Suljic gleich um die Ecke. Auf den Taxiservice vom Trainer kann er auch verzichten, wenn das Spiel mal in Kreuzberg stattfindet: Hazin Suljic nimmt den Straßenfußball nicht auf die leichte Schulter:

"Ich mag's nicht zu verlieren, ob's Freizeit ist, oder egal. Fair spielen, an die Grenzen gehen. Ich spiele nicht so wie die anderen, dass sie halt versuchen, die Stars zu sein, Tore zu schießen. Ich bin eher für das Taktische. Spiele defensiv. Man versucht das Spiel aufzubauen. Nicht gleich alle nach vorne, jeder versucht Tor zu schießen, sondern von hinten nach vorne zusammenspielen mit Taktik. Es gibt zurzeit viele Spieler bei uns, die sind egoistisch sehr gut. Aber Fußball ist Mannschaftsspiel. Und ich bin für das Mannschaftliche da."

Hazin Suljic hat mit Freunden zusammen eine eigene Straßenfußball-Mannschaft gegründet. Freizeit-Kicken auf Zuruf: Seine Vorbereitungen für das Wirtschafts-Fachabitur lassen ihm keine Zeit mehr für die Zwänge des Vereinsfußballs. Hazin Suljic, will etwas erreichen in seiner neuen Heimat, das steht ihm ins ernste, runde Gesicht geschrieben. Vor elf Jahren kam er mit seinen Eltern nach Deutschland: aus Srebrenica.

"Wir hatten damals so ein Fußballfeld, das einzige, was in meiner Stadt war, aber da wurden wir halt öfter beschossen und die Eltern haben uns die letzte Zeit auch nicht gelassen, in den letzten Jahren zu spielen."

Für ihn und seinen Bruder folgte ein Jahr Fußballverbot – mit einer Ausnahme:

"Außer in meinem Keller, da durfte ich mit meinem Bruder und ein paar Cousins spielen. Da haben meine Eltern uns aufgeräumt, so damit wir unseren Spaß bisschen haben durften da. Fußball spielen ist immer gut. Lenkt dich vom Essen ab und im Krieg gab's ja kein Essen. Und da haben wir das halt gemacht, dass wir Fußball spielen. Weil: Beim Fußball vergisst man alles. Jeden Stress, alles ist weg. Für den Augenblick."

Auch die Grundidee zur Straßenfußball-WM geht auf eine Fußball-Initiative zurück, die erfolgreich zwischen verfeindeten Gruppen vermittelt hat: Im bürgerkriegsgebeutelten Kolumbien.
"Futbol por la paz" hieß das Projekt: "Fußball für den Frieden". Den Anstoß gab der Mord an Andres Escobar Anfang 1994. Der kolumbianische Nationalspieler hatte während der WM in den USA ein Eigentor erzielt und war kurz nach seinem Rückflug in Kolumbien erschossen worden. Ein Wendepunkt auch in Jürgen Griesbecks Leben:

"Der Andres Escobar war ein Bekannter unserer Familie, vor allem meiner Frau, die in dem Club, in dem Andres gespielt hat, fotografiert hat, und das hat uns einfach so getroffen. Und vor allem mich dann sehr, sehr neugierig gemacht, was das Potential des Fußballs tatsächlich alles anstellen kann. Und ob man das nicht sozialverträglich, sinnvoll, kanalisieren könnte."

Das Thema "Jugend und Gewalt" machte der Sportsoziologe zu seinem Forschungsschwerpunkt: Ging nach Medellin in Kolumbien und führte Interviews mit gewaltbereiten Gangmitgliedern. Die Ergebnisse waren der Grundpfeiler für sein Straßenfußball-Projekt. Ein erfolgreiches Konzept: Leute, die sich auf der Straße erschossen hätten, redeten auf dem Fußballplatz plötzlich miteinander. Das lag auch an den Regeln, mit denen Jürgen Griesbeck experimentierte. Die Grundregeln damals: zwei Frauen pro Mannschaft und: Die Frauen müssen das erste Tor schießen. Das sorgte für Gesprächsstoff: zwischen Frauen und Männern, im Team und mit dem Gegner. Innerhalb kurzer Zeit spielten rund 10.000 Jugendliche Kolumbianer Jürgen Griesbecks politisch korrekten Straßenfußball. Bald spielten ihn auch rechtsradikale Brandenburger. Ähnliche Projekte gibt es inzwischen in aller Welt. Seit vier Jahren betreibt der Fußball-Visionär unter dem Dach der Fifa eine globale Plattform für den Straßenfußball.

"Das ist genauso professionell wie der kommerzialisierte Fußball, es ist überhaupt nicht nostalgisch und auch gar nicht romantisch, es geht mit knallharten sozialen Missständen um, die uns ganz viel Kopfschmerzen bereiten, sei es Armut, sei es Aids, sei es Arbeitslosigkeit oder Bildungsmissstände oder was auch immer und da ist der Fußball ein völlig unterschätztes Medium, der Fußball kann wirklich den großen Unterschied da machen mit relativ wenig Mitteln, nur mit viel Bewusstsein und wirklich durchdachter Arbeit kann da sehr, sehr viel erreicht werden."

Zeljko Ristic: "So. Auswechselspielerin. Fünf seid ihr jetzt. Spielst bei denen ohne Leibchen."

Marie Heinz ist heute spät dran. Ihre Mutter hat sie hergefahren. Eine Stunde Anfahrt aus Oranienburg, einem Vorort im Norden von Berlin.
Die anderen spielen schon 40 Minuten, als sie sich voller Elan ins Getümmel stürzt. Allein unter Männern:

Marie Heinz: "Am Anfang war es ein bisschen komisch so und mir wurde gesagt, es kommt noch ein anderes Mädchen, aber ich hab‘ die noch nie gesehen. Aber die Jungs sind eigentlich voll in Ordnung, auch wenn sie manchmal untereinander bosnisch oder so reden."

Die Gruppen bleiben immer noch unter sich, selbst nach wochenlangem gemeinsamen Training. Die wenigsten kennen sämtliche Mitspieler mit Namen. Marie sieht sich auch nicht in der Rolle der Moderatorin – anders als die Mädchen bei "futbol por la paz". Sie ist als Fußballerin gefordert:

"Ich find‘, die spielen ganz schön gut, also, technisch spielen die ganz schön gut. Aber ich glaube, ich spiel‘ für ein Mädchen auch ganz gut. Ich spiele auch immer mit meinem Bruder zu Hause."

Noch zwei Jahre Schule, dann möchte sie vielleicht Sport studieren. Es sei denn, sie schafft doch noch den Sprung von der Regionalliga in den professionellen Frauenfußball. Oder eine Trainerlizenz machen, wie Ulli Schmitz, der gerade versucht, ihr den Ball abzujagen.

Vergeblich: Marie stoppt abrupt ab und befördert den Ball kraftvoll in Richtung Tor. Spielen kann sie, dafür zollen ihr die anderen Respekt. Falsche Skrupel, wie die von Ulli Schmitz, lassen sie kalt:

"Man geht halt nicht so hart ran wie bei den anderen Jungs. Man lässt sie halt öfter vorbei, aber sonst..."

Der schlacksige Junge mit der Igelfrisur macht Zivildienst als Platzwart und Sozialarbeiter auf einem Fußballplatz in Kreuzberg. Nebenbei lernt er für seine Trainerprüfung. Wer weiß, wofür er den Trainerschein noch einmal gebrauchen kann – nach dem Zivildienst lauert die Ungewissheit:

"Ich bin gelernter Bäcker und ich wollte auch weiterarbeiten in dem Beruf, aber wie es aussieht, werde ich wahrscheinlich nicht weiterarbeiten können. Die suchen halt Leute mit viel Berufserfahrung – und ich bin ja erst seit einem Jahr ausgelernt und von daher sehen meine Karten nicht so gut aus."

Wenn sich nichts ergibt, will er mit seiner Freundin auswandern. Untätig herumhängen möchte er auf keinen Fall:

"Meine Freunde gehen entweder alle arbeiten oder gehen noch zur Schule. Ich kenne keinen, der nur rumgammelt oder so."

Der Straßenfußball kennt nicht nur Fummler, sondern auch Gammler: Trainer Ristic unterbricht das Training und hält den lauffaulen Clowns in der Truppe eine Standpauke:

"Wir zwingen dich nicht hier. Wir wollen schon Spieler, die eine gewisse Ernsthaftigkeit auch erkennen. Wie viele Jungs ärgern sich, dass ihr nicht richtig spielt hier einige. Das macht doch keinen Bock, wenn ihr nicht mal richtig Gas gebt hier. Versucht euch zu respektieren und ein bisschen ernsthafter an die Sache ranzugehen."

Hussam fläzt sich demonstrativ auf dem Boden herum. Der schlanke Kreuzberger weiß, dass er gemeint ist.

"Tut mir den Gefallen, zehn Minuten noch mal bisschen ernsthafter spielen. Kommt. Hussam, wenn du Lust hast, kannst du spielen, wenn du keine Lust hast, kannst du auch das Leibchen ausziehen und gehen."

Hussam zieht sich das Trikot vorsichtig über seine Hahnenkammfrisur und geht – wie so oft.

"Ja, die haben mich rausgeschmissen heute, weil ich nicht richtig mitgemacht habe, angeblich."

Die Ermahnung spornt ihn nicht an, sondern lässt ihn resignieren. Ein Leben wie eine rote Karte.

"Wenn ich nicht Fußball spiele, bin ich mit Freunden unterwegs, mit Mädchen, mit Familie, halt das übliche. Zu Hause sitzen und gammeln. Am Internet surfen, chatten, Fußball spielen im Internet – das Übliche halt. Ich lebe von Hartz IV."

"OK. Schluss, meine Herren – und Damen, Entschuldigung."

Zehn zu fünf für die Grünhemden. Und bis zur Streetfootball-WM am 2. Juli in Kreuzberg bleiben zum Glück noch ein paar Tage. Bis zum Spiel gegen die agilen Südamerikaner, die flinken Südafrikaner und die hochmotivierten Afghanen. Auch für sie ist Fußball Lebenshilfe. Die Weltmeisterschaft wird also kein leichtes Heimspiel.